Der Angriff der Russischen Föderation auf das Nachbarland Ukraine ist die größte Bodenoffensive in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. So etwas hat eigentlich keiner mehr für möglich gehalten. Friedensforscher Stefan Kroll über diplomatische Versuche, Völkerrechtsbrüche und Friedensdividenden.
Herr Kroll, was kann Friedensforschung in der Zeit eines Krieges, den sich eigentlich keiner so recht vorstellen konnte, jetzt leisten?
Die Friedensforschung ist sehr gefragt in diesen Zeiten, weil sie in der Lage ist, das Geschehen einzuordnen und mögliche Entwicklungsszenarien zu zeichnen – ohne dabei in die Zukunft blicken zu können. Das betrifft zum einen das Feld des Designs und der Wirkung von Sanktionen, die Risiken, die mit einer weitergehenden Intervention westlicher Staaten verbunden sein könnte, aber auch dem Potenzial, das in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine und einer möglichen Vermittlung dritter Parteien liegt. Auch die Dimension des historischen Wissens, über das die Friedensforschung verfügt, ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn jede historische Situation für sich neu ist, kann das Wissen Anhaltspunkte dafür geben, welches erste Schritte hin zu einer friedlichen Koexistenz sein könnten, die auf diesen massiven Vertrauensbruch des Krieges folgen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine wird erhebliche Folgen für die europäische Sicherheitspolitik und die internationale Ordnung haben. Warum wurde die Bedrohung seitens der Politik im Westen nicht früh genug wahrgenommen?
Die internationale Gemeinschaft hat wahrgenommen, dass eine Bedrohung von Russland ausgeht. In der Abwägung möglicher Szenarien war die Invasion eine, die für weniger wahrscheinlich gehalten wurde. Ganz einfach auch aus dem Grund, dass wenige Entwicklungen vorstellbar sind, die für Russland keine langfristigen Nachteile bedeuten. Viel früher hätten die Akteure aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine solche Mobilisierung militärischer Ressourcen im Grunde nicht einfach gesichtswahrend hätte zurückgenommen werden können, ohne dass damit etwas erreicht wurde.
Dennoch halte ich es nicht für einen grundsätzlichen Fehler westlicher Außenpolitik, dass sie in der Phase im Januar und Februar 2022, als die Gefahr immer greifbarer wurde, vor allem diplomatische Versuche der Deeskalation unternommen hat. Dass diese nicht erfolgreich waren liegt nicht an denen, die sie unternommen haben, sondern am Aggressor und das ist Putins Russland.
Hat man die Situation nach der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbas 2014 falsch eingeschätzt?
Ich würde die Kritik nicht nur an diesem Ereignis festmachen, auch wenn es besonders wichtig ist. Die internationale Gemeinschaft hat es insgesamt in den vergangenen zwei Jahrzehnten versäumt, auf Völkerrechtsbrüche und Relativierungen des völkerrechtlichen Gewaltverbots mit Vehemenz zu reagieren. Die nun gewählten Sanktionen sind tiefgreifend, und sie stehen für eine Einigkeit der internationalen Gemeinschaft auch über Systemgrenzen hinweg. Eine solche Antwort wäre auch mit Blick auf die Annexion der Krim wünschenswert gewesen.
Eine Antwort darauf ist jetzt das 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr. Gilt also die alte Losung noch aus DDR-Zeiten: „Der Friede muss bewaffnet sein"?
Um den Frieden zu sichern oder auch wiederherzustellen, können militärische Interventionen notwendig sein. Es ist insofern folgerichtig, dass die Bundeswehr auch entsprechend ausgerüstet und vorbereitet sein muss. Zugleich muss aber auch der Auftrag der Bundeswehr klar sein, in der Landesverteidigung, in Auslandseinsätzen und in Bündnissen. Darüber hinaus ist es wichtig, die Friedenssicherung weiterhin als eine Aufgabe zu sehen, die neben militärischen auch zivile Komponenten umfasst, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Schließlich ist Frieden nicht nur die Abwesenheit von Gewalt, die sich mit Waffen vielleicht erreichen lässt, sondern auch das Vorhandensein von Rechten, von Prozeduren zur Aufarbeitung von Unrecht und zur Förderung von Versöhnung, die nicht militärisch zu erreichen sind.
Bedeuten die Bundeswehrmilliarden das Ende dessen, was man sich nach dem Kalten Krieg als „Friedensdividende" dauerhaft erhofft hatte?
Die Ausgaben für die Landesverteidigung werden steigen, insbesondere durch die zukünftige Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels. Hier geht es auch um Nachholeffekte, die mit dem Begriff der Dividende rückblickend vermutlich schlecht beschrieben sind. Wir erkennen jetzt die Notwendigkeit, dass diese Mittel schon früher für diesen Zweck hätten verwendet werden sollen. Langfristig muss es darum gehen, eine Sicherheitspolitik zu entwickeln, die zugleich auch Friedenspolitik ist. Neben einem Element der „Abschreckung" – bei dem häufig noch unklar bleibt, was eigentlich genau gemeint ist – müssen auch nicht-militärische Optionen immer mitgedacht und ebenso priorisiert werden.
Wird es erneut zu einem Wettrüsten zwischen Russland und der Nato kommen?
Ich bin kein Rüstungsexperte, daher wäre dies für mich reine Spekulation.
Schon vor dem Krieg hieß es, Energiepolitik ist Friedenspolitik. Bestätigt sich das jetzt? Frieden?
Bereits das Thema der Unabhängigkeit von russischen Energieressourcen verdeutlicht, dass die Transformation hin zu erneuerbaren Energien auch eine sicherheitspolitische Dimension hat. Ähnlich ist es im Falle von Klimaveränderungen, die ebenfalls Sicherheitsrisiken verursachen können. Es geht hier also gar nicht so sehr um eine mögliche Friedensdividende, sondern vielmehr um die grundsätzlichen gesellschaftlichen Transformationen, die notwendig sind, um diesen Krisen zu begegnen.