Mit Erik Lesser hat nicht nur ein erfolgreicher, sondern auch sehr meinungsfreudiger Biathlet seine Karriere beendet. Der Sportler richtete den Blick über den Tellerrand hinaus, womit er sich nicht nur Freunde machte.
Erik Lesser interessiert sich sehr für gesellschaftsrelevante Themen, doch in den letzten zwei Jahren seiner Karriere hätte er lieber weniger über Politik und mehr über Biathlon nachgedacht. Die Corona-Pandemie, die in vielerlei Hinsicht umstrittenen Olympischen Winterspiele in Peking, der russische Angriffskrieg in der Ukraine – all das beschäftigte Lesser zuletzt sehr. „Ich höre sicher in dunklen Zeiten auf", sagte er, „aber ich werde auf meine Karriere sicher nicht dunkel zurückblicken."
Dafür besteht auch kein Grund, denn der 33-Jährige hat eine beachtliche Laufbahn im Leistungssport hingelegt: zweimal Olympia-Silber 2014 in Sotschi, einmal Olympia-Bronze 2018 in Pyeongchang, zwei WM-Titel 2015 in Kontiolahti und zahlreiche Weltcup-Podestplätze. Mehr als ein Jahrzehnt gehörte Lesser zur Weltspitze, beim Saisonfinale am vergangenen Wochenende am legendären Holmenkollen im norwegischen Oslo wollte er das ein letztes Mal untermauern. Er wolle zum Karriere-Abschluss „kein Halligalli, Spiel- und Spaßwettkampf" abliefern, hatte Lesser angekündigt, sondern „für eine gute Platzierung kämpfen". So wie in den Wochen davor, als er im finnischen Kontiolahti Zweiter in der Verfolgung und in Otepäa (Estland) Dritter in der Mixed-Staffel geworden war.
Kein Vergleich zu seinen Olympia-Leistungen, die für einen Mann seiner Klasse schlicht unterirdisch waren. Der 67. (!) Platz im Einzel war eine Riesenenttäuschung für ihn persönlich und für das gesamte Team. „Ich habe den ‚schlechten‘ Tag am unpassendsten Tag erwischt. Bravo!", hatte Lesser damals mit sich selbst gehadert. Er nannte den indiskutablen Auftritt einen „Betriebsunfall", von dem er immer noch nicht so recht wüsste, „warum der passiert ist". Es sei „schwer zu realisieren, dass nach zwei Jahren Training, harter Arbeit und einer Familie zu Hause, die immer Rücksicht nahm, alles einfach weggeblasen wird". Zu seinem Glück wurde Lesser von Bundestrainer Mark Kirchner trotzdem für das Staffelrennen nominiert, doch auch hier blieb ihm auf Platz vier die erhoffte letzte Medaille verwehrt.
„Von Olympia nehme ich nichts mit"
„Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich von den Olympischen Spielen genau gar nichts mitnehme. Weder eine Medaille, noch ein gutes Ergebnis", sagte Lesser, „und eine gute Zeit hatte man hier jetzt auch so begrenzt." Das war noch recht milde ausgedrückt, denn der Biathlet fühlte sich in Wirklichkeit sehr unwohl in der Volksrepublik, deren autokratische Züge in Coronazeiten noch mal zugenommen haben. Dass er seine letzten Winterspiele ausgerechnet in China und unter harten Hygiene-Bedingungen abhalten musste, schmerzte Lesser sehr: „Irgendwie beneide ich Arnd Peiffer, der letzte Saison gesagt hat: Tschüssikowski, Peking gebe ich mir nicht mehr."
Mit seinem Frust hielt der meinungsfreudige Athlet auch nicht hinterm Berg – ganz im Gegenteil. Fast schon provokant suchte Lesser während der Spiele über seine Social-Media-Kanäle die Konfrontation mit dem umstrittenen Gastgeber und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC). So prangerte er zum Beispiel den Gigantismus an, als er ein Bild von sich vor der hochmodernen Biathlon-Anlage und den futuristischen Skisprung-Schanzen in Zhangjiakou postete und dazu schrieb: „Ehrlich, es ist sehr schön hier draußen. Aber zu wissen, wie dieses Gebiet vorher ausgesehen hat, macht mich traurig. All das für drei Wochen." In China seien Stadien „aus dem Nichts" und mit jeder Menge Beton und Stahl entstanden, „die nicht nachhaltig sind und nach den Olympischen Spielen sicherlich nicht ein einziges Mal benutzt werden". Das Menschliche habe diesmal „komplett gefehlt", meinte er: „Es war alles wie aus dem Reagenzglas gezaubert." All das seien Sachen, „die beschäftigen mich".
Und Lesser ist niemand, der seinen Ärger einfach nur runterschluckt. Die aufgenähten Begriffe „Solidarity, Inclusion, Equality, Peace, Respect" (Solidarität, Inklusion, Gleichheit, Friede, Respekt) auf den Handschuhen, die er und die anderen Olympiateilnehmer vom Veranstalter bekommen hatten, wandelte Lesser in einer Fotomontage um in „Geld, Geld, Geld, mehr Geld". Dies leitete er an den offiziellen Olympia-Account weiter – mit folgender Anmerkung: „Ich habe es für Euch korrigiert." Lesser transportiert seinen Ärger nach Außen, womit er sich nicht nur Freunde macht. Vor allem nicht, wenn wie in Peking der sportliche Erfolg ausbleibt. „Dann wird man schnell in eine andere Ecke geschoben, gilt als der Unzufriedene, der sich besser auf den Sport konzentrieren sollte", weiß Lesser: „Es ist ja ein gefährliches Unterfangen, kritisch zu sein."
Harte Kritik an IOC-Chef Thomas Bach
Doch in der Szene schätzen ihn viele Leute genau deswegen. „Es freut mich natürlich, wenn mein Auftreten positiv bei den Leuten ankommt", sagte er. Ihm sei es „auch wichtig, dass ich jungen Sportlern Werte mitgeben kann." Er sei schon etwas stolz, wenn andere Athleten ihn als Vorbild sehen, „dann habe ich viel erreicht". Vielleicht sogar mehr als mit ersten, zweiten oder dritten Plätzen. „Ich mache doch eigentlich nur, was ich für richtig halte", sagte Lesser: „Dass das so gut ankommt, ist natürlich schön."
Bei IOC-Präsident Thomas Bach sicher nicht, dem gefallen kritische Töne gegen die Olympiagastgeber und gegen den Ringeorden überhaupt nicht. Doch auch vor dem mächtigsten Mann im Weltsport hat Lesser keine Angst, er nennt auch Bach konkret als eines von vielen Problemen in der Olympiafamilie. „Ich bin einfach nur enttäuscht, dass Thomas Bach kritische Nachfragen einfach so wegwischt", sagte Lesser, der vor allem für eine Bach-Maxime, die immer wieder höchst einseitig ausgelegt wird, überhaupt kein Verständnis hat: „Dass die Olympischen Spiele unpolitisch sind, das ist ja völliger Quatsch." Von einem „Präsidenten mit ordentlich Rückgrat" hätte er sich schon „ein paar kritischere Töne Richtung chinesische Regierung" gewünscht. Doch die gab es nicht.
Auch nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine taten sich das IOC und Bach zunächst schwer, schnell Konsequenzen zu ziehen. Kein Wunder: Der russische Einfluss im Weltsport ist enorm. Auch im Biathlon, wo russische Athleten lange Sieganwärter waren und russische Funktionäre ihren Einfluss geltend gemacht haben.
Das Angebot des internationalen Biathlon-Verbandes für einen Start unter neutraler Flagge und ohne Nationaltrikot lehnten die Russen ab – und so kam es dann zum Ausschluss für die letzten Saison-Wettbewerbe. Russland habe „die Opferkarte gespielt", berichtete Lesser, „am Ende hat sich Russland selbst disqualifiziert". Er hält die Sanktionen im Sport für richtig, denn „man muss da auch die andere Seite betrachten: Die Ukrainer können es sich nicht aussuchen, die können gar nicht teilnehmen. Für die gibt es kein Ja oder Nein. Sie sitzen im Luftschutzbunker oder verteidigen ihr Land."
Zum ukrainischen Biathleten Dimitri Pidrutschni, der sich in der Heimat der Nationalgarde anschloss, hatte Lesser kurzzeitig Kontakt. Er selbst ist Berufssoldat, doch die Vorstellung, in den Krieg ziehen zu müssen, sei „schrecklich" für ihn. „Das kann und will ich mir nicht ausmalen", so Lesser: „Es macht mich traurig und nimmt mich auch persönlich mit." Auch die Meldung über den Tod eines jungen Ukrainers, der früher den Biathlonsport betrieb und nun bei der Verteidigung seines Heimatlandes gestorben ist, „ging mir sehr nahe".
Die Familie wurde im Laufe der Zeit immer wichtiger
Lesser wollte helfen – und er überließ der ukrainischen Biathletin Anastassija Merkuschyna für 24 Stunden seinen Instagram-Account. Der besteht aus 30.000 Followern aus Russland, weil Lesser im Januar seinem russischen Rivalen Eduard Latipow in der Corona-Quarantäne unterstützt hatte, was ihm zu einer gewissen Popularität im Riesenreich verholfen hat. Seine russischen Follower sollten durch Merkuschyna erfahren, was sie in den heimischen Propaganda-Medien nicht zu sehen, zu lesen oder zu hören bekommen. Die Ukrainerin veröffentlichte teils verstörende Fotos und Videos von Freunden in ihrem Heimatland nach der russischen Invasion.
Auch Lesser nimmt der Krieg mit. Er habe versucht, „professionell zu bleiben", die Geschehnisse in der Welt für ein paar Stunden auszublenden. Ein Leistungssportler müsse fähig sein, „seinen Job von seinen persönlichen Befindlichkeiten zu trennen". Zwischen Start und Ziel läge seine volle Konzentration auf dem Sport „und nicht auf dem, was aktuell in der Welt passiert". Erst nach dem Wettkampf sei die Zeit gekommen, sich wieder über den Krieg zu informieren und den Bedürftigen zu helfen.
Dafür hat er nun mehr Zeit, Lessers Karriere ist seit ein paar Tagen beendet. Auf die Heim-WM 2023 in Oberhof verzichtet er freiwillig, die Motivation ist nicht mehr voll ausgeprägt. Auch, weil sein Entschluss zum Rücktritt schon im vergangenen Sommer gereift war. Er habe gemerkt, „dass mir meine Familie immer wichtiger wird" und „dass mir im Training die Motivation immer wieder mal fehlte", gab der zweimalige Weltmeister zu: „Da dachte ich mir: Wenn ich nicht mehr richtig Lust auf Biathlon habe, dann kann ich auch zu Hause bleiben."
Dem Biathlonsport will Lesser jedoch erhalten bleiben. Er schlägt die Trainerkarriere ein, denn „ich habe nichts anderes gelernt", wie er scherzhaft anmerkte. In Wahrheit lässt ihn die Faszination der Sportart nicht los. „Vom Konditionellen bis zum Präzisionsschießen – und zugleich muss man im Kopf bereit sein für Erfolg oder Misserfolg", erklärte Lesser: „Die Komplexität macht es so spannend." Er wolle seine Erfahrungen weitergeben, bei seinen Nachfolgern nach Lösungen für Probleme suchen. „Ich glaube auch", so Lesser, „dass ich ein ganz guter Trainer werden könnte." Für die Funktionärskarriere ist er wohl zu direkt und zu meinungsstark.