Jürgen Ehle, seit 40 Jahren Gitarrist der Band Pankow, tritt heute auch in der eigenen Stube auf. Der gebürtige Pekinger spielte schon mit Gisela May und Veronika Fischer.
In Peking geboren, in Kairo die Schule besucht, der Vater als Ingenieurökonom weltweit unterwegs: Einen aufregenderen Start ins Leben hätte es für Jürgen Ehle wohl kaum geben können. Als er zehnjährig ins damalige Ostberlin kommt, scheint ein normaler Werdegang nicht unbedingt vorgezeichnet. Aber was ist schon normal? Jürgen Ehle wird weder Ökonom noch Handelsreisender, sondern Rockstar und eins der prägendsten Gesichter dieses Genres in Deutschland.
Bis heute spielt er nicht nur in der Berliner Kultband Pankow Gitarre. Der vielseitige Barde beherrscht unter anderem auch Mandoline, Banjo und Bass. Ehle gilt in der Szene als brillanter Studiomusiker, spielte einst Songs für Frank Schöbel und die international gefeierte Diseuse Gisela May ein. Bis heute schreibt er Filmmusik, komponiert und textet.
„Im Sommer treten wir im Garten auf"
Seit zehn Jahren lebt Jürgen Ehle mit Partnerin und Musikerin Scarlett Seeboldt im kleinen brandenburgischen Weiler Liebenhof bei Buckow. Auf der Bühne bilden beide das erfolgreiche Duo Scarlett O‘, das unter anderem in der eigenen Stube auftritt. Zuvor wohnte Ehle – na, wo schon – in Berlin-Pankow. „Ich hatte vorm Umzug durchaus Bedenken. Wie sich herausstellte, war das aber völlig grundlos", lächelt der Gitarrist beim Interview in Liebenhof. Zu sehen ist der Künstler in zehn unterschiedlichen Programmen, unter anderem mit einem Gisela-May-Repertoire und in der Andreas-Dresen-Band (mit Regisseur Andreas Dresen).
Wer glaubt, Jürgen Ehle und seine Scarlett führen ein entrücktes Landleben, der irrt. „Im Gegenteil, wir bitten unser Publikum zum Hausschuh-Konzert in die eigene Stube – zumindest außerhalb von Corona-Zeiten. Im Sommer treten wir im Garten auf. Dort hat Scarlett eine Freilichtbühne aus dem Boden gestampft. Ich löte kleine Dinge, Scarlett bohrt große Bretter", schmunzelt der Ex-Gitarrist der Veronika-Fischer-Band. Bei diesen Konzerten Small Talk zu halten und Wein auszuschenken, ist nicht unbedingt Ehles Ding. „Ich bin eher der Schneckenhaus-Typ. Dann plötzlich 50 Leute in der eigenen Stube … Aber es ist wunderbar, auch weil immer Kollegen und Freunde kommen."
Darunter sind Stars wie Uschi Brüning, die früher mit Manfred Krug sang und auch in Liebenhof auftritt. „Zu 60 Prozent spielen wir, zu 40 Prozent Gastmusiker", sagt Scarlett Seeboldt, einst mit der Folkgruppe Wacholder unterwegs. Im Liebenhofer Garten sei Platz für 100 Gäste, im Haus für 50 Leute. „Wir schätzen die kuschelige Atmosphäre, weil der Draht zum Publikum viel kürzer ist. Reaktionen erleben wir unmittelbarer. Auf großen Bühnen läuft es anonymer", erklärt Jürgen Ehle.
Lampenfieber haben beide nach wie vor, ist im Gespräch zu erfahren. Aber nur vor den Auftritten. „Egal, ob vor 100 oder vor 1.000 Besuchern, wir sind vorher aufgeregt. Das ist besonders bei neuen Programmen der Fall. Wir üben natürlich immer noch auf unseren Instrumenten, ich auf dem Akkordeon", so die gebürtige Strausbergerin Scarlett Seeboldt, die übrigens wirklich so heißt und keinen Künstlernamen trägt.
Mit Pankow ist Jürgen Ehle immer noch alle zwei bis drei Jahre unterwegs. Einerseits bliebe so Raum für andere Projekte, andererseits sei es zu wenig Zeit für ein echtes Bandleben. „Irgendwo ist es schade, da die Kontinuität fehlt, auch der Spirit, um in eine Phase zu kommen, neue Stücke zu komponieren", bedauert der Wahl-Brandenburger. Allerdings schöpfe die Band aus einem riesigen Song-Fundus. „Wir können unser Programm immer umstellen oder Lieder auch unterschiedlich interpretieren."
Dass er es als Künstler mal so weit bringt, hätte er den eigenen Worten nach nicht gedacht: „Ich hätte mir nie zugetraut, Profimusiker zu werden." Mit elf griff Ehle erstmals zur Gitarre. Mit 14 gründete er seine erste Combo. Zu den Vorbildern gehörten die Beatles und die Rolling Stones. Die in der DDR unerlässliche Einstufung, um auftreten zu dürfen, erhält er sofort. Die Juroren erkennen das Talent und schicken ihn zur Musikschule. Wenige Jahre später ist er schon ein gefragter Studiomusiker, unter anderem für Monika Hauff und Klaus-Dieter Henkler.
Haben ihr Hobby zum Beruf gemacht
Dabei hätte Jürgen Ehles Lebensweg auch anders verlaufen können. Beispielsweise während seiner Zeit als Leistungssportler. „Doch während einer verletzungsbedingten Pause bekam ich Abstand dazu, dass ich vom Sieben-Meter-Turm, im Training sogar vom Zehn-Meter-Turm, sprang. Ich fragte mich: ‚Oh Gott, was mache ich da eigentlich‘ und hörte auf." Um seine ungewöhnliche Kindheit im Ausland und den „Schock bei der Rückkehr nach Ostberlin" geht es auch im neuen Buch „Das wirklich allerletzte Ostrockbuch" (Eulenspiegelverlag). Es enthält ein Gespräch mit Ehle sowie Interviews unter anderem mit City und Dirk Michaelis.
Später hatte der Gitarrist schon seinen Soziologiestudium-Platz sicher, als die damals angesagte Gruppe Jahrgang 49 anfragte, ob er einsteigen will. Es war der Start einer atemberaubenden Musikerkarriere. Kurz darauf spielte Jürgen Ehle in der Band von Veronika Fischer. Als die Sängerin die DDR Richtung Westberlin verließ – unter anderem weil sie mit der Beteiligung an Platten-Umsätzen unzufrieden war – wurde aus der Fischer-Band Pankow.
Auch wenn Jürgen Ehle und Scarlett Seeboldt ihr Hobby einst zum Beruf machten, bleibt heute auch Zeit für andere Dinge, unter anderem für die herrliche Natur der Märkischen Schweiz ringsum. „Ich ziehe schon mal im Schermützelsee ein paar Bahnen und Jürgen radelt gern. Letztens ist er zum See zehn Kilometer hin und wieder zurück gewandert", so Scarlett Seeboldt. Das Landleben des Paars startet morgens immer mit einem Kaffee. Danach gibt es Müsli, meist mit Rosinen, Haferflocken und Leinsamen. Ehle: „Wir sind Vegetarier, eigentlich fast Veganer. Aber ein Ei vom Bauer um die Ecke gibt’s trotzdem. Die Hühner kennen wir ja persönlich", lacht der Musiker.
Zum Schluss übernimmt noch mal Scarlett Seeboldt das Zepter und zeigt, was sie aus dem 4.000-Quadratmeter-Grundstück mit altem Siedlerhaus machte. Es sei eins von nur noch zwölf bewohnten Gebäuden im Ort, mitten in traumhafter Natur und eine Autostunde von Berlin entfernt. Alles sei nach ökologischen Maßstäben gebaut, unter anderem mit Lehm und Pflanzenkläranlage. Zuletzt wohnte ihr Onkel im Haus. Dessen Mutter wurde hier 96: „Wenn das kein gutes Omen ist – ein Haus zum richtig alt werden", sagt die herzliche Handwerkerin, die sich nicht nur bei ihrer Kunst, sondern auch in Sachen Hausbau in die Karten gucken lässt.