Im dritten Jahr wird sich der Krieg in der Ukraine erneut verändern, sagt Sicherheitsexperte Christian Mölling. Ein Patt aber gebe es nicht – beide Seiten versuchen weiter Vorteile zu erringen. Außerdem müsse Deutschland aus seiner Komfortzone herauskommen.
Herr Mölling, auf uns, aber vor allem auf die Ukraine kommt das dritte Jahr Krieg zu. Was erwartet uns nach Ihren Beobachtungen?
Es wird anders als die beiden vorangehenden Jahre. Man muss dies betonen, weil es Erwartungen gibt, dass es so weitergeht wie derzeit. Das stimmt natürlich nicht, das haben wir in den vergangenen Monaten und Jahren ja auch schon gesehen. Ständig hat sich der Krieg eben nicht so verhalten, wie wir geahnt, gehofft, es uns gewünscht hätten. Wenn ich nach vorne blicke, werden die Ukrainer 2024 nicht in der Lage sein, eine große Offensive zu starten. Sie brauchen mehr Soldaten, Training und mehr Material dafür.
Die Begriffe Stellungskrieg und Patt wurden in den vergangenen Monaten häufig gebraucht. Zu Recht?
Dieser Krieg ist derzeit kein Stellungskrieg, es gibt kein Patt. Beide Seiten versuchen weiter, Vorteile zu gewinnen. Es kann sein, dass sich die Ukraine taktisch aus einigen Gebieten in bessere Positionen zurückziehen muss, um Munition zu sparen und Soldaten zu retten. So können sich also die Frontverläufe in diesem Jahr trotzdem ändern, ungeachtet des Einsatzes von Drohnen und Langreichweiten-Angriffen durch Bomben. Was an dem Begriff Patt besonders falsch ist: Es gilt als Endsituation beim Schach, die so ist, wie sie ist und sich nicht mehr ändert. Dem widerspreche ich. Die jetzige Situation ist wie ein Schnappschuss. Beide Seiten haben weiterhin ein Interesse daran, die Situation zu ihren Gunsten zu verändern. Wir sehen das in der erneuten russischen Offensive um Avdiivka. Daher sehe ich derzeit noch nicht, dass Verhandlungen anstehen. Außerdem: Zum Verhandeln gehören immer mindestens zwei Parteien, die bereit dazu sind. Verhandlungen sind nicht automatisch erfolgreich, vor allem, wenn kein Kompromiss in Sicht ist. Daher ist nicht zu erwarten, dass es in nächster Zeit zu Verhandlungen kommt, geschweige denn zu einer Lösung, die in einem dritten Schritt auch noch stabil wäre. Wir haben erfahren müssen, dass Russland sich an Abmachungen hält, solange es ihm einen Vorteil bringt. Völkerrechtliche Verträge aber sind derzeit das Papier nicht wert, wenn Russland sie unterschrieben hat. Denn der Grund, warum die Ukraine in der jetzigen Situation ist, liegt genau darin, dass Russland sich nicht an Verträge hält.
Deutschland ist zweitgrößter Unterstützer der Ukraine, nach den USA. Trotzdem liefert es nicht immer das, was gebraucht wird. Der Ruf nach Taurus-Marschflugkörpern ist laut. Liefert Deutschland sie nicht, weil sich die Regierung einen strategischen Vorteil gegenüber Russland vorbehalten will?
Ich glaube, das ist unwahrscheinlich. Frankreich und Großbritannien liefern ja ähnliche Waffen in die Ukraine, Storm Shadow und SCALP-Marschflugkörper. Ja, Taurus ist eine etwas jüngere Waffe, aber keine Wunderwaffe. Russland sucht und findet auch Möglichkeiten, diese Waffen abzufangen und zu stören. Die einzige plausible Erklärung, die derzeit für uns bleibt, ist, dass das Kanzleramt eine Eskalation auf russischer Seite befürchtet. Ob diese Analyse stimmt oder nicht, ist eine andere Frage. Darüber schweigt das Kanzleramt. Eskalation bedeutet, dass ich Möglichkeiten schaffe, die der Gegner nach meinem Wissen nicht kontern kann. Das gehört zum Wesen des Krieges, dass Kriegsparteien sich Vorteile gegeneinander verschaffen wollen. Aber wenn wir genau hinschauen, nutzt Russland bereits jetzt alle Vorteile, die es in diesem Krieg ziehen kann. Deshalb: Es gibt Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in diesen Strukturen denkt, aber man muss sich fragen, ob dies auch etwas mit der Realität zu tun hat. Vielleicht gibt es andere Gründe, die wir nicht kennen. Egal, ob oder wann die Bundesregierung Taurus liefern würde, es wäre zu spät. Aber dies zieht sich durch alle Hilfslieferungen Deutschlands: Zuerst wird lange erklärt, warum man etwas nicht liefern kann, bevor man es doch liefert. Das haben wir auch bei den Leopard-Panzern gesehen.
Europa strengt sich erkennbar an, die Ukraine zu unterstützen: durch ein 50-Milliarden-Hilfspaket, Munitionskoalitionen, bilaterale Rüstungsverträge mit der Ukraine. Bereitet sich Europa darauf vor, dass die USA ihre Ukraine-Hilfen einstellen?
Wenn es um eine mögliche Präsidentschaft Trumps geht, ist man viel zu spät damit eingestiegen. Ich denke, die EU blickt schon auf diese Option und ich gehe davon aus, dass Brüssel Pläne für diesen Fall in der Schublade hat. Das gilt auch für die Bundesregierung. Politik ist immer reaktiv, das heißt erst mit dem Schockereignis habe ich die Begründung, bestimmte Dinge zu tun. Wenn wir uns zurückerinnern, die letzten Monate waren durch die Haushaltskrise geprägt. In der Koalition jetzt zu sagen, wir öffnen den Geldbeutel für die Ukraine, ist nicht möglich. Vor allem, weil die Koalition in den vergangenen Monaten so stark innenpolitisch unter Druck geraten ist. Innenpolitik und Außenpolitik hängen immer zusammen. Trump auf der anderen Seite ist nicht per se ein Feind der Nato, sein Ziel ist nicht ihre Zerstörung. In seiner Amtszeit als Präsident ging es darum, dass die Nato den USA aus seiner Sicht Geld schuldet, weil sie das Zwei-Prozent-Ziel nicht einhält. Nun kann er für sich in Anspruch nehmen, dass die Nato-Staaten tatsächlich mehr Geld als vorher für ihre Verteidigung ausgeben.
Aber die Unterschiede bestehen weiter.
Das Ungleichgewicht besteht immer noch: Nato-Staaten, die näher an Russland liegen, haben schon früh mehr Geld für ihre Verteidigung ausgegeben als Staaten weiter westlich. Im Westen ist das Bedrohungspotenzial einfach geringer. Wir sehen dies in Großbritannien, das seit Jahren sein Militär immer weiter abgebaut hat. Heute, im Wahlkampf, ätzt Trump weiter, aber bedient eine innenpolitische Agenda. Die Nato hat gelernt, man kann ihm einen Deal anbieten, bei dem er gut aussehen kann. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat dies in der Präsidentschaft Trumps außerordentlich gut gemanagt. Die Situation ist auch nicht vergleichbar: Wir haben den Krieg vor unserer Haustür und eine mögliche zweite Amtszeit Trumps, in der die Regierung professioneller und schneller sein wird. Hinzukommt, Trump kann nicht so leicht aus der Nato austreten, das hat der US-Kongress schon im Vorfeld durch ein Gesetz sichergestellt. Aber er ist der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, der seinen Einsatzbefehl mal verzögern oder gar nicht geben kann. Dadurch würde ein wesentlicher Teil des Nato-Abschreckungspotenzials wegfallen, den Frankreich oder Großbritannien nicht so einfach ersetzen können.
Kann Europa überhaupt die Ukraine ohne Hilfe der USA längere Zeit unterstützen?
Das ist eine Frage der Zeitachse. Jetzt gerade nicht. Es entsteht eine Zeit, die die Ukraine überbrücken muss. Schon jetzt ist die Hilfe aus den USA unter Joe Biden massiv zurückgefahren. Geld ist dabei ein Mittel der Unterstützung, aber Waffensysteme sind ebenfalls wichtig. Die USA besitzen diese, geben sie aber teilweise nicht heraus, weil sie diese selbst für ihre Verteidigung benötigen. Aber selbst die USA sind nicht in der Lage, alleine die Mengen an Artilleriemunition zu produzieren, die die Ukraine benötigt. Ohne Artillerie aber entstehen Durchbrüche Russlands, die wir schon jetzt sehen.
Hilft der Drohnenkrieg, diese Durststrecke zu überbrücken?
Drohnen haben eine besondere Evolution in den vergangenen Jahren erfahren. Die Ukraine produziert sie in großer Stückzahl, aber sie können Artilleriemunition nicht ersetzen. Die Traglast für Sprengstoff und die Reichweiten für den direkten Einsatz auf dem Schlachtfeld sind zu gering. Krieg besteht daraus, mehr Optionen als der Gegner zu haben oder sie zu produzieren, um ihn zu Fehlern und Dilemmata zu zwingen. Ohne Artilleriemunition verliert die Ukraine Optionen im Kampf.
In Ihrem Buch „Fragile Sicherheit“ skizzieren Sie Deutschlands künftige Rolle in einem Europa, das unsicherer wird. Wie sieht eine mögliche „gute Ordnung“, wie Sie schreiben, aus?
Die Konfliktordnung funktioniert ohne oder sogar gegen Russland. Wir sind mittendrin in einer Neuordnung einer Welt in allen Bereichen, und sie wird konfliktreicher, spannungsgeladener sein als die Welt, in der wir aufgewachsen sind. Es geht um wirtschaftliche Interessen, aber auch um die Art und Weise, wie wir leben. In der innenpolitischen, gesellschaftlichen Debatte haben wir in den letzten Wochen einen Schritt nach vorne getan: eine Gesellschaft, die von sich aus auf die Straße geht und für diese „gute Ordnung“ demonstriert, zeigt, dass sie versteht, was unsere Demokratie wert ist. Ihr ist klar, dass die Freiheit, die wir besitzen, nicht mehr existiert, wenn jene Kräfte an die Macht kommen. Aber man kann trotzdem die aktuelle Bundesregierung schlecht finden. In einer Demokratie geht beides. Das ist ein positives Signal. Aber es muss einen erstaunen, dass die politischen Parteien in Teilen erst einmal gar nicht damit umzugehen wussten. Wenn Friedrich Merz auf eine dieser Demonstrationen gegangen wäre, würden die Debatten heute anders verlaufen. Aber zu hoffen, wir kehren in die beschauliche, wohlstandsverwöhnte Bundesrepublik der 80er Jahre zurück, ist eine Illusion.
Sie beschreiben, Deutschland müsse aus seiner Komfortzone herauskommen. Was bedeutet das?
Zum einen, Entscheidungen, die wir treffen, werden unmittelbare Konsequenzen haben. Zum anderen, und da hat Robert Habeck Klartext geredet, werden wir nach diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine ärmer sein. Diese Verkündigung ähnelt der Oskar Lafontaines, der sagte, die Wiedervereinigung würde extrem teuer werden. Das wollte auch niemand hören. Diese Wahrheit umzudrehen und zu sagen, wie können wir trotzdem gemeinschaftlich, bei allen Unterschieden, unsere Errungenschaften von Freiheit und Demokratie erhalten, ist die Herausforderung. Das gelingt uns, indem wir beispielsweise in unsere Zukunft investieren. Dazu gehört aber auch das, was der Verteidigungsminister provozierend mit dem Wort „Kriegsfähigkeit“ in den Raum gestellt hat. Es geht nicht darum, dass jeder ein Gewehr in die Hand nehmen muss. Es gibt heute mehr Möglichkeiten, uns anzugreifen. Wir sehen dies an radikalen politischen Kräften im Land, es geht um Cyberattacken und mehr, es geht um die Auswirkungen des Klimawandels, die uns fordern. Wir müssen die Bereitschaft aufbringen, in einer kritischen Phase, vielleicht der kritischsten Phase der Bundesrepublik seit 70 Jahren, diese Gesellschaft zusammenzuhalten und uns für diese Gesellschaft zu engagieren.