Nach seinem Wechsel in die NHL läuft es sportlich für Marco Sturm nicht optimal. Glücklich ist der Ex-Bundestrainer bei den Los Angeles Kings trotzdem.
Die Los Angeles Kings haben in der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga NHL bisher mehr Spiele verloren als gewonnen, das Ziel Play-off-Teilnahme ist fast nicht mehr zu erreichen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Assistenz-Trainer Marco Sturm während der Weltmeisterschaft in der Slowakei (10. bis 26. Mai) Zeit hat. Zeit, um die Nationalmannschaft als Coach zu begleiten? „Nee, auf alle Fälle nicht", sagt Sturm. „Es kam auch nichts vom Verband. Der Fokus liegt ganz auf den LA Kings."
Der Deutsche Eishockey-Bund (DEB) hat inzwischen auch einen Nachfolger für den Silberschmied von Pyeongchang (Südkorea) gefunden. Die Personalentscheidung war mindestens genauso überraschend wie die für Sturm vor dreieinhalb Jahren: Der Finne Toni Söderholm tritt das schwere Erbe an. Der 40-Jährige, der zuletzt den Drittligisten SC Riessersee trainierte und vor allem Erfahrungen im Nachwuchsbereich vorweisen kann, gilt als ausgewiesener Eishockey-Fachmann. Im Profibereich hat der ehemalige Verteidiger von Red Bull München aber lediglich als Spieler Erfahrungen gesammelt.
Sturm findet daher auch, dass Söderholm eine „mutige Entscheidung" sei, die ihn auch „ein bisschen überrascht" habe. Die gleichen Reaktionen hatte seine Ernennung zum Bundestrainer hervorgerufen, und Sturm hatte bis auf ein paar Stunden mit der Kindermannschaft seines Sohnes gar über null Trainererfahrungen verfügt. Und er hatte obendrein zunächst seinen Wohnsitz noch in Florida.
Die Skepsis war groß, Sturms Name aber noch größer. Allein deswegen gab ihm die Öffentlichkeit eine Chance. Und Sturm nutzte sie. Unter seiner Regie stieg die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft von einem bemitleidenswerten Sorgenfall zum Liebling der Sportfans auf, das Olympia-Finale gegen den späteren Sieger Russland begeisterte trotz der nächtlichen Uhrzeit Millionen Fans in der Heimat. Dominik Kahun, Patrick Reimer, Patrick Hager und ja, auch Marco Sturm, waren plötzlich Stars.
DEB-Auswahl zur „Mannschaft des Jahres" gewählt
Und diese Euphorie ist noch nicht gänzlich verflogen. Bei der Wahl zur „Mannschaft des Jahres" setzte sich die DEB-Auswahl vor den Eiskunst-Olympiasiegern Aljona Savchenko und Bruno Massot und dem Deutschland-Achter durch. Nie zuvor in der seit 1957 durchgeführten Wahl konnte eine Eishockeymannschaft gewinnen. „Das zeigt die Wertschätzung unserer Leistung. Es setzt dem Ganzen die Krone auf", sagte Christian Ehrhoff. Der inzwischen zurückgetretene Kapitän weiß, dass es ohne den Trainerwechsel vom glück- und farblosen Pat Cortina zum Eishockey-Idol Marco Sturm sehr wahrscheinlich kein Olympia-Märchen gegeben hätte. Unter Cortina hatte es Absagen von Topspielern nur so gehagelt, bei Anrufen von Sturm gingen die Profis gern ans Handy. Sturm habe „Kontinuität rein- und wieder Spaß ins deutsche Eishockey gebracht", sagte Ehrhoff. „Das war einige Zeit nicht so, als manche Spieler nicht zur Nationalmannschaft kommen wollten." Ein Rückschritt in alte Zeiten befürchtet Sturm nach seinem Abgang nicht. Er traut seinem Nachfolger einen ähnlichen Werdegang zu: „Wenn er den Weg so geht wie ich, das heißt, sich auch die richtigen Leute holt, dann ist das, denke ich, kein Problem."
Sturm wird Söderholms Feuertaufe bei der Weltmeisterschaft aus der Ferne verfolgen. Ohne Wehmut, wie er selbst sagt. „Ich genieße jeden Tag, auch wenn es nicht einfach ist", sagt Sturm über seinen neuen Karriereabschnitt. Als Silbermedaillengewinner bei Olympia zum Co-Trainer bei einem kriselnden NHL-Club – manche mögen dies als kleinen Abstieg bewerten. Sturm nicht. Für den Dingolfinger, der als deutscher Rekordspieler in 14 Jahren 1.006 Partien in der besten Eishockeyliga der Welt absolviert hat, war die Rückkehr in die NHL immer ein Traum, den er sich jetzt verwirklicht. „Ich habe lange in der Liga gespielt, jetzt habe ich die Chance, es von der anderen Seite her kennenzulernen", sagte Sturm der Fachzeitung „Eishockey-News". „Eigentlich wollte ich nie ins Trainergeschäft einsteigen, aber ich wurde ein bisschen reingedrängt – und hey, jetzt bin ich hier! Ich liebe es, und ich genieße jeden Tag."
Der Umzug im November vom beschaulichen Landshut in die Metropole Los Angeles fiel ihm und seiner Familie deswegen auch nicht schwer. Klar ist, dass das kleine Olympia-Wunder mit der deutschen Nationalmannschaft ihm die Türen nach Übersee geöffnet hat. „Da müssen wir nicht lange spekulieren", sagt Sturm. „Das war der entscheidende Moment. Von da an wussten die Leute in Nordamerika, dass ich jetzt Trainer bin." Vor allem der kaum für möglich gehaltene 4:3-Sieg im Halbfinale gegen Kanada sorgte auch in Nordamerika für Furore, obwohl die NHL-Stars in Südkorea nicht am Start waren. NHL-Profi Leon Draisaitl (Edmonton Oilers) verriet: „Ich wurde von Spielern scherzhaft angesprochen: Oh, ihr Deutschen könnt jetzt also auch Eishockey spielen?!" Und ganz offensichtlich auch Eishockey coachen. Sturm jedenfalls bekam fortan verstärkt Anrufe aus der besten Eishockeyliga der Welt.
Schon allein wegen seiner Vergangenheit als Spieler genießt Sturm einen exzellenten Ruf in der NHL. Er lief für die San Jose Sharks, die Boston Bruins, die Washington Capitals, die Vancouver Canucks, die Florida Panther und auch für seinen jetzigen Arbeitgeber, die Los Angeles Kings, auf. Für alle Clubs war Sturm als Angreifer unterwegs, vielleicht hatte ihn der neue Kings-Headcoach Willie Desjardins deswegen ursprünglich für das Stürmer-Training geholt. Doch schnell war Sturm für die Defensive zuständig, und auch beim im Eishockey so wichtigen Überzahlspiel durfte er seine Erfahrungen mit einbringen.
Mehrere seiner Schützlinge kennt Sturm noch aus seiner aktiven Zeit, mit Anze Kopitar und Dustin Brown zum Beispiel hat er noch gemeinsam auf dem Eis gestanden. „Ich habe mit einigen von ihnen gespielt – oder gegen sie", sagt Sturm und scherzt: „Das heißt aber nicht, dass ich noch immer jung bin, oder?" Auf jeden Fall sei es „komisch, jetzt auf der anderen Seite zu sein".
„Ich lerne jeden Tag dazu"
Doch auf dem Papier hat sich seine Arbeit noch nicht so recht ausgezahlt. Das 1:3 gegen Sturms Ex-Club San Jose Sharks Mitte Januar war die dritte Niederlage im vierten Spiel des neuen Jahres. Der Stanley-Cup-Sieger von 2012 und 2014 dümpelt in den Niederungen der Tabelle. Beim einzigen Sieg durfte Sturm ausgerechnet gegen seinen einstigen Schützling jubeln: Die Kings besiegten die Oilers um Draisaitl mit 4:0. Auch wenn Draisaitl Niederlagen nicht ausstehen kann, dem ehemaligen Bundestrainer gönnte er dieses Erfolgserlebnis. „Ich freue mich, wenn er in der NHL seinen Weg als Trainer geht", sagte Draisaitl, der Sturm als besten deutschen Scorer der NHL-Geschichte längst abgelöst hat.
Die Wertschätzung beruht aber auf Gegenseitigkeit. Allein schon, weil es Draisaitl war, der trotz seines jungen Alters die Nationalmannschaft beim Olympia-Qualifikationsturnier in Riga überhaupt erst nach Pyeongchang geführt hatte. „Es gibt nicht viel, was er nicht kann", sagt Sturm über Draisaitl. „Ich habe Leon 2016 in Russland kennengelernt. Da war er ein guter Spieler, keine Frage." Jetzt aber sei er im Club und im DEB-Trikot „der Chef auf dem Eis" – und das zu Recht: „Das ist sein Spiel. Das mag er. Er will alles auf sich ziehen. Das macht er mit seiner Klasse sehr, sehr gut."
Natürlich verfolgt Sturm immer noch vor allem die deutschen Spieler in der NHL, auch wenn sein Radius nun deutlich größer ist. Die gemeinsamen Erfolge verbinden halt.
„Die Zeit war wunderschön, wir haben Wundervolles erreicht", sagt er. Ein bisschen Wehmut sei beim Blick zurück immer dabei: „Wir sind zusammengewachsen als Familie. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen."
Doch Sturm hat mit seinen NHL-Zielen nie hinter dem Berg gehalten. Auch bei seiner Vertragsverlängerung vor einem Jahr bis 2022 hatte er sich von DEB-Präsident Franz Reindl Gesprächsbereitschaft zusichern lassen, sollte es ein Angebot aus Übersee geben. Reindl ließ Sturm nur sehr ungern ziehen, denn der Trainer hatte auch das Reformpaket „Powerplay 2026" entscheidend mit angeschoben. Sturm stellte im Nachwuchsbereich strukturell und personell die Weichen für eine bessere Zukunft, außerdem prangerte er immer wieder auch die Ausländer-Regelung in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) an.
Es würde nicht verwundern, sollte so ein Mann nicht auch irgendwann einen Cheftrainer-Posten in der NHL übernehmen. Doch zumindest nach außen hält sich Sturm bedeckt. Daran „verschwende ich derzeit keinen Gedanken", sagt er. „Das Abenteuer kann schnell vorbei sein. Ich habe nun diese Chance bei den Los Angeles Kings bekommen, ich genieße jede Sekunde und lerne jeden Tag dazu – und dann schauen wir mal, was passiert."