Für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt es viele Ursachen. Über Symptome, Therapie und Forschung hat FORUM mit Experte Andreas Knuf gesprochen.
Herr Knuf, welche Kriterien müssen für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPS, erfüllt sein?
Im aktuellen Diagnosesystem gibt es neun Kriterien, wovon fünf erfüllt sein müssen. Dazu gehören beispielsweise intensive Gefühle, die rasch wechseln, starke Wut, Selbstverletzungen und andere selbstschädigende Verhaltensweisen. Die meisten Symptome stehen in Zusammenhang mit sehr intensiven Gefühlen, denen man sich nicht gewachsen fühlt und mit denen dann auf eine ungünstige Art umgegangen wird. Daher sprechen wir davon, dass Borderline eine Emotionsregulationsstörung ist.
Trifft selbstverletzendes Verhalten wirklich bei allen Borderlinern zu?
Nein. Etwa zwei Drittel der Betroffenen verletzen sich selbst oder haben das schon mal getan, die anderen aber nicht. Wenn sich jemand selbst verletzt, bedeutet das überhaupt nicht, dass er oder sie eine Borderline-Erkrankung hat. Bei Jugendlichen kommen Selbstverletzungen heute sehr oft vor, die Häufigkeiten sind erschreckend. Aber bei fast allen legt sich das später wieder. Wenn Eltern oder Lehrer mit Selbstverletzungen konfrontiert sind, sollten sie aufmerksam sein und herausfinden, wie es dem Jugendlichen geht. Sie sollten aber nicht gleich zwangsläufig an eine Borderline-Erkrankung denken, denn das ist eher selten der Fall. Um die 20 Prozent der Jugendlichen haben sich schon mal selbst verletzt, aber nur etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung hat eine Borderline-Erkrankung.
Welche Gründe hat selbstverletzendes Verhalten?
Die Gründe sind meist unerträglich erscheinende Gefühle, die über die Selbstverletzungen reguliert werden. Wir können unseren inneren Schmerz regulieren, indem wir uns einen äußeren zufügen. Selbstverletzungen erfolgen aber oft auch, um sich überhaupt wieder zu spüren, um eine sogenannte Dissoziation zu beenden. Das ist ein Zustand, in dem ich mich selbst, meinen Körper oder andere Empfindungsbereiche nicht mehr wahrnehme.
Was genau ist bei der Borderline-Erkrankung mit emotionaler Instabilität und Impulsivität gemeint?
Betroffene sind mit sehr starken Gefühlen konfrontiert, die auch noch schnell wechseln können. Da geht es nicht nur um Wut, sondern vor allem auch um Verzweiflung, Verlassenheitsempfinden und ganz oft um Scham und Minderwertigkeit. Diese Gefühle sind bei vielen Betroffenen sehr oft und teilweise durchgängig vorhanden, das ist fast unerträglich. Wenn ein Gefühl ausgelöst wird, hat es eine sehr starke Intensität und bleibt recht lange bestehen. So kommt es dann dazu, dass sich emotionale Empfindungen immer weiter aufbauen. Daher spricht man in der Therapie manchmal davon, dass Borderline-Betroffene auf einem Araber-Hengst reiten, während Otto Normalverbraucher mit einem Ackergaul unterwegs ist.
Vor allem in der Vergangenheit hatten Borderliner einen sehr schlechten Ruf, galten als unberechenbar. Wie kam es dazu, und ist dies in irgendeiner Form gerechtfertigt?
Borderline-Betroffene sind oft impulsiv und ihre Schwierigkeiten zeigen sich vielfach auch auf der Beziehungsebene. Vor allem in engen Beziehungen, etwa in der Partnerschaft oder auch in einer Therapie. Das macht sie manchmal herausfordernd, das ist tatsächlich so. Sie sind aber überhaupt nicht unberechenbar, sondern die emotionale Reaktion ist ganz im Gegenteil sehr voraussehbar. Ich arbeite fast immer gern mit Borderline-Betroffenen zusammen. Ich schätze ihre hohe Therapiemotivation, ihre Offenheit und Ehrlichkeit und auch die Intensität ihrer Gefühle. Die Betroffenen fordern aber auch ihr Umfeld emotional heraus. Ich mag das, aber das ist nicht jedermanns Sache.
Gibt es auch sehr ruhige, unauffällige Borderliner?
Ja, die gibt es auch. So ist zum Beispiel die Depression bei Borderline-Betroffenen sehr verbreitet. Doch es existieren auch Phasen sehr intensiver und sehr unangenehmer Emotionen, denen man sich nicht gewachsen fühlt. Bei manchen Borderline-Betroffenen äußert sich die Symptomatik stark auf der Beziehungsebene, etwa in Form von Konflikten und Abwertungen, das ist aber nicht bei allen der Fall. Oft wird starke Wut mit Borderline in Verbindung gebracht, was vielfach auch stimmt. Es gibt aber auch Betroffene, die gar keinen Zugang zu ihrer Wut haben und eher sehr angepasst und zurückhaltend sind.
Worin liegen die Stärken von Betroffenen?
Viele Borderline-Betroffene haben sehr viele Stärken. Mich beeindruckt immer wieder, wie es ihnen gelingt, trotz Widrigkeiten immer wieder auf die Beine zu kommen. Viele sind sehr kreativ und lebendig, sie wollen das Leben wirklich leben. Nicht nur unangenehme Gefühle werden sehr intensiv erlebt, sondern angenehme Gefühle ebenso. Vor allem kurzfristig sind Borderline-Betroffene in der Lage, andere zu begeistern und mitzuziehen.
Wie und warum entsteht eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?
Es gibt keine einzelne Ursache, sondern eher ein Bündel von verschiedenen Faktoren. Vor allem begünstigen Traumata und Schwierigkeiten in der Bindung zu frühen Bezugspersonen das Entstehen einer Borderline-Erkrankung. Aber längst nicht alle Menschen, die traumatisiert sind, entwickeln eine Borderline-Erkrankung. Traumata gibt es viele verschiedene: Sexuelle Traumatisierungen sind sehr häufig, aber es gibt auch Gewalterfahrungen, frühe Trennungserfahrungen oder Eltern mit eigenen psychischen Problemen. Doch nicht alle Borderline-Betroffenen habe eine Traumatisierung erlitten.
Worunter leiden Borderliner am meisten? Mit welchen Problemen haben zum Beispiel Ihre Patienten im Alltag und bei Beziehungen primär zu kämpfen?
Aufgrund der Traumaerfahrungen und der Bindungsstörungen fällt es vielen Betroffenen schwer, sich auf enge soziale Beziehungen wirklich vertrauensvoll einzulassen und es auch auszuhalten, wenn der andere manchmal anders ist als man ihn sich wünscht. Daher gibt es oft sehr intensive Emotionen vor allem in engen sozialen Beziehungen. Viele Betroffene leiden unter sehr starken Schamgefühlen und einem sehr kritischen Blick auf sich selbst. Das kann bis zum Selbsthass gehen. Vor allem jüngere Betroffene haben oft mit impulsivem Verhalten zu kämpfen, etwa in Bezug auf die eigenen Gefühle, aber auch was Alkohol oder Drogen angeht. Besonders problematisch sind ebenfalls die Selbstverletzungen, die teilweise sogar lebensbedrohlich und auch mit vielen Schamgefühlen verbunden sein können.
Ist Borderline durch Therapie und andere Maßnahmen „heilbar“?
Früher hat man gedacht, dass es nur möglich ist, mit der Symptomatik halbwegs erträglich umzugehen und dass es eigentlich keine Heilung in dem Sinne gibt, dass jemand ein zufriedenes und erfülltes Leben führen kann ohne große Beeinträchtigungen durch die Borderline-Erkrankung. Doch heute wissen wir, dass vielen Betroffenen Genesung gelingt, siehe mein Buch „Gesundung ist möglich“. Es ist allerdings ein langwieriger Prozess, auf dem einiges gut gelingen muss. Vor allem ist es wichtig, dass die Betroffenen eine langjährige Therapie bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten machen, die mit Borderline erfahren sind und die spezifischen Therapiemethoden nutzen.
Mit welchen Bereichen/Themen beschäftigt sich die Forschung in den letzten Jahren? Gibt es hier neue Erkenntnisse?
In den letzten Jahren ist die Borderline-Erkrankung immer besser erforscht worden, sodass wir heute viel über die Gründe für bestimmte Verhaltensweisen wissen. Vor allem wurde dabei deutlich, wie sehr die Borderline-Erkrankung durch Traumaerfahrungen geprägt ist. Außerdem wurde klar, dass die Symptome von Borderline nicht irgendwie „verrrückt“ sind, sondern logische und nachvollziehbare Verhaltensweisen als Reaktion auf bestimmte innere Empfindungen. Wir wissen heute auch viel über Genesungsprozesse – dass sie möglich sind und dass sie vor allem dann gelingen, wenn eine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut werden kann und wenn der betroffene Mensch lernt, wohlwollender mit sich selbst umzugehen.