Die Corona-Sommerwelle scheint ihren Höhepunkt noch nicht erreicht zu haben. Bereits jetzt wird aber an Maßnahmen für eine befürchtete Herbstwelle gearbeitet. Ein Kernpunkt dabei: Eine neue massive Impfkampagne.
Frankreich, Italien, Griechenland, allesamt schöne Urlaubsziele, und allesamt mit Corona-Inzidenzzahlen im vierstelligen Bereich, Tendenz steigend. Wie im Grunde eigentlich überall im westlichen Europa. Nur Portugal macht eine Ausnahme. Dort gehen die Zahlen nach extremen Höchstständen durch die explosionsartige Verbreitung der neuen Virusvarianten (BA.4 und BA.5) inzwischen wieder spürbar zurück. Spanien und die Benelux-Länder, lange Zeit auch Sorgenkinder, stehen derzeit im Vergleich noch recht entspannt da.
Urlaubsreisende sind eher durch das Chaos an Flughäfen geplagt und verärgert, aber nicht mehr durch die im vergangenen Jahr so aufwendigen Corona-Bestimmungen für Ein- und Ausreisen. Die Inzidenzzahlen scheinen niemanden mehr wirklich aufzuschrecken, ohnehin sind sie nicht mehr sonderlich aussagekräftig, abgesehen davon, dass sie eine gewisse Basis der Pandemieentwicklungen widerspiegeln. Die realen Infektionszahlen liegen nach allgemeiner Experteneinschätzung ohnehin deutlich höher. Und sie dürften zu einer erwarteten neuerlichen Herbstwelle früher und stärker ansteigen als im letzten Jahr. Davon zumindest gehen Virologen wie Christian Drosten aus. Es wäre womöglich ein nahtloser Übergang von der derzeitigen Sommerwelle, deren Entwicklung wohl in den nächsten Wochen noch deutlich dynamischer wird, zur Herbstwelle. Dass die heftiger ausfallen dürfte, davon geht auch der Epidemiologe Timo Ulrichs aus. Nach dessen Einschätzung wird auch die Hospitalisierungsrate steigen – und damit auch die Zahl der Todesfälle.
Mehrere Szenarien im Herbst denkbar
Die Warnungen stützen sich in der Regel auf Modellrechnungen und Simulationen, die von Modellierern wie Kai Nagel von der TU Berlin entwickelt werden. Er hatte Ende Mai, als so gut wie alle Corona-Maßnahmen zurückgenommen waren, prognostiziert, dass alles für eine weitere Infektionswelle spreche. „Wenn wir Glück haben, kommt diese Welle erst im Herbst, wenn wir Pech haben, kommt sie schon im Sommer." Wenige Wochen später erklärt Gesundheitsminister Lauterbach: „Die Sommerwelle ist Realität." Wir hatten demnach Pech.
Oder wir haben das Ansteckungspotenzial neuer Varianten unterschätzt, obwohl die möglichen Auswirkungen zuvor in Portugal zu beobachten waren.
Wie sich die Pandemie weiter entwickeln kann, versuchen Modellierer anhand verschiedener Parameter zu berechnen, wobei sie für die einzelnen Faktoren jeweils unterschiedliche Varianten durchspielen. Zu den Faktoren gehört beispielsweise, welche Virusvarianten kursieren, wie ansteckend die Varianten sind und welche Krankheitsverläufe davon ausgelöst werden. Welche Varianten die Evolution hervorbringt, lässt sich natürlich nicht wirklich voraussagen, aber einige Mechanismen dabei sind bekannt. Je verbreiteter ein Virus, umso mehr Mutationen können sich herausbilden. In der Regel setzen sich natürlich die durch, die ansteckender sind. Sie verbreiten sich schneller als die Vorgänger, müssen aber deshalb nicht zwingend auch gefährlicher in dem Sinn sein, dass sie schwere Krankheitsverläufe auslösen.
Die Folgen waren bereits mit der Omikron-Variante zu beobachten. Obwohl die Inzidenzzahlen so hoch wie nie zuvor waren, geriet das Gesundheitssystem nicht in Gefahr einer Überlastung. Allerdings sorgten – und sorgen – viele krankheitsbedingte Arbeitsausfälle für spürbare Konsequenzen.
Das würde auch einem möglichen Szenario für die Entwicklung im Herbst entsprechen. Würde Omikron (oder eine vergleichbare Variante) vorherrschen und die bereits vorhandene Immunität der Bevölkerung vor allem durch Impfungen und Boostern wirksam bleiben, würde es zu einer vergleichbar glimpflichen Herbstwelle kommen.
Etwas problematischer wäre ein zweites Szenario mit einer immunflüchtigen, sogenannten Escape-Variante. Das würde zu deutlich mehr Krankschreibungen und schwereren Verläufen führen, wäre aber für das Gesundheitssystem vermutlich beherrschbar.
Das kritischste Szenario geht von einer sehr ansteckenden Virusvariante aus, die zugleich auch schwere Krankheitsverläufe verursacht. Das würde dann richtig ernsthafte Probleme auch für das Gesundheitssystem bedeuten, mit allen notwendigen Konsequenzen. Nach allen Erfahrungen ist es aber eher unwahrscheinlich, dass sich eine Variante durchsetzt, die zugleich ansteckender und gefährlicher ist. Aber ausgeschlossen ist es eben nicht. Um bei diesem Szenario eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, wären ein wirksamer Omikron-Wirkstoff und eine 100-Prozent-Impfquote bei Menschen über fünf Jahren nötig. Ein „utopisches Ziel", wie auch Nagel befindet.
An beiden Baustellen wird gearbeitet. Am wirksamen Omikron-Impfstoff ohnehin schon lange. Der soll bis zum Herbst auch zugelassen sein. Was die Impfquote betrifft, sind die Vorbereitungen aber allem Anschein nach noch wenig weiter als im Ankündigungsstatus.
Sowohl der Bundesgesundheitsminister als auch seine Kolleginnen und Kollegen in den Ländern haben angekündigt, vor Herbst noch einmal eine intensive Impfkampagne starten zu wollen.
Wie die genau aussehen soll, ist noch offen, außer dass es „niedrigschwellige Angebote und Impfzentren vor Ort" geben soll. Zudem hat Gesundheitsminister Lauterbach angekündigt, ausreichend Impfstoff für alle Virusvarianten zu besorgen, damit es für alle ein Angebot geben kann, auch wenn das im Zweifel dazu führen sollte, dass nicht gebrauchter Impfstoff am Ende vernichtet werden müsste. Das klingt zunächst nicht sonderlich ökonomisch, ist aber nach den Erfahrungen der Vergangenheit wohl geboten. In den ersten Impfphasen gab es einen beträchtlich großen Teil von Menschen, die erklärten, nicht grundsätzlich gegen eine Impfung zu sein, aber Bedenken gegen den einen oder anderen Impfstoff zu haben. Teilweise war das zutreffend, teilweise war es schlicht Schutzbehauptung. Mit Zulassungen weiterer Impfstoffe stieg zwar die Impfquote, aber eben in einem lediglich überschaubaren Maß. Was die Impfbereitschaft erkennbar erhöht hat, war die Aussicht, dass Geimpfte mehr Bewegungsspielräume hatten als Ungeimpfte. Dieses Motiv ergab eine ganze Reihe von Untersuchungen und Befragungen. Naheliegend wäre also, für Impfen (und Boostern) mit dem Hinweis auf mögliche Folgen zu werben. Nicht, um Angst zu verbreiten, sondern mit guten Argumenten ganz realer Szenarien.
Impfungen sind die schärfste Waffe
Es wird nicht umsonst daran gearbeitet, in einem neuen Infektionsschutzgesetz den Ländern Möglichkeiten zu wieder verschärften Maßnahmen einzuräumen, wenn es denn die Entwicklungen erfordern sollten. Maskenpflicht, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen sind wieder denkbar. Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, würde auch Lockdowns als Möglichkeit nicht ausschließen: „Es wäre fahrlässig, diese Instrumente nicht in den Werkzeugkasten zu legen."
Wenn weiterhin vor allem eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden soll, bleiben Impfungen nach wie vor die schärfste Waffe. Sie verhindern bekanntlich keine Ansteckung, tragen aber zu milden Verläufen bei, die Krankenhausaufenthalte, gar mit Intensivbehandlung, vermeiden helfen.
An die Omikron-Varianten angepasste Impfstoffe gibt es längst. Die umfangreichen Studien zur Zulassung dauern. Es macht Sinn, zuerst zu prüfen, ob die weiterentwickelten Impfstoffe auch tatsächlich besser sind als die bereits vorhandenen, und deren Wirksamkeit durch immer neue Studien zu untermauern.