Ringer Etienne Kinsinger hatte für den Sommer nur ein Ziel: Olympia. Nun muss er sich die Zeit mit Holzhacken vertreiben. Doch er macht das Beste aus der Situation.
Ein junger, athletisch gebauter Mann sitzt oberkörperfrei vorm flackernden Feuer des heimischen Holzofens. Die Bildunterschrift unter dem Foto lautet: „Im Wohnzimmer am Ofen sitzen, so kannst’ auch ohne Sauna schwitzen." Es könnte das Tagesmotto eines „Sauna-Abreißkalenders" sein, ist aber ein Post des saarländischen Spitzenringers Etienne Kinsinger auf Instagram. „Ich mache eigentlich sehr gerne Sauna. Vor einigen Jahren hatten wir an der Landessportschule eine gemeinsame Gruppe, die sich immer mittwochs traf. Das hat sich irgendwann verlaufen, bis vor gut sechs Monaten. Nun gehen wir mit ein paar Ringern immer sonntags, und nachdem mein erstes Foto mit einem lustigen Spruch gut ankam, habe ich das halt beibehalten."
Doch gemeinsam saunieren geht während der Corona-Tage halt nicht. Gemeinsam trainieren auch nicht. „Natürlich fällt einem die Decke auf den Kopf. Gerade das Training auf der Matte fehlt. Wenn du sonst mal 14 Tage Pause hast, bist du vielleicht auch mal ganz froh. Jetzt weiß man nicht, wie lange es dauert, bis man wieder gemeinsam trainieren darf. Das macht die Situation umso schwerer." Kinsinger ist von seinem Zimmer an der Landessportschule zu seinen Eltern gezogen, hat eine Hantelstange und ein paar Gewichte mitgenommen, eine Trainingspuppe und ein Fahrrad ausgeliehen. „Der Tagesablauf hat sich schon geändert. Sonst hatte ich immer zwei Trainingseinheiten am Tag, habe dazu noch immer für die Uni gearbeitet. Jetzt ist es schwer, sich zweimal am Tag fürs Training zu motivieren. Viermal in der Woche laufen ist halt auch nicht so prickelnd für einen Ringer. Zumal meine O-Beine nicht dafür gemacht sind."
Den Humor hat der Student der Universität des Saarlandes nicht verloren, auch wenn man ihm anmerkt, dass ihn die Situation belastet. Statt sich auf die eigentlichen anstehenden Qualifikationsturniere für die Olympischen Spiele in Topform zu bringen, geht es aktuell nur darum, die körperliche Grundverfassung aufrechtzuerhalten. Sportpsychologen haben bereits davor gewarnt, dass Athleten nach der Verschiebung der Spiele nun in ein emotionales Loch fallen. „Ich kann das nachvollziehen", sagt Kinsinger, „gerade für die, die sich schon qualifiziert haben, ist es schwierig. Sie haben jetzt quasi ein Jahr lang keinen sportlichen Höhepunkt mehr." Kinsinger hofft, dass seine Qualifikationsrunden im Herbst stattfinden können – so zumindest munkelt man über die noch internen Pläne des Welt-Ringerverbands.
Ob dann Chancengleichheit herrschen wird, scheint mehr als fraglich. Die Dopingkontrollen sind quasi ausgesetzt, die Trainingsverbote werden in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich gehandhabt. „In Italien oder Frankreich wird wie bei uns wohl niemand wirklich trainieren können", ist sich Kinsinger sicher, „wie das in vielen osteuropäischen Ländern läuft, vermag ich nicht zu sagen. Da hat der Sport zum Teil einen anderen Stellenwert." Sport ist vielerorts „systemrelevant", so geht beispielsweise in Weißrussland die Fußballsaison ungeachtet der Pandemie weiter.
„Ich hatte vorher eine lockere Meinung"
Das Thema der Leistungssteigerung durch Einnahme verbotener Substanzen sieht der deutsche Spitzenringer jedoch nur wenig verschärft. „Es gab leider auch bislang für schwarze Schafe immer eine Möglichkeit, sich zu entziehen. Leider ist das Kontrollnetz nicht überall so eng, wie es bei uns in Deutschland ist", sagt Kinsinger, der in der Bundesliga für den deutschen Vize-Meister KSV Köllerbach startet. „Ich finde, es wird insgesamt viel zu wenig kontrolliert. Aber es gibt –
Gott sei Dank – immer wieder Beispiele, die beweisen, dass man auch sauber Spitzenleistungen erbringen kann. Daran sollten wir uns orientieren und uns nicht über die Betrüger aufregen. Das hilft nicht weiter."
Seine aktuellen Leistungsspitzen erbringt Kinsinger in der Gartenarbeit mit seinem Vater. Holzmachen für den Ofen. „Ich habe vielleicht die Kraft fürs Holzhacken, aber offensichtlich nicht die Technik", scherzt die saarländische Olympia-Hoffnung, „ich schleppe dafür mehr. Jeder das, was er kann." Ansonsten geht er aber auch neue Wege der Beschäftigung und Ablenkung. „Eine Leseratte wird aus mir sicher nicht mehr. Ich spiele mit den Nationalmannschaftskollegen online Fußballturniere. Das ist ganz witzig. Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben gebacken. Und das, obwohl meine Mama zu Hause war." Es gab Brownies, und sie sollen sogar richtig gut gewesen sein: „Keine Backmischung. Das kann ja jeder. So richtig mit Rezept."
Finanziell muss sich Kinsinger derzeit noch keine Sorgen machen, die Sporthilfe läuft weiter. Als Alleinstehender kommt er auch mit der Hilfe seiner Eltern über die Runden. Doch Kinsinger ist jemand, der über den Tellerrand hinausschaut, Dinge hinterfragt. „Ich gebe zu, dass ich vor drei, vier Wochen noch eine sehr lockere Meinung zur Bedrohungslage hatte. Aber man würde derart massive Beschränkungen nicht erlassen, wenn es nicht wirklich gefährlich wäre", sagt er, „auch ich habe Großeltern, die ich derzeit leider nicht sehe. Darum erscheint es mir richtig, was aktuell unternommen wird. Auch wenn wir alle Auswirkungen der Maßnahmen noch gar nicht richtig überschauen können. Die Kurve jetzt abzuflachen, heißt auch, dass wir uns auf einen längeren Verlauf einstellen müssen. Dennoch glaube ich, es ist notwendig, derzeit einfach zu Hause zu bleiben."
Und mit witzigen Botschaften für gute Stimmung sorgen – bei sich selbst und anderen. So wie Etienne Kinsinger aus der Wohnzimmer-Sauna.