Fast jeder zweite Anästhesist oder Intensivmediziner kennt dieses rätselhafte Phänomen: Bei einem Patienten zeigen sich nach vergeblichen Reanimationsmaßnahmen plötzlich wieder Lebenszeichen. Er ist gewissermaßen von den Toten auferstanden.
Es sind scheinbar spektakuläre Einzelfälle, die regelmäßig in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen und schiere Verwunderung sorgen. 2015 beispielsweise war der damals 14-jährige Teenager John Smith aus St. Charles im US-Bundesstaat Missouri beim Spielen mit seinen Freunden auf der Eisfläche des Lake Sainte Louise eingebrochen und konnte erst nach knapp 15 Minuten unter Wasser geborgen werden. Rettungskräfte brachten ihn in das nächstgelegene St. Joseph Hospital West und versuchten, ihn anschließend fast 45 Minuten lang zu reanimieren. Scheinbar erfolglos, weshalb die Ärzte ihn schließlich für tot erklärten.
Dann geschah das Unfassbare: Einige Minuten später begann Johns Herz wieder zu schlagen. Die behandelnden Mediziner machten den Eltern aber wenig Hoffnung, sie taxierten Johns Überlebenschancen lediglich auf ein Prozent. Selbst bei einer wundersamen Verbesserung des Gesundheitszustandes gingen sie von neurologischen Dauerschäden aus. Eine Fehleinschätzung. John sollte sich nicht nur komplett wieder erholen, sondern auch keinerlei nachweisbare Lädierungen des Gehirns davontragen. Was John geschehen war, wird seit 1982 in der medizinischen Fachliteratur als sogenanntes Lazarus-Phänomen bezeichnet, es beschreibt das spontane Wiedereinsetzen von Atmung und Kreislauf/Zirkulation, nachdem ein eingetretener Herz-Kreislauf-Stillstand durch notfallmedizinische Maßnahmen nicht behoben werden konnte. Trotz diverser Theorien konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden, wie es zu diesem Phänomen kommen kann. Ein ähnlicher Fall wurde 2016 von der University of Illinois gemeldet, als bei einer Patientin der Kreislauf ebenfalls nach Aufgabe der Wiederbelebungsmaßnahmen spontan wieder angesprungen war.
Viele Theorien, keine Klärung
Ein Jahr später konnten finnische Forscher um Prof. Markku Kuisma in Suomi fünf Lazarus-Ereignisse innerhalb einer sechsjährigen Beobachtungsphase durch eine Kohortenuntersuchung nachweisen und ihre Erkenntnisse im Fachmagazin „Resuscitation" publizieren. Dabei konnten sie den Zeitraum des Wiedereintritts der spontanen Kreislauffunktion samt fühlbarem Pulsschlag auf maximal zehn Minuten nach Beendigung der Reanimationsmaßnahmen eingrenzen. Allerdings hatte langfristig keiner der Patienten überlebt, drei der Patienten waren nach spätestens 15 Minuten gestorben, der letzte der fünf Patienten war nach 26 Stunden tot. Das finnische Wissenschaftler-Team machte den Vorschlag, künftig Patienten zehn Minuten nach Beendigung der Reanimation beziehungsweise der Herz-Lungen-Wiederbelebungsversuche mithilfe eines Elektrokardiogramms zu beobachten, um das mögliche Auftreten eines Lazarus-Phänomens, das nach dem biblischen Wunder benannt wurde, bei dem Jesus seinen Freund Lazarus vier Tage nach dessen Tod wiedererweckt haben soll, ziemlich sicher registrieren zu können.
Noch einen Schritt weiter in der Untersuchung des Lazarus-Phänomens ging jüngst ein internationales Team aus Notfallmedizinern des britischen University Hospitals Morecamb Bay Trust, des Universitätsspitals Lausanne, des Bozner Forschungszentrums Eurac Research und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Sie hatten zum ersten Mal überhaupt sämtliche in der medizinischen Fachliteratur veröffentlichten Fälle im Bereich der erweiterten Wiederbelebung durch professionelle Helfer systematisch analysiert und ihre Erkenntnisse diesen Sommer im „Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine" öffentlich zugänglich gemacht. In der Zeitspanne zwischen 1982 und 2018 konnten sie 65 Lazarus-Fälle aufspüren, wobei 22 Personen, also knapp ein Drittel, den Kreislaufstillstand überlebt hatten und es 18 Patienten sogar gelungen war, das Ereignis ohne jegliche Spätfolgen zu überstehen. Die Gesamtzahl der ermittelten Fälle war mithin nicht sonderlich groß, aber die Forscher vermuten eine nicht unerhebliche Dunkelziffer. „Wir vermuten aufgrund unserer Analysen, dass das Lazarus-Syndrom viel häufiger auftritt, als es in der Literatur aufscheint", so der britische Anästhesist Les Gordon vom Royal Lancaster Infirmary und Hauptautor der Studie. Nicht zuletzt deshalb, so die Forscher, weil Ärzte, die einen Patienten fälschlicherweise für tot erklärt hatten, aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen oder vor einer Schädigung ihres guten Rufs in der Regel von einer Meldung eines solchen Vorfalls zurückschrecken.
Mehrzahl verstirbt letztlich doch
„Auch wenn es wenige scheinen", so Les Gordon und seine Kollegen, „sind die Konsequenzen doch beträchtlich, wenn man an das beteiligte medizinische Personal, die Angehörigen, die rechtlichen Konsequenzen und die tägliche Anzahl der Patienten denkt, die Wiederbelebungsmaßnahmen benötigen." Bei den 65 dokumentierten Fällen traten die Lebenszeichen im Schnitt fünf Minuten nach Einstellung der Reanimationsmaßnahmen ein, die meisten innerhalb von maximal zehn Minuten. Zwar war die Mehrzahl der Patienten letztendlich doch verstorben, aber besonders die Fälle mit kompletter Gesundung stimmten die Forscher zuversichtlich, weil zu erwarten gewesen wäre, dass wegen des fehlenden Herzschlags ein Sauerstoffmangel in Gehirn und Organen zu fatalen Folgen hätte führen müssen. „Das ist schon überraschend", so der Kommentar des an der Studie nicht beteiligten Prof. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, „weil wir davon ausgehen müssen, dass das Gehirn schon bei wenigen Minuten ohne Sauerstoffzufuhr irreparable Schäden erleidet." Ins gleiche Horn stieß Co-Autor Mattieu Pasquier vom Universitätsklinikum Lausanne: „Die Tatsache, dass die Mehrheit der Überlebenden keine Folgeschäden aufwies, ist von allergrößter Bedeutung." Laut den Erkenntnissen der Wissenschaftler kann das Lazarus-Phänomen nach einem Herzstillstand allerdings nur dann auftreten, wenn zuvor Reanimationsversuche erfolgt waren: „Nach einem Tod ohne vorausgegangene Wiederbelebungsmaßnahmen scheinen solche Fälle nicht vorzukommen."
Ähnlich wie ihre finnischen Kollegen gab das internationale Forschungsteam den Ratschlag, nach Beenden der Herz-Lungen-Wiederbelebungsversuche den Patienten noch mindestens zehn Minuten lang mithilfe eines Elektrokardiogramms zu überwachen. Es sei eben niemals auszuschließen, dass der Herzschlag auch noch mit Verzögerung wieder eintreten könnte. Warum es in Einzelfällen nach einer erfolglosen Reanimation zu einer spontanen Rückkehr der Lebensfunktionen kommt, wovon laut weltweiten Umfragen unter Anästhesisten und Intensivmedizinern schon fast jeder Zweite schon mal gehört oder es sogar selbst schon miterlebt hatte, ist wissenschaftlich noch weitgehend ungeklärt. Eine Erklärung könnte der hohe Beatmungsdruck sein, was zu einem Erschweren des Ausatmungsvorgangs und zu einer Aufblähung der Lungen führen kann. Mit der direkten Folge einer Hemmung von Herzschlag und Blutfluss. „Ein solcher hoher intrathorakaler Druck scheint", so Les Gordon, „in vielen der Lazarus-Fälle einer der Auslösemechanismen zu sein." Auch eine verzögerte Wirkung von während der Reanimation verabreichten Medikamenten könnte eine Rolle spielen. Weitere Hypothesen drehen sich um Hyperventilation, Elektrolytverschiebungen, Alkalose (Störung des Säure-Basen-Haushaltes) oder verzögerte Katecholaminwirkung.