Laut einer Studie verliert ein einzelner Autoreifen während seiner Nutzungszeit etwa vier Kilogramm an Material, das als Mikropartikel in die Umwelt gelangt. Ein britisches Start-up arbeitet mit Hochdruck daran, diese Partikel zu großen Teilen aufzufangen – direkt am Fahrzeug.
Mikroplastik ist überall und schon lange selbst in den entlegensten Winkeln der Antarktis zu finden. Laut Weltnaturschutzunion (IUCN) gelangen jedes Jahr 3,2 Millionen Tonnen Mikroplastik in die Umwelt. Das sind mikroskopisch winzige, feste Kunststoffpartikel, die zwischen fünf Millimeter und 1.000 Nanometer klein sind. Sie kommen etwa in Wasch- und Reinigungsmitteln, kosmetischen Produkten oder Kunststoffabfällen vor. Die achtlos weggeworfene Plastikverpackung wird dabei über mehrere Jahre durch Wind und Witterung klein geschrubbt. Durch Alterungs- und Zerfallsprozesse entsteht so Mikroplastik.
Mikroplastik ist längst auch in unsere Nahrung gelangt. Das hat zerstörerische Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt und birgt gesundheitliche Gefahren für den Menschen – die aber noch wenig erforscht sind.
Mikropartikel im Menschen
Während Plastikprodukte und Plastikverpackungen schon länger als Umweltproblem identifiziert sind, wird dem Mikroplastik, das aus dem Abrieb von Autoreifen entsteht, bisher noch relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Besonders wenn ein Auto beschleunigt, bremst oder abbiegt, gelangen durch Reifenabrieb Mikropartikel in die Luft – mit langfristig desaströsen Konsequenzen für die Umwelt. Die geschätzt 1,4 Milliarden Autos auf den Straßen der Welt machen Reifenabrieb zu einer immensen und weltweiten Herausforderung.
Das Londoner Start-up „Tyre Collective“ hat das Problem erkannt – und den Autoreifen-Mikropartikeln den Kampf angesagt. Das 2020 gegründete Unternehmen hat ein Gerät entwickelt, das hinter allen vier Autoreifen an der Fahrzeugkarosserie angebracht wird und laut Firmenangaben 60 Prozent des Mikroplastik-Abriebs der Reifen ansaugt, bevor dieser in die Umwelt entweicht. Firmenmitgründer und CEO Hanson Cheng erklärt: „Die Mikropartikel, die sich insbesondere beim Bremsvorgang, der Beschleunigung und dem Abbiegen lösen, landen im Wasser, in der Nahrungskette und in der Luft. Wir alle nehmen jede Woche Mikropartikel von der Größe einer Kreditkarte in uns auf.“
Bestätigt wurde diese Aussage 2022 von der Medizinischen Universität in Wien: Fünf Gramm winzige Plastikteilchen gelangen durchschnittlich pro Kopf und Woche in den menschlichen Magen-Darm-Trakt. Das entspricht tatsächlich etwa dem Gewicht einer Kreditkarte. Schon als Studenten im Fach Design und Ingenieurwesen, unter anderem am Imperial College London, begannen die drei Firmengründer des „Tyre Collective“, Hanson Cheng, Hugo Richardson und Siobhan Anderson, an ihrer Idee zu arbeiten.
Das zentrale Prinzip des Geräts, das im Prototyp einfach „TC“ heißt, für „Tyre Collector“ (deutsch etwa: „Reifenauffänger“), basiert auf einer einfachen Beobachtung: Bei ihren ersten Versuchen an Autoreifen haben die jungen Forscher bemerkt, dass die abgeriebenen Partikel elektrisch aufgeladen sind. Hanson Cheng: „Wir haben einen Luftballon an unseren Sweatern gerieben, ihn dadurch elektrostatisch aufgeladen und dann über die Autoreifen-Mikropartikel gehalten, die wir vorher von einem rotierenden Reifen mit Schmirgelpapier abgeschliffen haben. Und tatsächlich, die Partikel sind hochgesprungen und wurden vom Ballon angezogen. Da wussten wir, wir sind auf dem richtigen Weg.“ Wir alle kennen diese Form der sogenannten Reibungselektrizität aus dem Alltag: Wenn der Plastikkamm das Haar beim Kämmen anzieht oder wenn wir nach dem Gehen über Teppichboden den metallenen Türgriff berühren. Und auch im „Tyre Collector“ sind die Reifenpartikeln, die vom Kontakt mit der Straße abgerieben werden, durch eben diese Reibung mit der Straße elektrisch aufgeladen.
Patentverfahren läuft derzeit
Um die Partikel dann „anzusaugen“ wurden im ersten Prototyp elektrostatisch entgegengesetzt geladene Kupferplatten verwendet, die die Reifenpartikel anziehen. Die Aerodynamik des sich drehenden Reifens unterstützt den Prozess. Die angesaugten Reifenpartikel landen dann in einer Kartusche, die direkt hinter dem TC angebracht ist. Der Inhalt der leicht abnehmbaren Kartuschen wird eingesammelt und recycelt. Welches effektivere Material im verbesserten Prototyp zum Ansaugen der Mikropartikel verwendet wird und die im ersten Prototyp genutzten Kupferplatten ersetzt, ist laut Pressestelle des Tyre Collective ein Betriebsgeheimnis – wohl auch weil das Patentverfahren für den „Reifenauffänger“ noch nicht abgeschlossen ist.
Je „reiner“ die aufgefangenen Mikropartikel sind, sprich, je weniger Straßendreck sie enthalten, desto einfacher und kostengünstiger können sie recycelt werden: zu Autoreifen, Schuhsohlen, Schallschutzwänden, Industrielacken, für 3D-Printer oder als Material in sogenannter „Activewear“-Sportskleidung, die die Feuchtigkeit gut ableitet. Das enorme Potenzial der Erfindung blieb auch bei Designtechnik-Fachleuten nicht unbemerkt: 2020 erhielten die drei Erfinder schon während ihres Studiums dafür den James Dyson Award – einen internationalen Studentenpreis für Design, der junge Menschen herausfordert, „etwas zu entwerfen, das ein Problem löst“. Für die kommenden Prototypen des TC gibt Hanson Cheng ein klares Ziel aus: „Wir wollen noch mehr als 60 Prozent des Abriebs auffangen und das, was wir auffangen, soll reiner und besser recycelbar werden“.
Eine weitere Herausforderung jenseits der Erfindung selbst ist, dass das gesammelte Mikroplastik auch in einen Wiederverwertungskreislauf integriert werden muss. Dazu braucht es die Kooperation vieler Beteiligten: Autofahrer, Autohersteller und Recyclingfirmen. Die Gründer des „Tyre Collective“ sind in Gesprächen mit mehreren Vertretern europäischer und nordamerikanischer Städte und auch mit Repräsentanten ihrer Heimatstadt London. Die Niederlande und der US-Bundesstaat Kalifornien zeigen ebenfalls großes Interesse. All diese potenziellen Partner haben erkannt, dass die Verschmutzung durch Reifen-Mikropartikel ein Umweltproblem ist, für das es schnell Lösungen braucht.
Das belegen auch die Daten des Norwegian Institutes for Air Research (NILU), das in einer Studie von 2020 Nicht-Abgas-Emissionen von Fahrzeugen erforschte – also zum Beispiel Abrieb von Bremsbelägen und Reifen. Demnach verliert ein Autoreifen in seiner Laufzeit vier Kilogramm an Partikeln, die in der Umwelt enden – je nach Partikelgröße in der Luft oder im Wasser. Professor Andreas Stohl hat an der norwegischen Studie mitgeforscht: „Die extrem kleinen Partikel sind besonders in Bezug auf ihre Auswirkungen auf die Ökosysteme und auf den Menschen wichtig. Es ist gut möglich, dass diese Partikel auch in unsere Blutgefäße eindringen.“
Kooperation mit Autoverleihern
Dass jetzt immer mehr Elektroautos im Einsatz sind, wird das Problem nicht verringern. Im Gegenteil: E-Autos sind, wegen der schweren Lithium-Ionen-Batterien, im Durchschnitt deutlich schwerer als konventionelle Autos. Mehr Gewicht bedeutet mehr Druck auf die Reifen und somit mehr Reifenabrieb.
In einem nächsten Schritt hat das „Tyre Collective“ jetzt Praxistests durchgeführt, um seine Erfindung weiter zu optimieren. Erste Partner sind Fahrzeugflotten von Autoverleihern oder Lieferfirmen, wie die Londoner Logistikfirma „Zehro“. Drei Monate wurde der zweite Prototyp namens TC02 an den Fahrzeugen der Firma getestet. Laut Tyre-Collective-Mitgründerin Siobhan Anderson mit Erfolg: „Unser Prototyp TC02 war in der Lage, Mikropartikel in der Größenordnung von 0,3 bis zu 100 Mikrometer einzufangen. Die Hälfte der gesammelten Partikel war kleiner als zehn Mikrometer.“ Das ist wichtig, weil die Partikel dieser Größe, also von 0,001 Zentimeter und kleiner, für den menschlichen Körper wohl am schädlichsten sind.
Der Vorteil von Fahrzeugflotten, wie man sie eben bei „Zehro“, Autoverleihern oder städtischen Verkehrsbetrieben findet, ist die bestehende Infrastruktur: Fahrzeuge dort werden regelmäßig gewartet und das macht das Leeren und Recyceln der Mikroplastik-Auffangbehälter logistisch einfacher. Bei Privatfahrzeugen würden die Auffangbehälter im Zuge einer Jahresinspektion geleert. Die Behälter sind so designt, dass ein privater Durchschnittsnutzer eines Pkw den Behälter einmal im Jahr leeren müsste, damit der Reifenabrieb nicht in die Umwelt oder ins Meer gelangt, sondern wiederverwertet werden kann. Weil das schnell möglich sein soll, arbeitet das Start-up hart daran, dass ihr „Tyre Collector“ schon 2024 auf dem Markt ist und danach an Millionen Autos weltweit zum Einsatz kommt.