„Urteil: ungerecht" heißt das Buch des Richters Thorsten Schleif, in dem er der deutschen Justiz Versagen vorwirft. Im Interview erklärt er, warum Gerichtsverfahren oft scheinbar ewig dauern und spricht über die Nachwuchsprobleme und fehlende Willensstärke bei Richtern.
Herr Schleif, in Ihrem Buch bezeichnen Sie die Situation der deutschen Justiz als „beschissen". Weshalb wählen Sie so drastische Worte?
Bei einer Justiz, die massive Nachwuchsschwierigkeiten im Richterbereich hat, die finanziell nicht ausreichend ausgestattet ist um ausreichende Ausbildung, Ausstattung und Besoldung zu gewährleisten und nachweislich überlastet ist, fand ich das Wort einfach passend. Wenn Ihnen ein besseres Wort einfällt, nehme ich das gern. (lacht) Aber mir fiel kein ehrlicheres Wort ein.
Dann erklären Sie doch mal! Was läuft im deutschen Justizsystem schief?
Das ist schon einiges, angefangen bei den großen Nachwuchssorgen, die wir haben. In zehn Jahren gehen mehr als 40 Prozent aller Richter und Staatsanwälte, die wir heute haben, in den Ruhestand. Immer weniger Leute studieren Jura, und immer weniger machen zwei Staatsexamen. In den meisten Firmen der freien Wirtschaft reicht es, wenn man ein Staatsexamen hat. Da nur knapp 20 Prozent einen sogenannten vollbefriedigenden Abschluss haben, den man als Richter braucht, fehlt es zudem an geeigneten Bewerbern. Die Justiz und die Großkanzleien müssen sich den Nachwuchs teilen. Und bei den Großkanzleien gibt es zuweilen ein Einstiegsgehalt von 140.000 Euro brutto. Das verdient kein OLG-Präsident in Deutschland. Die kommen auf circa 125.000 Euro. Und das sind keine Berufsanfänger. Das Einstiegsgehalt eines jungen Richters beträgt zum Beispiel im Saarland weniger als 49.000 Euro brutto.
Das Gehalt und die Nachwuchssorgen sind das eine, das andere sind die Entscheidungen der Richter. Wie kommt es, dass Kinderschänder offenbar geringer bestraft werden als Steuerhinterzieher? Oder täuscht dieser Eindruck?
Der Eindruck kommt zwar auf, in dieser Absolutheit ist er aber nicht gerechtfertigt. Im Fall Lügde hatten wir vor Kurzem Haftstrafen von zwölf und 13 Jahren und anschließende Sicherungsverwahrung. Die Höchststrafe bei Steuerhinterziehung liegt bei zehn Jahren. Es ist aber im Einzelfall eine berechtigte Frage. In meinem Buch schreibe ich, dass ich den Eindruck habe, dass Richter weder richtig ausgewählt werden, noch richtig ausgebildet sind, um unangenehme Entscheidungen zu treffen.
Wie meinen Sie das?
In der Regel versteht man unter harten Strafen eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Das auszusprechen erfordert Entscheidungs- oder Willensstärke. Solche Eigenschaften bescheinigt uns aber kein Staatsexamen. In der Ausbildung müsste Entscheidungspsychologie eine wichtige Rolle spielen.
Wie treffen Sie persönlich Entscheidungen?
Ich bin von Haus aus entscheidungs- und willensstark. Ich bin jemand, der gern und schnell entscheidet und die Verantwortung trägt. Willensstärke ist etwas, das auf einer charakterlichen Eigenschaft beruht, aber auch gelernt werden kann. Ich beschäftige mich seit zwölf Jahren mit Entscheidungspsychologie, weil das ein Hobby von mir war.
Ist diese psychische Barriere der Grund, weshalb zu geringe Strafen zustande kommen?
Eine der großen Ursachen dafür ist eine unzureichende Ausbildung der Richter. Man muss als Richter eine ausreichende Entscheidungsstärke haben, weil man dafür die Verantwortung trägt, jemanden einzusperren. Es ist menschlich, wenn man ein schlechtes Gewissen hat oder Mitgefühl mit der Person, die man da verurteilt. Da kommen ja auch Menschen, die nicht die typischen Kriminellen sind, wie sie im Buche stehen. Jemand, der seit Jahren heroinsüchtig ist und kleine Straftaten begeht, um sich den nächsten Schuss zu setzen etwa. An dem Tag, an dem ich aufhöre, Mitgefühl zu haben, bin ich ein Arschloch und höre auf, Richter zu sein. Aber an dem Tag, an dem ich aus Mitgefühl meine Richterpflicht nicht ausübe, höre ich auch auf, Richter zu sein.
Es klingt schwer, die richtige Mischung zu finden.
Das ist es. Und schön ist das Gefühl nicht, Menschen einzusperren. Aber wer nicht damit umgehen kann, das meine ich nicht despektierlich, der kann unseren Job nicht ausführen.
Ist es nicht sogar gefährlich, wenn Verbrecher, kaum verhaftet, bis zur Verhandlung nach einer Anhörung auf freien Fuß gesetzt werden?
Es kann gefährlich sein, da stimme ich Ihnen vollkommen zu, wenn der Täter die Freiheit nutzt, um weitere Straftaten zu begehen. Und nicht nur das. Es besteht auch die Gefahr, dass ein Täter flüchtet und das Verbrechen dadurch ungesühnt bleibt. Mir kommt es so vor, als würden viele Kollegen vor dem Erlass eines Haftbefehls zurückschrecken, weil sie dann die Verantwortung nicht tragen müssen. Aber wenn ein Täter sich der Hauptverhandlung entzieht, dann stellt sich das dar wie ein Versagen des Rechtsstaates.
Sind Richter also zu lasch oder zu entscheidungsschwach?
Ich habe das so bei sehr vielen Kollegen kennengelernt. Viele haben gesagt: Der Täter tat mir leid, ich hatte Mitleid bei demjenigen. Das wird auch als Grund angegeben, wenn ein Haftbefehl nicht erlassen wurde. Das Mitleid darf aber nicht meine Entscheidung beeinflussen. Wir reden ja oft miteinander in der Kollegenschaft.
Sie greifen damit Ihre Kollegen an. Wie stehen die zu dem Buch?
Ich hätte nicht damit gerechnet, aber ich habe, nachdem das Buch herausgekommen ist, sogar von Kollegen, die ich nicht kannte, 50 oder 60 Whatsapp-Nachrichten, E-Mails, Anrufe und sogar Briefe mit Glückwünschen bekommen. Keiner war dabei, der sagte: „Das hättest du nicht machen dürfen." Ich habe nur Zuspruch erhalten, der Rückhalt war sehr stark. Einer meiner guten Freunde, der sich bei den kritischen Punkten wiedererkannt hat, sagte sogar: „Du hast ja so recht." Und ganz wichtig: Ich nehme mich bei einigen Punkten nicht aus. Etwa die typische Charaktereigenschaft der Richter eines hohen Bedürfnisses nach finanzieller Sicherheit – da mache ich bei mir keine Ausnahme. Und auch ich habe keine ausreichende Ausbildung erhalten.
Was steckt denn noch dahinter, dass die deutsche Justiz sich offenbar wenig traut?
Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter. Ich halte es für problematisch, dass unsere Justiz zu sehr wie eine Verwaltungsbehörde aufgebaut ist. Die Behördenleiter werden nicht von den Richtern, sondern von den Ministerien bestimmt. Die zweite Staatsgewalt (Exekutive) bestimmt also, wer in der dritten Staatsgewalt (Judikative) Behördenleiter wird. Dadurch wird die Gewaltenteilung ausgehebelt.
Wer trägt die Schuld daran?
Natürlich einerseits die Unterfinanzierung seit Jahrzehnten, aber auch der mangelnde Wille des Gesetzgebers, eine tatschliche Unabhängigkeit zu gewährleisten. Der Juristentag 1953 hat gefordert, dass die personellen Entscheidungen von der Regierung unabhängig sein müssen. Aber die Regelungen der Gerichtsverfassungsverordnung von 1935 wirken immer noch fort.
Auch unabhängigen Beobachtern fallen immer wieder Ungereimtheiten auf. Warum ist eine lebenslange Haft in Deutschland nicht wirklich lebenslang?
Grundsätzlich ist es schon so: Lebenslang bedeutet lebenslang. Jedoch legt Paragraf 57a StGB fest, dass die Vollstreckung des Restes unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Bei etwa 15 bis 20 Prozent der Verurteilten endet der Vollzug durch den Tod. Da Lebenslang die schwerste Strafe nach der Todesstrafe ist, hat das Verfassungsgericht irgendwann entschieden, dass auch ein lebenslang Verurteilter irgendwann die Chance bekommen muss, zu zeigen, dass er sich gebessert hat.
Das ist ethisch sicher ein großes Problem, denn ein lebenslang verurteilter Mörder hat einem Opfer ja jede Chance auf ein Leben genommen.
Ich habe da auch meine Bedenken, sage ich ganz ehrlich. Das finde ich schwierig. Der Mörder hat ein anderes Leben auf Dauer beendet und dieses Leben hat nicht die Chance, zurückzukommen.
Oft haben Häftlinge eine Art Luxus-Leben im Knast. Geht es da mit der Würde nicht ein wenig weit?
Häftlinge werden in den JVAs schon sehr gut ausgestattet. Das ist aber Justizvollzug, damit habe ich als Richter nicht so viel zu tun. Es ist korrekt, dass die Insassen durchaus sehr großen Freiraum bekommen. Es gibt natürlich welche mit Fernseher und Playstation. Und mir täte es schon sehr weh, allein zu wissen, dass ich nicht in Freiheit lebe und frei verfügen kann.
Ein weiterer Kritikpunkt der vielen am deutschen Justizsystem ist, dass Gerichtsverfahren zu lang dauern. Warum ist das so?
Einige Gerichtsverfahren dauern tatsächlich mit Abstand zu lang. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür. Es gibt Zivilverfahren, die 10 bis 20 Jahre dauern. Es gibt in Deutschland die Proberichterdezernate. Die ersten drei Jahre verbringt ein junger Richter dort und oft bekommt er dann eine Akte vorgesetzt, die 1.000 Seiten dick ist. Über so etwas entscheidet man nicht nebenbei. Wenn das Dezernat voll ist, muss man das aber nebenbei erledigen. Es gibt dann eine sogenannte Schiebeverfügung, die es ermöglicht, den Fall zurückzulegen. Das ist eine Notwehrreaktion gegen die Überlastung des Justizsystems. Dann ist der junge Richter die Akte für die nächsten paar Monate los. Wenn er Glück hat, ist er dann schon nicht mehr in der Kammer drin. Die Akte wandert zum nächsten Proberichter, und auch der hat keine Zeit, sie zu bearbeiten.
Es steht und fällt also mit dem Personalmangel. Wie viele Richter haben wir derzeit zu wenig in Deutschland?
In Nordrhein-Westfahlen gibt es gegenwärtig um die 250 offene Stellen. Die können nicht besetzt werden, weil Bewerber fehlen. Der neue Pakt für den Rechtsstaat besagt, dass wir 2.000 neue Stellen bekommen sollen. Das klingt schön und gut. Das Problem ist: Wir haben schon für die ohnehin offenen Stellen keine Bewerber.
Bei all den Fehlern und Problemen, die Sie ansprechen: Warum sind Sie ans Gericht gegangen?
Ich wollte immer für das öffentliche Wohl arbeiten. Das hätte auch die Staatsanwaltschaft sein können. Aber das ist Idealismus. Ich habe mir erst mal eine Großkanzlei angesehen und ein Dreivierteljahr bei einer Wirtschaftskanzlei gearbeitet.
Jetzt haben Sie ja viele in Ihrem Buch kritisiert. Befürchten Sie Nachteile in Ihrer Arbeit, die daraus resultieren?
Befürchten nicht, erwarten schon. Das Buch könnte mir bei etwaigen Beförderungen Steine in den Weg legen. Aber Sorgen mache ich mir da nicht. Bei mir war es immer so, dass ich immer schon das gesagt habe, was ich denke und was ich meine. Wenn ein Richter sich das nicht mehr traut als unabhängiger Teil der Staatsgewalt, dann sind wir in einem System, das wir nicht haben wollen. Meinungsfreiheit steht im Grundgesetz. Ich erinnere mich daran, da kürzlich so was gelesen zu haben. (lacht)