Homeoffice, Homeschooling, Videokonferenzen: Nach Corona scheint Deutschland im neuen Jahrzehnt angekommen zu sein. Gut vorbereitet war Deutschland darauf nicht. Für die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Nadine Schön, Zeit für eine Diskussion, wie unsere Gesellschaft in zehn Jahren aussehen soll.
Frau Schön, Sie rufen den Beginn eines Reformjahrzehnts aus. Wo fangen wir da an mit den Reformen?
Bei uns selbst! In „Neustaat“ fordern wir nicht weniger als eine Radikalkur für unseren Staat. Er muss schneller, besser, handlungsfähiger werden. Ein gut funktionierender Staat war schon immer und bleibt Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Wohlstand. Das fängt im vermeintlich Kleinen an. Die große Mehrheit der Deutschen wünscht sich von ihrer Stadtverwaltung mehr digitale Angebote. Vor allem beim Wohnen, der Verwaltung, beim Verkehr, bei der Sicherheit und der Umwelt sehen die Menschen Handlungsbedarf. Aktuell hängt das digitale Amt jedoch eher in der Warteschleife. Und hört bei den großen Umbrüchen dieser Zeit auf: Digitalisierung, internationaler Konkurrenzkampf, Klimawandel oder Pandemiebekämpfung. In unserem Buch bieten wir 103 Vorschläge, wie sich unsere Politik und die Verwaltung neu aufstellen können. Wir müssen weiter vorne mitspielen können, um unseren Wohlstand zu halten. Neues entsteht aus Veränderung. Wir brauchen einen „Neustaat“.
Was heißt das konkret – beispielsweise bezogen auf die aktuelle Corona-Krise?
Corona hat gezeigt, dass Bund, Länder und Kommunen auch schnell und gut zusammenarbeiten können. Corona hat aber auch die Schwachstellen gezeigt: Gerade auf dem Land gab es Netzprobleme, Infektionsmeldungen wurde teilweise ans Robert-Koch-Institut gefaxt und viele Schulen waren mit dem Thema Homeschooling komplett überfordert. Wegen fehlender Schulclouds haben Lehrer teilweise die Unterlagen in der Schule ausgedruckt, kopiert und die Schüler konnten sich das abholen. Das ist doch keine „Bildung der Zukunft“.
Und die aktuelle Diskussion darüber, ob die Lehrer an jeder Stelle den Datenschutz eingehalten haben, schießt den Vogel wirklich ab. Datenschutz ist wichtig – ohne Frage. Aber das Engagement Einzelner darf jetzt nicht bestraft werden, wenn pragmatische Lösungen in dieser Zeit gefunden wurden. Ich würde mir wünschen, dass es hier zu einer einvernehmlichen Lösung kommt.
Sie sprechen von einer sogenannten Datensorgfalt – was meinen Sie damit?
Derzeit ist die Prämisse in Deutschland Datensparsamkeit. Die Menschen sollen möglichst wenig Daten preis geben müssen – so der Plan. Klappt gerade mit Blick auf große amerikanische Plattformkonzerne nur bedingt. Fakt ist doch, dass wir ständig irgendwo ein Häkchen machen, ohne großartig nachzudenken, was mit unseren Daten passiert. Das nutzt derzeit vor allem Facebook, Google und Co.
Der Bürger kann hier nur abnicken, wirkliche Wahlfreiheit, welche Daten genutzt werden sollen, besteht nicht. Gleichzeitig werden wir durch unsere überharte Einschränkung von Datenauswertung für europäische Unternehmen zunehmend abgehängt. Wir müssen hier konkurrenzfähig werden. Deswegen plädieren wir für eine Datensorgfalt. Das heißt, es geht darum, was mit den Daten gemacht wird, statt darum, wie viele existieren. Dafür brauchen wir eine Regulierung, die effektiv und rechtssicher allen Akteuren solche Möglichkeiten eröffnet.
Ein Beispiel ist das Datencockpit. Wir wollen, dass Bürger einstellen können, welche Daten sie wann und für welche Zwecke preisgeben möchten und welche nicht und dass Unternehmen anschließend anhand dieser Einstellungen arbeiten. Anstatt jedes Mal Häkchen nach den Vorstellungen der Unternehmen zu setzen, stelle ich meine Präferenzen ein und die Unternehmen müssen diese dann umsetzen. Das führt zu einer viel besseren Kontrollmöglichkeit für den Bürger und schafft einen einheitlichen Rahmen für Unternehmen. Gleichzeitig nimmt es Unternehmen die ständigen Zustimmungen ab. Sie müssen nicht immer nachhören, sondern können die Vorlieben des Einzelnen prüfen und sich danach richten.
Sie sprechen auch von der Komplexitätsfalle. Was heißt das und wie kommen wir da raus?
Kennen Sie ein öffentliches Großprojekt, das pünktlich und ohne Kostensteigerung fertig geworden ist? Für einen Elterngeldantrag braucht man bis zu 32 Nachweise bei unterschiedlichen Behörden. Bürgerinnen und Bürger verzweifeln nicht selten daran, dass sie von A nach B geschickt werden und permanent hören: „Dafür sind wir nicht zuständig.“ Oder „Das haben wir immer schon so gemacht“. 60 Prozent der Bürger halten die Verwaltung für überfordert. Und daran sind nicht die Beamten Schuld. Sie sind weder faul noch unwillig. Sie arbeiten eben in der Struktur, die die Politik geschaffen hat. Und sehen dabei selbst, dass diese an ihre Grenzen kommt. Der Krankheitsstand im öffentlichen Dienst ist erschreckend hoch. Mit der Arbeitsbelastung steigt die Unzufriedenheit, gleichzeitig werden die Ergebnisse schlechter. Ein Teufelskreis. Wenn Strukturen nicht effizient genug sind, kann die Antwort nicht einfach „mehr arbeiten“ sein. Dann müssen die Strukturen angegangen werden.
Darum brauchen wir zukünftig den lernenden Staat?
Ja. Unser Leitbild muss der lernende Staat werden. Er ist dynamisch und experimentierfreudig, flexibel und faktenbasiert. Politische Entscheidungen werden nach Faktenlage getroffen und nicht nach politischem Gusto. Politische Entscheidungen werden anhand von Zielwerten messbarer gemacht. Der lernende Staat überprüft so sein Handeln permanent und in häufigen Zyklen. Was nachweislich geklappt hat, wird beibehalten. Strukturen und Maßnahmen, die behindern oder ihr Ziel verfehlen, werden angepasst.
Ein aktuelles Beispiel ist die Corona-App. Die Bundesregierung hat zunächst auf einen zentralen Ansatz gesetzt, d.h. die Daten wären zentral gespeichert worden. Hier hat sich vor allem aus Datenschutzgründen Widerstand aufgetan. Die Bundesregierung hat abgewogen, alle Fakten ausgewertet und dann umentschieden – zum Wohle der Akzeptanz. Das ist aufgegangen. Schon nach wenigen Tagen haben Millionen Deutsche die App installiert.
Wie soll es jetzt konkret weitergehen? Wie wollen Sie den „Neustaat“ realisieren?
Beim Thema Verwaltungsmodernisierung werden mit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetz bereits die ersten Schritte unternommen. Die gerade erwähnten drei Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket sind hier eine große Hilfe.
Darüber hinaus wird die CDU noch in diesem Jahr ihr neues Grundsatzprogramm vorstellen. Darin werden die langfristigen programmatischen Weichen für unsere Partei gestellt. Auch hier werden wir sicher einige unserer Vorschläge wiederfinden.
Im nächsten Jahr werden wir aber auch ein neues Wahlprogramm für die Bundestagswahlen vorlegen. Hier haben wir natürlich den Anspruch, unsere konkreten Vorschläge für die nächste Legislaturperiode einzubringen.
Wir haben also sowohl die kurzfristige als auch die langfristige Perspektive für unsere Reformvorschläge im Blick. Das muss auch so sein, denn tiefgreifende Strukturreformen brauchen einen langen Atem. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland den NeuStaat wagen muss! Und daran arbeiten wir jetzt auf Hochtouren!