Für die Ukraine heißt es im aktuellen Jahr, sich möglichst von US-Unterstützung unabhängig zu machen. Das wird schwierig genug. Ein mindestens ebenso großes Problem bleibt die Finanzierung einer gesellschaftlich gerechteren Mobilisierung – und Demobilisierung – von Soldaten.
Am 1. Februar ist ein wichtiger, ein gewichtiger Stein vom Herzen der Ukrainer gefallen, als die EU die langfristige finanzielle Unterstützung der Ukraine für vier Jahre in Höhe von 50 Milliarden Euro bewilligte. Im Dezember wurde dieses Hilfspaket noch von Ungarn blockiert. Während in den USA die Krise im Kongress weitergeht und der vorläufige Wegfall der US-Unterstützung vor allem militärisch schon länger an der Front spürbar ist, gibt der EU-Entschluss Kiew zumindest ein wenig Sicherheit, dass das Hinterland und die Wirtschaft in absehbarer Zeit nicht zusammenbrechen werden. Während alle Steuereinnahmen in der Ukraine ins Militär fließen, wird das gesamte zivile Budget des Landes mit ausländischen Hilfen und Krediten finanziert.
Fast zwei Jahre nach dem russischen Überfall ist die Ukraine gleich auf vielen Ebenen gefordert, sich für den ganz langen Verteidigungskrieg gegen das größte Land der Welt zu optimieren und strategisch aufzustellen. Zunächst einmal herrscht Konsens darüber, dass – nach dem militärisch nicht nach dem Wunsch Kiews verlaufenen Jahr 2023 – die Zeichen an der Front vorerst auf „aktive Defensive“ stehen. Gleichzeitig wird aber intern über die langfristige Kriegsstrategie diskutiert – und hier scheint Präsident Wolodymyr Selenskyj zunehmend der Meinung zu sein, dass der sehr beliebte Armee-Befehlshaber Walerij Saluschnyj zu wenig Ideen auf den Tisch bringt und bis jetzt keinen vernünftigen langfristigen Plan vorlegen kann. Die Umgebung Saluschnyjs beklagt sich wiederum, das Präsidentenbüro würde zu optimistisch auf die allgemeinen Kriegsaussichten schauen.
Politisches Risiko für Selenskyj
Die Entlassung Saluschnyjs, dem laut der Angaben des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts vom Dezember 88 Prozent der Ukrainer vertrauen, ist durchaus ein politisches Risiko für den Präsidenten. Dass sie inzwischen zumindest mittelfristig unausweichlich zu sein scheint, ist aber ein Zeichen dafür, dass die Gründe tiefer liegen als die vermutete persönliche Rivalität oder gegenseitige Eifersucht. Ob aber noch mit Saluschnyj oder einem anderen Befehlshaber: Während das Mobilisierungspotenzial Russlands mindestens dreimal so hoch wie das der Ukraine ist, wird eine gründliche Verbesserung des noch zu stark sowjetisch geprägten Mobilmachungssystems nun zu den zentralsten Angelegenheiten der Ukraine zählen. Es ist daher kaum überraschend, dass die Debatte über das neue Mobilmachungsgesetz die letzten Wochen und Monate in der Ukraine prägte. Das Gesetz soll die Mobilisierung digitaler und transparenter machen. Es muss auch die von Selenskyj öffentlich kritisierte Praxis unterbinden, dass Mitarbeiter der Einberufungsämter die Menschen gewaltsam mitnehmen. Die finale Verabschiedung des Gesetzes ist aber erst Ende Februar zu erwarten – und der aktuelle, nicht lückenlose Entwurf dürfte sich bis dahin noch stark ändern.
Doch es geht nicht nur um die Frage, wie die Menschen mobilisiert werden, sondern auch um die Anzahl der Mobilisierten. Zumal das offizielle Kiew für den Fall, dass sich die Frontlage nicht kritisch verschärft, eine freiwillige Demobilisierungsoption nach 36 Monaten geben möchte. Ob dies letztlich umsetzbar sein wird, ist unklar. Für die Soldaten, die seit Tag eins dienen, wäre dieser Zeitpunkt aber im Februar 2025 erreicht. Aktuell dienen bei den ukrainischen Streitkräften zusammengerechnet 880.000 Menschen. Bei allen Mobilisierungsproblemen ist es also bei Weitem noch nicht der Fall, dass der Ukraine absehbar die Soldaten ausgehen, die wichtigsten Übungsplätze scheinen auch nicht leer zu sein. Andererseits muss sich die Ukraine jedoch auf die Demobilisierung vorbereiten. Vor allem aber muss Kiew die Möglichkeit einer neuen großangelegten Mobilmachungswelle in Russland nach der sogenannten Präsidentschaftswahl im März im Hinterkopf behalten.
Auf seiner Jahrespressekonferenz im Dezember sprach Wolodymyr Selenskyj von der Anfrage des Generalstabs, 450.000 bis 500.000 neue Soldaten im Laufe von 2024 zu mobilisieren. Bei einem Mobilisierungspotenzial von weiteren sieben bis acht Millionen Menschen ist dies auf den ersten Blick kein allzu großes Problem, zumal die Ukraine noch immer nicht einmal die unausweichliche Senkung des minimalen Mobilisierungsalters von 27 auf 25 Jahre final verabschiedet hat. Die sehr teure Mobilmachung, die ausschließlich aus Steuereinnahmen finanziert werden muss, senkt aber damit gleichzeitig die Zahl der ukrainischen Steuerzahler. Und es wird sich absehbar nicht ändern, dass Norwegen das einzige Land bleibt, welches die Nutzung seiner finanziellen Ukraine-Hilfe für militärische Zwecke erlaubt.
Laut Selenskyj brauche die Ukraine umgerechnet 12,2 Milliarden Euro, um die vom Generalstab genannte Anzahl an Soldaten zu mobilisieren. Dieses Geld fehlt aktuell noch. Außerdem werde ein Soldat dem Präsidenten zufolge von etwa sechs Steuerzahlern versorgt. Die wirklichen Zahlen dürften also noch größer ausfallen. Jaroslaw Schelesnjak, Abgeordneter der Oppositionspartei „Stimme“ und Mitglied im Haushaltsausschuss, spricht von notwendigen 14 Milliarden. Hier muss eine schwierige Balance zwischen der militärischen Notwendigkeit und wirtschaftlichen Realität gefunden werden. Genau deswegen tauchen in der Öffentlichkeit manchmal überraschende und grotesk wirkende Ideen auf, etwa dass Menschen von der Mobilmachung ausgenommen sein sollten, die überdurchschnittlich viel Steuern zahlen. In der Gesellschaft kommt dies nicht gut an und wird sich so auch nicht durchsetzen. Die Regierung bleibt trotzdem in der Pflicht, nach Möglichkeiten zu suchen, um mehr Steuereinnahmen zu erzielen. Denn das größte Problem der Mobilmachung ist im Moment Geld und nicht nur, die nötige Anzahl Frauen und Männer zu finden.
Schwieriger Balanceakt
Geld wird aber nicht nur für die Mobilisierung, sondern auch für die eigene Rüstungsproduktion gebraucht, was in Zeiten der bröckelnden US-Unterstützung besonders wichtig ist. Gänzlich wird die Ukraine die ausländischen Waffen- und Munitionslieferungen nie alleine ausgleichen können. Erst gegen Jahresende dürfte etwa die Munitionsproduktion im Westen das Niveau erreichen, bei dem die Durchführung der neuen bedeutenden Offensivoperation wieder möglich sein wird. Die Offensive vom Sommer 2023 wäre ohne die Lieferungen aus den südkoreanischen Reserven wohl gar nicht machbar gewesen. Bis dahin ist die Ukraine gerade bei der Defensive sehr stark auf die Produktion von sogenannten First Person View-Drohnen angewiesen, die eigentlich ursprünglich als Drohnen für Hobbyracing entwickelt wurden und nur wenige Kilometer weit fliegen.
Die Ukrainer kamen aber in diesem Krieg erstmals auf die Idee, sie mit Sprengstoff auszustatten und auf die Positionen des Feindes fliegen zu lassen, was sich als passabler Teilersatz für die Artillerie zeigte. In diesem Jahr will die Ukraine eine Million solcher Drohnen produzieren, was Experten zufolge als realistisch eingeschätzt wird. Aber es gibt auch weitere Erfolge. So wurde die Produktion der eigenen Radhaubitze „Bohdana“, die sich zuerst im Sommer 2022 bei der Befreiung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer zeigte, bedeutend hochgefahren. Inzwischen werden sechs „Bohdanas“ pro Monat produziert – und insgesamt verfügt die Ukraine bereits über mehr als 30 solcher Radhaubitzen. Ebenfalls existieren gemeinsame Projekte mit den USA, bei denen westliche Flugabwehrraketen in die sowjetischen Flugabwehrsysteme integriert werden. All das wird enorme Bedeutung haben, wenn die Ukraine im sehr langen Krieg gegen Russland bestehen möchte – und das ist für Kiew alternativlos.
Denis Trubetskoy ist freier Journalist in Kiew.