Die Liste seiner Stammgäste liest sich wie ein „Who is Who“ aus Kultur, Medienszene und Politik der 1920er-Jahre: Eine Ausstellung erweckt den Mythos des „Romanischen Cafés“ in Berlin zum Leben.
Sportgeschäfte, Modeboutiquen, ein Irish Pub, mittendrin plätschert Wasser in ein riesiges Becken – das Berliner Europa-Center ist ein in die Jahre gekommener KonsumÂtempel, der sich tapfer gegen die Konkurrenz trendiger Malls stemmt. Und ausgerechnet hier soll sich im Berlin der 1920er-Jahre der Treffpunkt der geistigen Elite und der Bohème befunden haben? Wo Schriftsteller, Reporter, Maler, Filmemacher – etwa Billy Wilder, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, George Grosz oder Jeanne Mammen – ein und aus gingen. Wo sie Zeitung lasen, plauderten, kokettierten, flirteten, hitzige Debatten führten, Verträge abschlossen – und ganz nebenbei Kaffee tranken? Man möchte es kaum glauben. Aber eine Ausstellung am Originalschauplatz macht das legendäre „Romanische Café“ jetzt erlebbar.
Die Geschichte des Cafés wird aufgerollt
Ein Bistro-Tisch, zwei Stühle, dahinter ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto von der früheren Caféterrasse: Da möchte man am liebsten gleich Platz nehmen. Aber anders als früher wird kein flinker Kellner herbeieilen, um einen nach den Kaffee- oder Zeitungswünschen zu fragen. Stattdessen wird in dem leer stehenden Ladenraum die Geschichte des Cafés mit möglichst vielen authentischen Stücken wie den etwa einhundert Jahre alten Stühlen aufgerollt. Sie simulieren die Terrasse des Cafés, damals die große Bühne für das Sehen und Gesehenwerden, heute die erste Station der Ausstellung. Dahinter blättern alte Fotos, Skizzen, Zeittafeln sowie ein fantastisches 3D-Modell die Baugeschichte auf.
1901 im Romanischen Haus II, einem Geschäftshaus zwischen Tauentzien und der heutigen Budapester Straße eröffnet, war das Lokal Teil eines neoromanischen Gebäudekomplexes rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Architekt war Franz Schwechten, Bauherr Paul Joseph Liebermann, ein Cousin des Malers Max Liebermann, der damals Richter am Landgericht und offenbar sehr vermögend war. Zunächst betrieb die Berliner Luxushotelkette „Kaiserhof“ Konditorei und Café, 1909 übernahm der Gastronom Bruno Fiering Senior. Später gab es mehrere Umbauten, bevor das Gebäude 1943 im Zweiten Weltkrieg dem Bombenhagel zum Opfer fiel.
Wie das Umfeld des „Romanischen Cafés“ aussah, beleuchtet ein weiterer Bereich der Ausstellung. Neben Zeitungsverlagen, Galerien und Künstlerateliers bevölkerten vor allem Bars, Tanzlokale, Kabaretts, Kinos und Theater die Gegend, die das Vergnügungsviertel rund um den Kurfürstendamm im neuen Berliner Westen war – was auch Prostitution und Drogenhandel einschloss. „Nacht! Tauentzien! Kokain! – Das ist Berlin!“, so brachte es Andrei Bely 1924 auf den Punkt. Auch eine Litfaßsäule mit alten Film- und Werbeplakaten gibt eine Vorstellung von dem, was Nachtschwärmer hier erwarten durften und welche Produkte zum damaligen Lifestyle gehörten. Das Bild der selbstbewussten, modernen Frau prägten damals nicht nur Kurzhaarfrisuren wie der Bubikopf, sondern auch Hängekleider, die mit tiefangesetzter Taille die weiblichen Konturen überspielten. Auf einem Foto von Marie Latz ist sogar eine Dame im Smokingkleid zu sehen, andere Aufnahmen zeigen ganz nonchalant und wie selbstverständlich rauchende Frauen.
Im Zentrum der Ausstellung aber steht das Kaffeehaus selbst, simuliert durch Tische, Stühle, den berühmten großen Wandspiegel und Stellwände mit Reproduktionen alter Fotos. Unter Glasvitrinen sind außerdem Objekte ausgebreitet, die aus dem „Romanischen Café“ nicht wegzudenken waren: Kaffeetassen, Zigaretten, Aschenbecher, Postkarten, die hier geschrieben wurden, Bleistifte, Federhalter und Tintenfass, die man für die schreibende oder zeichnende Zunft bereithielt. Und auch ein Schachspiel. Bertolt Brecht beispielsweise soll gern mit dem damaligen Weltmeister Emanuel Lasker um die cleversten Züge gerungen haben.
Überhaupt die Stammgäste: Um die 410 hat Roland Pohl vom Ausstellungsteam beim gründlichen Studium der Literatur ausgemacht. Sie verteilten sich auf das Kaffeehaus, das sogenannte „Nichtschwimmerbassin“, und die kleinere Konditorei, das „Schwimmerbassin“, das den erlauchteren Gästen vorbehalten war. Die großen Zeitungsverlage hatten eigene Stammtische – an einem wurde beispielsweise das Magazin „Die literarische Welt“ gegründet. Daneben gab es einen Malerstammtisch, den Stammtisch der „Pinsel-Professoren“, zu denen sich bisweilen Max Liebermann gesellte, oder auch einen Revoluzzer-Stammtisch. Oft frequentierten die Gäste das Lokal zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten. Wie Else Lasker-Schüler, über die Walter Anatole Persich schrieb: „Sie kommt drei Mal am Tage, trinkt Kaffee und raucht – die weiteren drei Mal schaut sie sich nur um und geht gleich wieder, wenn nicht der Herr in der Autojoppe, Bert Brecht, bereits an dem bestimmten Tisch auf sie wartet.“ Eine Art Ringbuch erzählt auch von anderen, die quasi zum Inventar gehörten, von Joachim Ringelnatz über die Tänzerin Valeska Gert und Leni Riefenstahl bis Albert Einstein, der dem Regisseur Gésa von Cziffra zufolge über das Café sagte: „Hier darf ich Mensch sein und kein Gehirnakrobat.“
Kontaktbörse und Ort hitziger Debatten
Wie die Ausstellung veranschaulicht, war der Ort fast alles: Kontaktbörse, Inspirationsquelle, ein Ort hitziger Debatten und der gepflegten Lektüre – der Zeitungskellner wusste angeblich genau, wem er welche Blätter zu bringen hatte. Der Kaffee soll dagegen eher mäßig gewesen sein. Auch die Speisekarte ließ mit Bouletten, Schnitzel oder Eiern im Glas verwöhnte Gaumen eher unbefriedigt. Für das Ausstellungsteam ist das Café am ehesten mit heutigen Co-Working-Spaces vergleichbar. Aber in der Zusammensetzung der Nutzer natürlich einmalig.
Schon in den 1930ern, als Samuel Beckett und Jean-Paul Sartre nach Berlin kamen, hatte es an Bedeutung und Flair verloren. Viele Kreative hatten Deutschland verlassen, im Lokal verkehrte auch die SA, während Joseph Goebbels über die „Fäulnis rund um die Gedächtniskirche“ ätzte.
Das alles ist lange her. Warum braucht es heute eine Ausstellung über den legendären Ort? „Das Café ist eine schmerzhafte Leerstelle in der Geschichte der Stadt. Und es gab das latente Bedürfnis nach einem Erinnerungsanker“, drückt es Berlin-Experte Michael Bienert aus, der mehrere Bücher über die 1920er-Jahre verfasst hat. „Für mich war das ‚Romanische Café‘ immer ein didaktischer Trick“, verrät wiederum Katja Baumeister-Frenzel, die die Ausstellung initiiert hat. Als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Potsdam hat sie ihn benutzt, um ihren Studierenden die unterschiedlichen Aspekte wie Mode, Presse, Literatur oder Kunst jener Zeit an einem Ort festzumachen.
Was allerdings nicht funktioniert, ist der Versuch, das Café selbst wiederzubeleben. Daran sind schon mehrere gescheitert. Das „Romanische Café“ war in seiner Art einmalig. Dank der Ausstellung kann man sich jedoch kurzzeitig in der Illusion wiegen, am Tisch von Persönlichkeiten wie Egon Erwin Kisch oder Mascha Kaléko zu sitzen und ihren Gesprächen zu lauschen.