Sie reiten oft vorbei, zu zweit, zu dritt oder zu viert. Irgendwann wundert man sich darüber, dass es immer Mädchen sind und macht es sich fast zum Sport, auch mal einen männlichen Reiter zu entdecken. Warum ist das Reiten so ein Mädchending?

Ein befreundeter Ire widerspricht. Er sei auch mit Pferden groß geworden und in Irland gäbe es keinen Unterschied zwischen reitbegeisterten Männern und Frauen. Angeregt durch die Frage würde er gern wieder mal auf einem Pferd sitzen. Eine Fünfzigjährige, die auf einem Hof in Mecklenburg mit ihren Kindern reitet, behauptet sogar, dass Pferdesport eine Männerdomäne sei. Die Betonung des Wortes liegt dabei wohlgemerkt auf Sport. Michelle Hoffmann hat schon im Alter von vier Jahren mit dem Reiten auf Ponys angefangen, jedes Wochenende im Havelland zusammen mit ihrer großen Schwester. Michelle reizte zu verstehen, was beim Training zwischen Pferd und Reiter passiert, ihre Schwester wollte eher ins Gelände. „Sie hatte nicht so den Pferde-Virus wie ich."
Die Geheimnisse sind sicher
Wie man Kindern Reiten beibringt, hat sich über die Jahre sehr verändert. Früher war es elitärer, erzählt die 31-Jährige: „Heute gibt es eine viel breitere Masse an Menschen, die Reiten als Hobby haben." Die studierte Sportmanagerin mit DOSB-Trainerlizenz ist seit vielen Jahren vor allem im Jugendbereich und in der Nachwuchsförderung aktiv, seit 2020 auf dem Eschenhof in Sputendorf südlich von Berlin. Dieser Hof mit rund 30 Pferden und Ponys in Zucht und Reitschule wurde von drei Frauen gegründet. Er ist gleichzeitig ein Einstellerbetrieb, bei dem Privatpersonen ihre Pferde einmieten und in Beritt geben. Die Pferde für den Amateursport sind fast den ganzen Tag lang draußen. Die meisten Kinder kommen durch Empfehlung zum Reiten. „Das Quoten-Pferdemädchen hat man ganz häufig, die bringt dann eine Freundin mit. Und dann die ganzen Pferdegeschichten in Filmen und Zeitschriften, dadurch wird viel Interesse geweckt. Das möchte ich mal ausprobieren!" Das war schon in früheren Generationen so. Im Kinderfilm „Das Pferdemädchen" (DDR, 1979) verstehen sich Irka und die blinde Stute Raya bestens. Das ehemalige Turnierpferd kann nicht mehr sehen, und die Zwölfjährige kümmert sich liebevoll um das Tier.
Die Motive für das Reiten sind abhängig von Alter und Geschlecht, findet Michelle. „Die Mädchen sind total fasziniert und verliebt in die großen Tiere. Sie sind so weich, man kann sie streicheln und ihnen Geheimnisse erzählen. Und sie sind so ruhig, obwohl sie riesig sind. Das Größte für ein Kind ist am Anfang ja gar nicht das Reiten, sondern dass es dem Pferd einen Strick umlegt und das Tier mitkommt. Ein ausgewachsenes Pferd wiegt 800 Kilo und die Ponys zwischen 300 und 400 Kilo. Wie die kleine Masse die große Masse bewegen kann, ist sehr beeindruckend." Jungs hingegen haben bei Pferden wohl eher den sportlichen Aspekt im Fokus. Während man im Amateursport gerade bei den Kindern sehr viel mehr Mädchen findet, ist es beim Spitzensport eher halbe-halbe, schätzt Michelle. Reitsport ist schnell und sehr dynamisch, „weshalb Jungs und junge Männer in den Springsport gehen. Dass sie sich auf Turnieren miteinander messen können, ist für sie spannend. Wenn sie dann die kritische Pubertätsphase überwunden haben und beim Reiten geblieben sind, bleiben sie meist für’s Leben. Von den Mädchen hören in dieser Entwicklungsphase viele auf. Also in meinem Umfeld sind die Männer vor allem über den Sport bei den Pferden geblieben."
Zu Michelles Schützlingen gehören Leif und Lando aus Berlin. Die 15-jährigen Zwillingsbrüder, die das Französische Gymnasium besuchen, werden immer sonntags von ihren Eltern zum Eschenhof gebracht. Während Vater und Mutter durch die Natur spazieren, stehen für die Söhne Springreiten, Dressur und Ausreiten auf dem Programm. Beide traten auch schon zu Turnieren im Grunewald an und waren dabei erfolgreich. Schon als Kleinkinder kamen sie in Berührung mit Pferden. Daraus wurde später eine richtige Leidenschaft. Ein eigenes Pferd zu bekommen, stand oft auf dem Wunschzettel zu Weihnachten oder zum Geburtstag. „Das wird schon irgendwann was werden", ist sich Leif sicher. Beide Brüder lieben es, beim Sport einem Tier ganz nah zu sein. Als es von gleichaltrigen Jungs mal dumme Bemerkungen á la Mädchensache gab, konterte Lando: „Die Ritter sind geritten, die Indianer sind geritten und mein Vater auch, also was?" Die Brüder denken, dass vorwiegend Mädchen beim Reitsport anzutreffen sind, daran liegt, dass Jungs „eher zu Mannschaftssportarten wie Fußball tendieren, um sich mit Gleichaltrigen zu messen." Obwohl es auch beim Pferdesport, sobald es um Wettkämpfe geht, ein relativ ausgeglichenes Geschlechterverhältnis gibt.

Als Bindungsphänomen zu verstehen
„Wir haben hier am Tag durchschnittlich sechs Reitgruppen mit jeweils sechs Kindern", rechnet Michelle hoch. „Insgesamt sind darunter fünf Jungs, also die absolute Minderheit." Wie viele Menschen in der Region Pferdesport betreiben, kann Jasmine Fernandes vom Landesverband Pferdesport Berlin-Brandenburg (LPBB) nicht beantworten, da längst nicht alle, die ihre Freizeit mit Pferden verbringen, auch Vereinsmitglieder sind. Die LPBB-Vereine verzeichnen seit dem Jahr 2000 relativ konstant fast 17.000 Mitglieder. Davon waren 2020 über 14.000 weiblich und rund 2.700 männlich, etwa 16 Prozent. Die Zahl der männlichen Mitglieder nahm in den vergangenen 30 Jahren immer mehr ab. 1990 gab es noch über 4.000 reitende Jungs und Männer, rund 34 Prozent bei damals insgesamt knapp 12.000 Mitgliedern. „Mädchen drängen in Scharen auf Reithöfe und in Reitvereine. Bei den jugendlichen Vereinsmitgliedern überwiegen schon die Mädchen, bei den Erwachsenen wird es bald ähnlich eine weibliche Dominanz geben. Reiten wird zunehmend zum Frauensport. Dieses Phänomen scheint historisch einmalig zu sein", liest man in der empirischen Untersuchung „Warum Mädchen und Frauen reiten" von Helga Adolph und Harald A. Euler. Sie wurde in den 1990er-Jahren im Fachbereich Psychologie der Gesamthochschule Kassel angefertigt. Dafür hatte man zumeist jugendliche Reiterinnen befragt, am häufigsten Mädchen im Pubertätsalter. Prognostiziert wurde, dass die Faszination von Pferden für Mädchen und Frauen als Bindungsphänomen zu verstehen ist, dass sie ihr Verhältnis zum Pferd als lebenslange Perspektive sehen und das Tier als unersetzbar begreifen. Sie geben ihm einen hohen Rang in ihrer Bindungshierarchie, bekommen durch das Pferd das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und erleben es als existentiell wichtigen potentiellen Tröster. Räumliche und psychische Nähe zum Pferd ist sehr erwünscht.
Die Untersuchungsergebnisse bestätigten die zentrale These der Faszination als Bindungsphänomen. Die Befragten idealisierten ihr Pferd. Diese Beziehung „wird als einzigartig und gegenseitig erlebt. In der Bindungshierarchie nimmt das Pferd den ersten Platz ein, noch vor der Mutter." Die Befragten fühlten sich „glücklich, unternehmungslustig und angstfrei, sicher und mit dem Pferd innig verbunden." Auf eine einsame Insel würden sie das Tier häufiger mitnehmen als die Mutter oder beste Freundin. „Wenn es eine Wahl gäbe, würden die meisten Mädchen nah beim Pferd wohnen wollen, nicht wenige sogar am liebsten direkt im Stall. In der Bewertung der Reiterinnen haben Pferde und -haltung fast nur Vorteile." Als größten gaben sie Naturkenntnis und -verständnis an. Unter den zwölf beliebtesten Freizeitbeschäftigungen fanden sich zehn, die mit Tieren zu tun haben, neun davon mit Pferden. Was sich mit den Beobachtungen von Michelle Hoffmann im Jahr 2021 deckt, ist, dass der reitsportliche Erfolg für Mädchen keine annähernd so große Rolle spielt wie für Jungs, schon gar nicht großes Interesse am Wettkampf: „Für Mädchen und Frauen ist Reiten hauptsächlich eine Freizeitbeschäftigung, die mit einem relativ authentischen Naturerlebnis verbunden ist", heißt es in der Kasseler Untersuchung. „Das Pferd wird zwar als Reittier, vor allem zum Geländereiten heiß geliebt, aber weniger als Sportgerät, das nach Belieben jederzeit abgelegt wird, wenn es nicht mehr so richtig funktioniert, also verletzt oder krank ist. Das Pferd wird eher um seiner selbst willen geliebt."
Pferd ermöglicht realen Kontakt
Die Faszination für Mädchen und junge Frauen ist keine erotisch motivierte Schwärmerei, so die Untersuchung. Andere Mädchen im gleichen Alter mit weniger naturbezogenen Interessen haben Bindungsobjekte wie Popstars, Schauspieler, einen Lehrer oder einen Jungen aus der Parallelklasse. Diese oft belächelten Schwärmereien werden von den Mädchen durchaus als ernsthafte Liebe empfunden, und sie projizieren alle idealen Eigenschaften in ihren Traumpartner. Die fehlende räumliche Nähe kompensieren sie durch psychische, und Bilder stehen für reale Personen. Auf der Ebene des Bindungssystems sei dies vergleichbar mit der Liebe zu Pferden. „Auch wenn es den Anschein hat, liegen diesen Schwärmereien ebenso wenig sexuelle Motive zugrunde wie der Pferdeliebe junger Mädchen. Gerade der entfernte Star kann als Projektionsfläche für eigene Bedürfnisse dienen, ohne seinerseits Ansprüche zu stellen, von denen die Mädchen sich bedroht fühlen könnten. Das Pferd hat allerdings gegenüber anderen Übergangsobjekten den Vorteil, in vielfältiger Weise realen Kontakt zu ermöglichen."

Wo der männliche Nachwuchs bleibt, fragte sich die Deutsche Reiterliche Vereinigung und beauftragte 1998 die Kasseler Forscher, zu untersuchen, wie Jungs für das Reiten zu gewinnen und beim Reitsport zu halten sind. Dazu wurden Kinder nach ihren Wunschobjekten befragt. Bei den jungen Mädchen war das Pferd der absolute Wunschfavorit. Befragt nach dem Umgang mit den Tieren waren für sie neben Springen und Ausritt auch Schmusen und Füttern ganz wichtig. Bei den Jungs hingegen rangierte das Pferd weit hinter Wunschobjekten wie Auto, Motorrad, Insel, Schloss, Goldmine und Flugzeug. „Diese Lust auf schnelle, selbstbestimmte Fortbewegung hat einen sehr tiefen und sehr alten psychologischen Grund, und diese Lust wird um so dominanter, je näher die Pubertät rückt. Bei den 15- bis 17jährigen Jungen hat das Pferd als Wunschobjekt keine Bedeutung mehr und kommt in die uninteressante Abteilung ‚Tierkram‘ zusammen mit Zoo, Farm und Hund. Was auch immer die Kultur an Fortbewegungsmöglichkeiten anbietet, wird von Jungs und Männern aufgegriffen, und sie bevorzugen das jeweils beste und schnellste", so Harald A. Euler. Hinzu kommt die entscheidende Sache mit der Peergroup. Was machen die Kameraden, also die soziale Gruppe, der man sich zugehörig fühlt? „Im Umgang mit gleichgeschlechtlichen und gleichaltrigen Kindern bilden sich Geschlechter-stereotype ohne direkte Zutat von Eltern und Medien heraus." Jungen mögen auf Reiterhöfen also vor allem, dass es dort andere Jungs für gemeinsame Reitaktivitäten gibt. Zusammen „wollen sie am liebsten auf einem eigenen Pferd reiten lernen, und dann nach Wildwestmanier über Stock und Stein reiten. Geregelte Programme finden sie gut, aber auf das Pferd aufpassen zu müssen, ist ihnen wohl eher lästige Pflicht. Keine sonderliche Neigung haben sie für Voltigieren und Pferdepflege." Was sie offen ablehnen, ist die Anwesenheit von Mädchen. Wäre die Lösung also eine reine Jungsgruppe auf dem Reiterhof? Das kann sich Michelle Hoffmann gut vorstellen, denn „die wenigstens Jungs finden es spannend, ein Pferd schön zu machen. Wenn man sie erreichen möchte, sollte man den sportlichen Charakter des Sich-Messens mit bedenken und anbieten."