Erneuerbare Energien sind die Zukunft. Aber was, wenn kein Wind weht und es dunkel ist? In einem bislang einmaligen Modellprojekt setzt die niederländische Stadt Utrecht auf Elektroautos als Stromspeicher.
Die niederländische Stadt Utrecht sieht nicht gerade aus wie ein Versuchslabor der Elektromobilität. Rund um den Hauptbahnhof verlaufen mehrere Schnellradwege, auf denen sich Hunderte Radler zweispurig begegnen. Dahinter ein Fahrrad-Parkhaus, Fahrradständer und eine Unterführung, in der fast nur Zweiräder unterwegs sind. Autos? Gibt’s die hier überhaupt?
Beim genauen Hinsehen tauchen sie dann doch auf, wobei viele von ihnen erstaunlich leise durch die Stadt rollen – schon 2017 hat Utrecht eine Umweltzone rund um die Innenstadt auf den Weg gebracht, in die alte Diesel nicht mehr einfahren dürfen. Stattdessen sind vermehrt E-Autos unterwegs. Nun wagt die Region mit ihren rund 600.000 Einwohnern den nächsten großen Wurf: Sie will eines der nachhaltigsten Stromnetze Europas schaffen. „Wir wollen so schnell wie möglich klimaneutral werden, haben aber wenig Platz für großflächige Energiegewinnungsanlagen", sagt der stellvertretende Bürgermeister Eelco Eerenberg.
Eine mögliche Lösung: bidirektionales Laden. Elektroautos, die nach diesem Prinzip funktionieren, können nicht nur Strom in ihren Batterien speichern, sondern diesen bei Bedarf auch wieder ins Netz abgeben. Dadurch soll überschüssige erneuerbare Energie nicht einfach verfallen, sondern je nach Bedarf genutzt werden.
„Manchmal ist so viel Sonnen- oder Windenergie verfügbar, dass wir gar nicht alles ins Netz einspeisen können", sagt der Unternehmer Robin Berg. „Eine Stunde später ist es dunkel, und genau dieser Strom fehlt. Dann müssen wir auf klimaschädliche Kohlekraftwerke zurückgreifen." Berg arbeitet mit seiner Carsharing-Firma We Drive Solar daran, dass sich das ändert. Schon heute werden alle hundert Autos der Flotte mit Ökostrom angetrieben. In Zukunft sollen sie ihren überschüssigen Strom immer dann ins Netz einspeisen, wenn er gebraucht wird.
Was in der Theorie nachvollziehbar ist, wirft in der Praxis viele Fragen auf: Ist die Technik gut genug, damit es funktioniert? Wie viele Autos müssen mitmachen, damit sich ein Effekt zeigt? Lassen sich Stromschwankungen damit ausgleichen? Diese und andere Fragen soll der Großversuch beantworten, der ab diesem Jahr in Utrecht läuft: Mit 150 Elektroautos, die der Autohersteller Hyundai bereitstellt, wird das bidirektionale Laden getestet. Das Experiment gilt als wegweisend; am Start-Event im April 2021 nahm sogar der niederländische König Willem-Alexander teil.
150 Ioniq 5 kommen hinzu
„Wir wollen nicht einfach ein paar Hundert Carsharing-Autos auf den Markt werfen, wie es viele andere Städte tun", sagt Berg. „Die stehen dann den ganzen Tag rum und blockieren Parkplätze." Dem Unternehmer schwebt eine sinnvolle Nutzung inaktiver Autos vor: „Mit einer Autobatterie können Sie eine ganze Straße 24 Stunden lang mit Strom versorgen", sagt Berg. Alle 500 öffentlichen Ladestationen der Region Utrecht seien bereits heute bidirektional, aber bisher mangelte es an Fahrzeugen. Die meisten Elektroautos, die heute auf dem Markt sind, verfügen noch nicht über eine solche Funktion.
Aktuell ist die Stadt deshalb auf zwei umgebaute Renault Zoe angewiesen, die sowohl Strom laden als auch abgeben können. Vorführen kann Robin Berg die beiden E-Autos allerdings nicht. „Sie sind in der Werkstatt", sagt er und zuckt mit den Schultern. „Es sind eben Prototypen." Mit den 150 Exemplaren des „Ioniq 5" von Hyundai, die nun hinzukommen, soll sich das ändern. „Das sind Serienfahrzeuge, die ein sehr hohes Niveau bieten", erklärt Berg. Auch private Wallboxen, mit denen man zu Hause bidirektional laden kann, seien in Kürze verfügbar. „Große Konzerne wie VW machen in diesem Geschäftsfeld mit", schwärmt der Unternehmer.
Was zwangsläufig zur nächsten Frage führt: Machen private Nutzerinnen und Nutzer bei so etwas mit? Immerhin lädt ein E-Auto an der heimischen Wallbox locker vier bis fünf Stunden, bis es voll ist. Wenn man es danach dem Netz zur Verfügung stellt, muss man dann nicht Angst haben, dass sie am nächsten Morgen leer ist? Robin Berg lacht – diese Befürchtung hat er schon oft gehört. „Sie können natürlich eine Untergrenze festlegen", versichert er. „Zum Beispiel, dass die Batterie bis maximal 50 Prozent entladen werden darf." Sein Ansatz setzt allerdings voraus, dass man einen eigenen Stellplatz hat oder dass es genügend öffentliche Ladestationen gibt. Zumindest in Deutschland hapert es daran.
Beim Carsharing ist die Organisation einfacher. „Wenn wir sehen, dass ein Auto für eine lange Fahrt gebucht wurde, laden wir es entsprechend voll." In der Realität stünden Autos aber die meiste Zeit sowieso ungenutzt herum, betont Berg. „Da wird ein Großteil des Akkus also gar nicht genutzt." Und das ist nicht nur in Holland so. Die vom Bundesverkehrsministerium beauftragte Studie „Mobilität in Deutschland" kam 2017 zu dem Schluss, dass Autos hierzulande im Schnitt nur 50 Kilometer pro Tag fahren.
Es verwundert also nicht, dass länderübergreifend über eine sinnvolle Batterie-Nutzung nachgedacht wird. An der TU Ingolstadt hat der Student Dominik Storch eine Masterarbeit dazu verfasst, unter welchen Umständen bidirektionales Laden funktioniert. Seine Antwort: Wenn zehn Millionen Elektroautos nur zehn Prozent ihrer Batteriekapazität als Netzspeicher zur Verfügung stellten, könnten damit 135.000 Vier-Personen-Haushalte mit Strom versorgt werden – für einen kompletten Monat. Noch ist das ein theoretischer Wert, denn aktuell kratzen die Zulassungszahlen für E-Autos in Deutschland gerade einmal an der Millionenmarke.
Ein weiteres Problem: Finanziell rechne sich das Ganze für Privatleute nicht, schlussfolgert Storch. Die Technik sei zu teuer; zudem seien steuerliche Fragen ungeklärt. Langfristig könnten E-Autofahrer aber sogar Geld damit verdienen, ihren gespeicherten Strom zu verkaufen.
Solarstrom vom eigenen Dach
Taugt bidirektionales Laden also als Massenphänomen? Oder wird es eine Nische bleiben? Wissenschaftler, die sich aktuell mit dem Thema befassen, zeichnen ein differenziertes Bild. Manuel Ruppert vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hält bidirektionales Laden für ein wichtiges Zukunftsthema. Aber: „Stand heute beschränkt sich der Einsatz noch auf Pilotprojekte, in deren Rahmen erste Erfahrungen im praktischen Einsatz gesammelt werden", sagt Ruppert. Es könne noch einige Jahre dauern, bis sich die Methode im Privatbereich durchsetzt. In Magdeburg forscht Axel Hoppe am Institut für Automation und Kommunikation (ifak) ebenfalls zu bidirektionalem Laden. Er hat es mit umgebauten Audis sogar induktiv, also ohne Kabel, ausprobiert. „Technisch ist das alles machbar", sagt Hoppe, aber in der Praxis lohne es sich derzeit nur für Flottenbetreiber wie in Utrecht. Für Privatpersonen seien Vorschriften, Aufwand und Investitionen aktuell noch zu groß. Einzige Ausnahme: die Auto-Batterie als privater Speicher in einem Smart Home. „Wer eine Solaranlage auf dem Dach hat, kann überschüssigen Strom tagsüber im Auto speichern. Abends, wenn es dunkel ist, kann man diesen dann selbst nutzen."
In Utrecht ist Robin Berg fest davon überzeugt, dass sein Projekt klappt. Zu Hause im Garten hat er bereits seit 2015 eine eigene bidirektionale Ladestation stehen, eine Kooperation mit Nissan. Fotografieren solle man die Station aber lieber nicht, bittet der Unternehmer: Sie ist von Efeu überwuchert und wird kaum noch genutzt – ein weiterer Prototyp, der wegen des japanischen Ladestandards nicht mehr zu seinem neuen Tesla passt.
Hat er gar keine Angst, dass der Großversuch scheitert? „Das weiß man natürlich erst, wenn man es ausprobiert", räumt Berg ein. Bei den beliebten E-Scootern, die auch in Utrecht an jeder Ecke zu finden sind, hätten auch alle zunächst nur Vorteile gesehen – „und heute liegen die Dinger in der Gracht". Aber genau deshalb mache man ja einen Versuch. „Wir schauen, was klappt. Und die Probleme lösen wir. Schon bald wird es in jeder Stadt so aussehen wie in Utrecht."