Nach dem Kauf von Twitter sucht der reichste Mann der Welt nach Möglichkeiten, damit sich der hoch verschuldete Kurznachrichtendienst rasch finanziell erholt. Kritiker fürchten, dass die Meinungsfreiheit mit Elon Musk auf der Strecke bleibt.
Nach sechsmonatigem Hin und Her und kurz bevor ein Gericht einschritt, musste Tesla- und SpaceX-Chef Elon Musk nun den Kurznachrichtendienst Twitter kaufen – für 44 Milliarden Dollar. Hoffnungslos zu viel und eine Gefahr für die Demokratie, sagen die einen. Endlich der richtige Mann mit Visionen, ein Verfechter der Meinungsfreiheit, sagen die anderen.
Die darauffolgenden Tage waren für den Kurznachrichtendienst eine wilde Achterbahnfahrt. Nach dem Kauf, für den sich der neue Besitzer 13 Milliarden Dollar leihen musste, plagt Twitter nun eine Zinslast von einer Milliarde Dollar pro Jahr. Um die Rechnungen zahlen zu können, muss der umtriebige Tech-Milliardär mit seinem Unternehmen also rasch viel Geld verdienen. Zunächst tat Musk das, was am schnellsten geht – Mitarbeiter feuern. Teile des Managements mussten als erste ihre Schreibtische räumen. An einem Freitag dann die per Mail verfasste Kündigung für 3.700 Mitarbeiter, die Musk am darauffolgenden Montag zumindest teilweise wieder zurücknehmen musste. Versehentlich habe man Mitarbeiter gefeuert, die für den Weiterbetrieb von Twitter essenziell wichtig seien, hieß es danach in der US-Presse.
Chaotische Versuche der Kostendeckung
Und dann ist da die Idee, das blaue Häkchen neben dem Twitter-Nutzernamen zu Geld zu machen. Der Haken weist die twitternde Person als reale Person oder Organisation des öffentlichen Lebens aus, als Person mit Einfluss, als real existierender Mensch, damit sich niemand anderes hinter diesem Namen verstecken kann – eine Maßnahme, die Twitter gegen Bots, für mehr Transparenz und für verifizierte Informationen von Journalisten vor einigen Jahren einführte. Der dahinterliegende Prozess bei Twitter beinhaltet, dass Nutzer sich gegenüber Twitter mit einem offiziellen Dokument wie einem Personalausweis authentifizieren, eine aktuelle Webseite, einen eigenen Wikipedia-Eintrag und jede Menge selbst generierten Content, Follower und Erwähnungen vorweisen müssen. Jetzt soll der Haken, genauer Twitter Blue, acht Dollar kosten – auch ohne jenen aufwendigen Verifikationsprozess der Person hinter dem Benutzernamen. Fake-Accounts sind damit Tür und Tor geöffnet, erste Beispiele kursieren bereits auf der Plattform. Diese sollen weiterhin verbannt werden, wenn sie gemeldet werden, doch können sie vom Nutzer auf den ersten Blick nun schlechter von den verifizierten Accounts unterschieden werden.
Die Rechnungen bezahlen können die bislang 424.000 von Twitter mit einem blauen Haken akkreditierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Promis, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, jedoch nicht alleine, selbst wenn sie alle ihre acht Dollar im Monat zahlen würden. Derzeit hat die Plattform 238 Millionen tägliche Nutzer – kostenlos. Das bisherige Geschäftsmodell: Die Nutzer sehen Werbung zwischen einigen Tweets, dafür zahlen die Werbepartner. Auf Twitter werbende Unternehmen, die den größten Anteil der Einnahmen ausmachen, spülen zwar laut Statista 4,5 Milliarden US-Dollar jährlich in die Kassen – 85 Prozent aller Einnahmen des Unternehmens. Das aber ist zu wenig, denn laut „Forbes“ bleibt vor Steuern nur etwa eine Milliarde übrig, ein Bruchteil dessen, was die anderen US-Techgiganten Meta (Facebook, Instagram) oder Alphabet (Google, Youtube) einfahren. Im zweiten Quartal hatte Twitter sogar einen Nettoverlust von 270 Millionen Dollar gemeldet. Musk ist also gezwungen, nach neuen Wegen der Monetarisierung zu suchen, um die Unternehmensschulden zurückzuzahlen.
Diejenigen Accounts zur Kasse zu bitten, die ohnehin zu den aktivsten und attraktivsten Twitter-Nutzern mit jeder Menge Content und Followern zählen, macht rein geschäftlich wenig Sinn – zumal für einen blauen Haken, den nach Musks Einzug als Twitter-CEO ohnehin jeder haben kann und den Musk nur als Statussymbol ansieht und nicht als das, für was er gedacht war: als Anhaltspunkt für glaubwürdige Informationen. In seinen eigenen Tweets beklagte der US-Milliardär jedoch, dass Twitter vor allem von „aktivistischen“ Kräften überrannt werde und daher keine freie Meinungsäußerung von Andersdenkenden mehr möglich sei. Kein Wort darüber, dass vor allem die Polarisierung zwischen konservativ und progressiv in den USA für diese „Cancel Culture“ beider Seiten verantwortlich ist, aber auch die blühenden Verschwörungstheorien und Falschinformationen in den vergangenen Jahren. Dagegen ging Twitter bislang vor – nachdem sich 2006 mehrere Künstler gegen Accounts gewehrt hatten, die sie imitierten.
Hinter seinen Monetarisierungsideen könnte die Annahme stecken, dass Twitter für diese bereits verifizierten Nutzer und deren eigene Markenbildung so wichtig ist, dass sie bereit wären, monatlich zu zahlen. Bei vielen jedoch geht der Schuss gerade nach hinten los: Einige verabschieden sich bereits zu anderen sozialen Medien. Nach einer Twitter-Umfrage von Musk-Berater Jason Calacanis sind nur zehn Prozent der Nutzer bereit, für den Dienst zu zahlen. Langfristig will Musk jedoch den aktiven Usern Anreize bieten, weiterhin Inhalte zu erstellen. Wie diese Anreize aussehen? Unklar.
Große Werbepartner jedoch achten auf den Ruf von Twitter selbst, wie sich an den Beispielen der US-Tochter von Audi, General Motors und Volkswagen zeigt: Die drei Big Player haben ihre Werbetätigkeit auf Twitter erst einmal eingestellt.
Denn mit Musk an der Spitze der Plattform kommen offenbar auch in Marketingabteilungen Zweifel daran auf, ob sich der Kurznachrichtendienst in Zukunft von Falschinformationen und Hass im Netz noch genügend distanzieren kann.
Zweifel an Musks Experimenten
Der Grund: Elon Musk bezeichnet sich selbst als „free speech absolutist“, als einen Absolutisten, wenn es um freie Meinungsäußerung geht. In der Vergangenheit kritisierte er Twitter häufig, wo man sich mit mehreren hundert Köpfe starken Teams darum bemühten, Hassreden, Diskriminierung und Desinformationen aus dem Netzwerk herauszufiltern und zu sanktionieren. Dadurch verlor unter anderem Donald Trump seinen Zugang zu Twitter. Genau diese Teams wurden nun entlassen. Stattdessen will Musk nach eigenen Angaben ein Team bilden, das möglichst „diversifizierte Perspektiven“ auf ein strittiges Thema zulassen soll.
Was dies heißt, wie dieses Team aussehen oder aus welchen Personen es bestehen soll, ist bislang nicht bekannt. Dennoch verunsichern die bloßen Gerüchte, dass Twitters bisheriger Kampf gegen Desinformation und Hetze verwässert werden könnte, schon jetzt Werbepartner und setzen dem kleinsten der US-Social-Media-Giganten finanziell zu – Bankrott nicht ausgeschlossen.
Wie der Tech-Milliardär und Tesla-Gründer seine neueste Akquisition in die Gewinnzone bugsieren will, können Twitter-Nutzer live auf der Plattform mitverfolgen. Musk selbst gab freimütig zu, zu experimentieren. Dass es nun einen zweiten, grauen Haken neben dem ursprünglichen blauen Haken für Personen des öffentlichen Lebens, Unternehmen und Organisationen und den Zusatz „official“ geben sollte, dass Musk den grauen Haken einen Tag nach Einführung wieder einkassierte, dass der graue Haken nun doch wiederkehrt für Regierungs-Accounts und Unternehmen, könnte noch für Kopfschütteln sorgen. Dass jedoch bereits verifizierte Personen, deren Follower und Inhalte vor allem auf verifizierten Informationen beruhen, nun einfach mit einer Acht-Dollar-Überweisung nicht mehr auf den ersten Blick von Fake-Accounts zu unterscheiden sind, ist der eigentliche Skandal.
Die Alternativen zu Twitter, zu denen nun einige Persönlichkeiten abwandern oder es erwägen, sind so gut wie unbekannt. Eine von ihnen: Mastodon. Der von einem Deutschen programmierte und betreute Microblogging-Dienst gehört im Grunde niemandem. Anders als bei einem persönlichen Twitter-Account mit einzelnen Followern, wird ein Nutzer hier Teil einer „Instanz“ mit einem Schwerpunktthema, die jedoch mit anderen Instanzen kommunizieren kann. Die Instanzen, dezentrale Server, werden in der Regel von Privatpersonen betrieben. Laut einem Posting von Mastodon-Erfinder Eugen Rochko haben sich die Nutzerzahlen des deutschen Dienstes nach Musks Twitter-Deal so gut wie verdoppelt. Dies könnte in Zukunft auch seriösere Investoren anziehen: Bislang zahlen Online-Spielcasinos, Plattformen für Sexspielzeug, E-Commerce- und Marketingunternehmen Rochkos Rechnungen, aber auch Patreon-Mitgliedschaften sind möglich.
Ob Mastodon eine ernstzunehmende Alternative für Twitter werden kann, muss sich noch zeigen. Bereits jetzt zeigen sich die ersten Fake-Accounts mit blauem Häkchen und drohen die Twitter-Blase endgültig zum Platzen zu bringen.