Der Krieg in der Ukraine erschüttert Europa, der Nahostkonflikt steht weiter am Rand einer Eskalation zu einem Flächenbrand. Es geht um Einflusssphären und Machtverteilungen, weit über die Regionen hinaus.
Die Lage in der Ukraine ist eindeutig. Zumindest insofern, als klar ist: Russland ist am 24. Februar 2022 in das Nachbarland einmarschiert, hat Teile in Schutt und Asche gebombt, besetzt, annektiert, und ist weiter bemüht, die Ukraine militärisch zu besiegen und dem eigenen Einflussbereich einzuverleiben. Oder in einer vom orthodoxen Patriarchen Kyrill befeuerten Lesart: Die Einheit der „Russischen Welt“ wiederherzustellen. Letztlich ist der Überfall Russlands Teil eines Feldzuges, den Machthaber Putin gegen die „westliche Welt“ führt.

Der Nahost-Konflikt ist weitaus komplexer, auch wenn die Lage am und nach dem 7. Oktober 2023 zunächst ebenfalls eindeutig ist: Die Hamas hat in einem großangelegten Terrorangriff ein fürchterliches Massaker angerichtet, Israel darauf die Vernichtung der Hamas zum obersten Kriegsziel erklärt, häufig sogar mit größerer Priorität als die Befreiung der Geiseln, die sich nach wie vor in Händen der Hamas befinden.
Dass dahinter der große Konflikt zwischen Israel und dem Iran steht, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung Israels ist, ist hinlänglich klar. Ebenso, dass wesentliche Akteure wie Hamas, Hisbollah, auch die Huthi (Jemen) sowie weitere kleinere Milizen in Syrien und im Irak, vom Iran als „Achse des Widerstands“ gegen Israel und die Präsenz der USA im Nahen Osten aufgebaut, ausgerüstet und finanziert werden.
Die Entwicklung ist höchst komplex, was schlaglichtartig deutlich wird, wenn man gleichzeitig die Rolle Irans gegenüber Russland und einen Blick auf die Türkei miteinbezieht. Iran versorgt die russische Armee mit Drohnen, die Ziele in der Ukraine angreifen. Gleichzeitig ist Iran nicht der einzige Verbündete der Hamas.
Das Fußball-WM-Austragungsland Katar habe öffentlich eingeräumt, monatlich 30 Millionen Dollar an die Hamas zu schicken, erklärte der Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler vom transatlantischen Thinktank Counter Extremism Project in einem ZDF-Interview. Und trotzdem – oder genau deshalb? – hat sich Katar schnell als möglicher Vermittler erwiesen, als es um die ersten Vereinbarungen zur Freilassung von Geiseln ging. Katar verfolgt schon lange eigene Ziele, und kann sich dabei auch aufgrund seines immensen Reichtums einen längeren Atem dabei erlauben.
Der türkische Präsident Erdogan hat sich nach kurzer anfänglicher Zurückhaltung mit extrem markigen Worten auf die Seite der Palästinenser und gegen Israel gestellt, den israelischen Regierungschef Netanjahu gar in die Nähe von Hitler gerückt. Der Wechsel und die Radikalität haben zunächst für Irritationen gesorgt. Beobachter und Analytiker vermuten dahinter die Absicht Erdogans, über Einfluss auf die Hamas auch auf die folgenden Entwicklungen einzuwirken, um damit die Bedeutung Irans zurückzudrängen.
Annäherungen im Nahen Osten vorbei
Dabei teilten (und teilen) Iran und Türkei ähnliche (geostrategische) Interessenlagen. Besonders deutlich geworden ist das vor etwas mehr als drei Jahren.
2020 hatte der damalige US-Präsident Trump einen „Jahrhundertplan“ vorgelegt, der zwar eine Zwei-Staaten-Lösung vorsah, aber mit Bedingungen für die Palästinenser, die zu scharfer Ablehnung führten, und das sowohl von der Türkei als auch vom Iran. Das türkische Außenministerium nannte den Plan eine „Totgeburt“, das iranische Außenministerium sprach von einem „Traumprojekt eines bankrotten Immobilienunternehmers“ und einem „Albtraum für die Region und die Welt“. Im Nachhinein lesen sich die Reaktionen fast schon so, als liege in diesem „Trump-Plan“ eine der Wurzeln, die mit zu den aktuellen Eskalationen beigetragen haben.
Gleichzeitig gab es aber Annäherungen Israels und von Teilen der arabischen Welt. Dass mit der Terroraktion der Hamas und den vorauszusehenden Gegenreaktionen Israels auch Normalisierungsbestrebungen wie etwa zwischen Israel und Saudi-Arabien zunichtegemacht werden sollten, darauf haben Experten schon früh hingewiesen. Entspannung zwischen beiden Staaten hätte die Machtverhältnisse in der Region verschoben.
Damit haben sich auch die „Abraham-Abkommen“ erledigt, die Normalisierungen der Verhältnisse zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein (2020) ermöglicht hatten. Nach Ägypten und Jordanien waren es die nächsten beiden Staaten der arabischen Welt, die Botschafter mit Israel austauschten. Später kamen auch Marokko und Sudan (2021) dazu.
Von manchen Experten waren die „Abraham Accords Declaration“ als der Versuch gewertet worden, neue Allianzen aufzubauen, die den Einfluss Irans in der Region eindämmen würden. Das Deutsche Orient-Institut hielt in einer Bewertung fest: „Die Abraham-Accords könnten im schlimmsten Fall zu einer weiteren Polarisierung in der Region beitragen, da sich in ihrem Rahmen Staaten annähern, die im regionalen Machtgefüge vor allem den Iran als ihren Widersacher sehen“.
Jeder verfolgt seine eigenen Interessen, das Ringen um die Vorherrschaft ist so etwas wie die einzige Konstante. Ein Beispiel für die Komplexität liefert Saudi-Arabien. Das hatte nicht nur versucht, die Beziehungen zu Israel sondern auch zum Iran zu verbessern. 2023 wurden erstmals seit Jahren wieder Botschafter ausgetauscht.
Der Einfluss der Türkei in der Großregion war zurückgegangen, nachdem Katar seinen Nachbarn auf der arabischen Halbinsel wieder die Hand gereicht hatte (2020). Die markigen Worte gegen Israel sind ein Versuch, wieder Einfluss zurückzugewinnen, nachdem sich die Türkei in den ersten Tagen als Vermittler anzubieten versuchte, was aber gescheitert ist. Die Türkei ist in den Konflikten in Syrien, Libyen und im Irak engagiert, aber weit entfernt von osmanischer Größe und Bedeutung.
Russlands Engagement im Nahen Osten bezeichnen Experten als eher mehrgleisig. Mit dem militärischen Engagement (2015) in Syrien ist Russland de facto Verbündeter des Iran. Gleichzeitig versuchte Putin aber auch, Beziehungen zu Saudi-Arabien zu pflegen. Putin war einer der ersten Staatsführer, die dem saudischen Kronprinzen bin Salman wieder öffentlich die Hand gaben, der nach der Ermordung des Journalisten Kashoggi politisch isoliert war.
Bereits Ende Oktober, also wenige Wochen nach dem Hamas-Terrorüberfall, waren sowohl der iranische Vize-Außenminister als auch eine Hamas-Delegation zu Gast in Moskau. Wenige Tage nach der Eskalation im Gaza-Streifen forderte der Chef der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, der sich, wie Beobachter meinen, gern als eine Art russischer Außenminister für die islamische Welt sieht, eine „Koalition der muslimischen Länder, um die Palästinenser zu schützen.
Putin soll aber weiter Kontakte zu Netanjahu halten. Das russische Außenministerium behauptet zudem, im November bei der Freilassung von Hamas-Geiseln mitgewirkt zu haben. Aber die Rolle und die Beziehungen sind ambivalent.
Das gilt auch im Verhältnis Russlands zum Iran. In einer Analyse für die Konrad-Adenauer-Stiftung verwiesen Thomas Kunze und Christopher Hess darauf, dass Russland und die USA partiell – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – ein Interesse daran haben, dass der Iran nicht allzu mächtig wird. Die Annäherung Irans und Saudi-Arabiens hatte Russland auch deshalb argwöhnisch beäugt, weil sie durch chinesische Vermittlung zustande kam.
Einflüsse sortieren sich neu
Russland kommt die neue Eskalation im Nahen Osten zwar zunächst entgegen. Die Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen lenkt zumindest partiell von der Ukraine ab und könnte ihr auch schaden, wenn westliche Unterstützung eher nach Israel umgelenkt wird, als in die Ukraine zu fließen. Nach Experteneinschätzung hat aber auch Russland umgekehrt seine militärische Präsenz in Syrien reduziert und Kräfte in die Ukraine verlagert.

Zugleich verstärkt Russland seine Aktivitäten auf dem afrikanischen Kontinent. Mali ist das vorläufig folgenreichste Beispiel dafür, wie Russland – zumeist über die Wagner-Gruppe – seinen Einfluss auch militärisch ausweitet. Dieses Engagement wiederum wurde mit dem Ukrainekrieg systematisch verstärkt, wobei es Russland nicht nur um militärischen und wirtschaftlichen Einfluss geht. Dass Russland auch Länder des afrikanischen Kontinents braucht, ist bei den Abstimmungen der UN-Generalversammlung deutlich geworden. Länder wie Mali und Eritrea stimmten gegen Resolutionen, die einen „gerechten und dauerhaften“ Frieden für die Ukraine gefordert haben.
Konflikte und Kriege haben längst globale Dimensionen, die einen Analytiker wie Carlo Masala von einer „Weltunordnung“ sprechen lassen. Wie sich Einflusssphären und Machtverhältnisse neu sortieren, darüber wird zwar nicht erst seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine diskutiert. Mit dem neu entflammten Nahostkonflikt ist aber eine zusätzliche Dynamik dazugekommen. Die Sorge vor weiteren (militärischen) Eskalationen wächst. Die Huthi-Attacken auf die internationale Schifffahrt und die (militärischen) Antworten im Zuge des Nahostkonflikts sind nur ein weiterer Brandherd.
Die Aussicht, dass in den USA womöglich Donald Trump die Wahl im November gewinnen könnte, wirkt nicht gerade beruhigend. Schon die Tatsache, dass in den USA derzeit der Wahlkampf politische Handlungsfähigkeit extrem einengt, wie am Beispiel der Ukrainehilfe zu sehen ist, macht die Suche nach Wegen, einen noch größeren Flächenbrand zu verhindern, alles andere als leichter.