In der traditionellen irischen Küche dominieren einfache Basics wie Fleisch, Fisch und Kartoffeln. Einige Restaurants in Dublin setzen bei nationalen Gerichten auf besondere Twists, etwa „The Winding Stair“ und „Orwell Road“.
Auf manche Dinge in der irischen Hauptstadt ist immer Verlass, und immer kommen sie von oben. Dazu zählen das wechselhafte, stets unberechenbare Wetter und die Möwen. Bei meinem Spaziergang durch das Dubliner Ausgehviertel Temple Bar kreisen die weißen Vögel ständig über meinem Kopf. Wenn man sie nicht sieht, hört man zumindest ihr Kreischen. Das Geräusch der Möwen erinnert mich daran, dass das Wasser nicht weit weg ist. Eine paar Schritte weiter bin ich an der Liffey, dem Fluss inmitten der irischen Hauptstadt. Noch ein paar Schritte mehr und ich wäre sogar am Meer. Doch heute reicht mir die Liffey vollkommen aus. Ich überquere den Fluss auf der bekannten Ha’penny Bridge und möchte „The Winding Stair“ kennenlernen. Bislang kannte ich nur die kleine, gleichnamige Buchhandlung im Erdgeschoss.
Das zentral gelegene Restaurant ist über eine relativ schmale, hölzerne Stiege zu erklimmen. Daher rührt auch der Name „The Winding Stair“, obwohl es keine wirkliche Wendeltreppe ist. Benannt wurde die Location auch nach einem Gedicht des irischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats. In den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelte sich der Ort zu einem beliebten Treffpunkt für Schriftsteller, Musiker und Künstler. Später wurde das Café geschlossen, und Elaine Murphy erweckte den Raum als Restaurant wieder zum Leben. „Der Ort hatte einen besonderen Platz in meinem Herzen, da ich dort viele Jahre meines Studiums verbracht hatte, um Kaffee zu trinken und über das Leben als Studentin nachzudenken“, erinnert sich die Gastronomin. Obwohl die Irin ursprünglich Geschichte, Soziologie, Klavier und Musikwissenschaften studiert hatte, arbeitete sie erst als Gastronomiekritikerin und als Inspektorin für Lebensmittelmarketing. Danach war sie Leiterin verschiedener Restaurants in Dublin, bevor sie mit „The Winding Stair“ ihr eigenes Lokal gründete. Dort drehe sich alles um „lokale, irische, einfache und ehrliche“ Lebensmittel, erläutert Elaine Murphy. „Das Produkt muss auf dem Teller glänzen, ohne zu viel Schnickschnack oder Ego!“
Die Kartoffel ist in der irischen Küche fest verwurzelt
Wer die Stufen über der Buchhandlung erklommen hat und die Tür zum Restaurant aufstößt, findet auch im Ambiente des „Winding Stair“ kein Chichi: Holzstühle, Holztische, Holzdielen und hellgrün gepinselte Wände geben dem kleinen Restaurant eine angenehme Behaglichkeit. Licht durchflutet den Raum und die alten, hohen Fenster geben den Blick frei auf die Ha’penny Bridge und die Liffey.
Obwohl die Karte mit etlichen vielversprechenden Weiß- und Rotweinen aus Frankreich, Südeuropa und Kalifornien aufwartet, bestelle ich entgegen dem Rat der Kellnerin einen Móinéir Irish Strawberry Wine aus dem nahe gelegenen Wicklow. Schließlich befinde ich mich an der Irischen See und nicht am Mittelmeer. Der lokale Wein aus handgepflückten Erdbeeren schmeckt zwar fruchtig-süß nach Sommer, aber will nicht so ganz zu meinem Fischgericht passen: Natürlich hatte die Kellnerin recht. Leicht und lecker schmeckt er zu meinem Irish waters’ cod trotzdem. Der Kabeljau ist gebettet auf einer knusprigen, Rösti-ähnlichen Basis aus Kartoffeln und Sellerie, der sogenannten „potato and celeriac boxty“. Dazu gesellen sich eingelegte rote Zwiebeln und Kräuter sowie eine Hummer-Bisque.
Dave Sweeney
Typisch irisch ist dabei nicht nur der Fisch, sondern auch das „Boxty“, das in diesem Restaurant durch Sellerie einen besonderen Twist erfährt. Das irische Boxty ist üblicherweise ein gebratener Kartoffelknödel oder Kartoffelpfannkuchen. Der Name soll von dem irischen Ausdruck „arán bocht tí“ kommen, was so viel wie „Armenhausbrot“ bedeutet. Dabei werden geriebene rohe Kartoffeln mit Kartoffelpüree, Mehl und Salz miteinander vermischt, gekocht und danach als geschnittene Scheiben in Butter gebraten. Kartoffeln gehören seit vielen Jahrzehnten zu den Grundnahrungsmitteln der grünen Insel und wecken zugleich Assoziationen an eine Zeit der bittersten Armut. Mitte des 19. Jahrhunderts lösten Kartoffel-Missernten die Große Hungersnot aus, auf Englisch „Great Famine“ genannt. Etwa eine Million Menschen starben damals in Irland an Hunger, und mehr als eine Million flohen deshalb von der Insel.
Typisch irisch sind natürlich auch traditionelle alkoholische Getränke wie Baileys oder Whiskey. Letzterer war einst die beliebteste Spirituose der Welt und eines der ersten destillierten Getränke in Europa, das um das 12. Jahrhundert entstanden ist. Während die Sonne über der Liffey allmählich untergeht, genehmige ich mir in „The Winding Stair“ irischen Whiskey als deliziöse Dessert-Sauce an einem „bread and butter pudding“. Die klebrig-süße Sauce der Spirituose passt hervorragend zu dem ofenwarmen Hefegebäck. Kulinarisch ist dieser Nachtisch natürlich ein mächtiger Gegenspieler zum leichten Hauptgang. Doch Naschkatzen, die Karamelliges mögen, kommen hierbei voll und ganz auf ihre Kosten. „Die Produkte sind, wo immer möglich, von der Insel“, sagt Elaine Murphy. Fisch, Fleisch- und Wurstwaren, Käse und Brot kommen von lokalen Erzeugern. Nichtsdestotrotz gibt es auch Ausnahmen. Klimabedingt müssen Zitrusfrüchte, Kaffee und die meisten Weine importiert werden.
Am nächsten Tag streife ich wieder durch die kleinen Straßen und Gassen in Temple Bar, vorbei an Pubs, Cafés und Restaurants. Einige Lokale werben mit irischer Küche. Dort gibt es zum Beispiel traditionelles irisches Frühstück und Irish Stew. Letzteres ist ein Eintopfgericht, das traditionell mit Hammelfleisch, Zwiebeln und Kartoffeln, manchmal auch zusätzlich mit Karotten zubereitet wird. Da Hammelfleisch schwerer zu bekommen ist, ist die Hauptkomponente heutzutage meist Lammfleisch.
Als Frühstücksklassiker gelten „Black Pudding“ und „White Pudding“. Anders als der Name vermuten lässt, handelt sich keineswegs um Süßspeisen. Bei einem Frühstück mit „Black Pudding“ beginnt man den Tag mit einer gebackenen Blutwurst, die in Scheiben serviert wird. Beim „White Pudding“ handelt sich um eine Art Grützwurst, die sich aus Schweinefleisch, Haferflocken, Brot und Rindernierenfett zusammensetzt. Natürlich kann man auch ohne „Pudding“ klassisch irisch in den Tag starten. So etwa mit Spiegelei oder Rührei an gebratenen Pilzen, Tomaten und Speck sowie Schweinefleischwürstchen. Dazu noch Toast mit Butter und Marmelade – and that’s all.
Auch Pescetarier dürften auf der grünen Insel durchaus auf ihre Kosten kommen. Quasi überall auf der Atlantikinsel findet man frischen Fisch wie Lachs, Muscheln und andere Tiere aus den Gewässern des Landes. So findet sich Fischiges auf vielen Speisekarten in Dubliner Lokalen.
Fisch und Muscheln finden sich fast überall auf der Karte
Das „Orwell Road“ an der gleichnamigen Straße hat unter anderem gegrillten Seeteufel, Seebrasse oder gegrillten Heilbutt auf der Speisekarte. Das mit Sternen bestückte Lokal im Stadtteil Rathgar steht unter der Leitung der Brüder Conor und Marc Bereen. Die beiden Iren haben zuvor andere erfolgreiche Restaurants wie das „Coppinger Row“ und das „Charlotte Quay“ auf die Beine gestellt und im April zudem eine Musik-und Weinbar eröffnet.
Während meine Begleitung und ich es uns bei einem „Beef tartare“ an geräuchertem Eigelb und „crispy“ Schalotten gutgehen lassen, wandern unsere Augen im Lokal umher: Zart-pastelliges Mintgrün an den Wänden und bunte Designer-Leuchten vermitteln den Eindruck eines modernen Stils, der eine eigene Note hat, ohne dabei aufdringlich zu sein.
Auch im „Orwell Road“ setzt man auf möglichst viele lokale Zutaten von der Insel und ein nachhaltig-ökologisches Konzept. „Bei der Zusammenstellung unserer Speisekarte gibt es nur eine Regel: Alles muss köstlich sein“, sagt Chefkoch Daniel Hannigan. Köstlich sind die Speisen in der Tat: das Lammkarree mit Spargel ebenso wie der auf der Zunge zergehende gebackene Knollensellerie an eingelegten Walnüssen, Kräutergnocchi und Coolea-Käse. Und ganz am Ende hebt uns der begnadete Küchenchef mit „Ryan’s rhubarb“ in das Himmelreich aller Köstlichkeiten: Seine tiefenaromatische, süß-säuerliche Kreation aus einheimischem Rhabarber, Sorbeteis, Hibiskus-Baiser und ein paar Tropfen Basilikumöl ist schlichtweg hinreißend. Wahrscheinlich hätte Mary Poppins den passenden Ausdruck für diese außergewöhnliche Nachspeise gehabt: supercalifragilisticexpialigetisch! Wie gut, dass wir dieses Wort nicht aussprechen müssen, sondern das kulinarische Kleinod bis auf den letzten Löffel auskosten dürfen.