Deutschland und Frankreich arbeiten bei der Provenienzforschung nach NS-Raubgut enger zusammen. Dazu gehören auch viele literarische Werke in deutschen Bibliotheken.
Bücher sind das papierene Gedächtnis der Menschheit." So formulierte es einst Arthur Schopenhauer. Deshalb ist es so wichtig, sie zu erhalten. Und deshalb ist es auch immer wieder ein feierlicher Akt, wenn verloren geglaubte Bücher wiedergefunden und an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden. So wie am 10. März dieses Jahres, als die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) 33 Bücher an Vertreter der französischen Zeitung „Le Figaro" übergab. Sie waren 1940 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris beschlagnahmt worden und gelangten später in den Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin. Dort konnte sie das Provenienzforschungs-Team der Redaktion der Zeitung zuordnen. Bei der Übergabe betonte Achim Bonte, Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin: „Die Staatsbibliothek ist sich ihrer Verantwortung als führende deutsche Bibliothek in der Zeit des Nationalsozialismus bewusst. Wir arbeiten seit über 15 Jahren intensiv an der Prüfung unserer immensen Sammlungen auf unrechtmäßige Erwerbungen. Gleichzeitig leisten wir Grundlagenforschung zu den Verteilerwegen geraubter Bücher." Laut Hermann Parzinger, Präsident der SPK, konnten aus der Staatsbibliothek in den letzten 20 Jahren mehr als 2.000 Werke zurückgegeben werden.
Für die französische Botschafterin Anne-Marie Des- côtes erfolgte die Rückgabe der Werke an den „Figaro" zu einem historischen Zeitpunkt: „Die französische Nationalversammlung hat gerade erst einstimmig ein Gesetz angenommen, welches die Rückgabe von geraubten Kulturgütern anordnet, beziehungsweise den rechtmäßigen Eigentümern und ihren Nachfahren ein Recht auf Aushändigung solcher Gegenstände einräumt. Voraussetzung ist hierbei die Enteignung aufgrund antisemitischer Verfolgung während der Okkupationszeit."
Rund 2.000 Werke zurückgegeben
Um geraubte Kulturgüter zu identifizieren und die Besitzverhältnisse zu klären, gibt es die Provenienzforschung. Sie beschäftigt sich mit der Herkunft, also der Provenienz, von Kunstwerken und Kulturgütern. In Deutschland steht dabei die Suche nach sogenannter Beutekunst oder Raubkunst während der Kolonialzeit und insbesondere der NS-Zeit im Vordergrund. Seit 2007 gibt es dafür in der Staatsbibliothek einen eigenständigen Arbeitsbereich. Auch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) untersucht seit 2002 Bücher, die als „Raubgut" in der Zeit des Nationalsozialismus ihren verfolgten und ermordeten, meist jüdischen Eigentümern weggenommen wurden. Ziel ist die Rückgabe der Bücher an ihre Eigentümer. Bisher kamen mehr als 1.000 Objekte, zumeist Bücher, an Institutionen und an Erben von Privatpersonen zurück. Dazu zählen auch zehn Bücher aus den „Œuvres complètes de Voltaire", die am 23. Mai in der französischen Botschaft Berlin übergeben wurden. Sie werden in die Sammlungen des Service des archives économiques et financières (SAEF) der Wirtschafts- und Finanzministerien aufgenommen. „Die ZLB stellt sich der moralischen und ethischen Frage, woher die Bestände unserer Bibliothek kommen und unter welchen Umständen sie in unseren Besitz gelangten. Mit dieser Rückgabe an Frankreich soll daher zum einen Wiedergutmachung geleistet werden", betont Volker Heller, Generaldirektor der ZLB. „Zum anderen aber soll damit die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und die daraus resultierenden Katastrophen wachgehalten werden. In Zeiten, in denen in Europa wieder Krieg herrscht, wo Militarismus, Angst, Tod und Vertreibung uns erreicht haben, ist dieser Aspekt wahrscheinlich der Wichtigste."
Auch für Julien Acquatella, Büroleiter der Außenstelle in Berlin von CIVS, der Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung während der Okkupationszeit, verkörpern diese und die anderen Bücher nicht nur kulturelle und politische Aspekte. „Bücher sind Erinnerungsträger, für Biografien, für die Geschichten, die sie erzählen, aber auch das Geschehene, das sie auf besondere Weise betrachten." Nachdem 2018 der damalige französische Premierminister Philippe zunehmend die französische Forschungs- und Restitutionspolitik förderte, intensivierten sich die Beziehungen zwischen französischen Behörden und deutschen Kulturinstitutionen. Um Kooperationen im Bereich der Provenienzforschung und der Erbensuche zu knüpfen, haben sich französische Behörden bei verschiedenen Museen und Bibliotheken im Nachbarland gemeldet. Daraus entstand eine hervorragende Zusammenarbeit mit der ZLB. „Wenn sie neue Funde mit einem Bezug zu Frankreich haben, melden sie sich bei uns, und wir machen es bei französischen Behörden bekannt."
Transparenz und Vernetzung wichtig
Um die deutsch-französische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu vertiefen, wurde Ende Mai eine Kooperationsvereinbarung im Bereich Provenienzforschung zur Identifizierung von NS-Raubgut und zur Förderung fairer und gerechter Lösungen unterzeichnet. Partner sind dabei das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (Zentrum), die CIVS und die Mission de recherche et de restitution des biens culturels spoliés entre 1933 et 1945 du ministère de la Culture (M2RS).
Die Vereinbarung sieht eine enge Zusammenarbeit bei der Suche nach und der Erforschung von NS-Raubgut, der Dokumentation sowie der Öffentlichkeitsarbeit vor. Dabei wird der bereits bei der Aufarbeitung des Kunstfunds Gurlitt erfolgreich praktizierte Informationsaustausch zwischen dem Zentrum und der CIVS erweitert. Vorgesehen sind regelmäßige Treffen und gemeinsame Veranstaltungen. Zudem wird eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt, um die aktuellen Themen der Zusammenarbeit aufzubereiten und die Umsetzung zu begleiten. Die Vorsitzende des Stiftungsrates des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, Staatsministerin Professorin Monika Grütters, erklärt: „Mit der Kooperationsvereinbarung realisieren wir einen weiteren Schritt zur effektiven Umsetzung der Washingtoner Prinzipien von 1998, die mit ihrer Formulierung der ‚gerechten und fairen‘ Lösungen weltweit Maßstäbe gesetzt haben. Entscheidende Grundlagen der Provenienzrecherche sind Transparenz und Vernetzung, denn die geraubten und entzogenen Kunstwerke sind in viele Teile der Welt verstreut. Daher ist eine internationale Zusammenarbeit besonders wichtig." Rüdiger Hütte vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste sieht im Austausch der Forschungserkenntnisse und wissenschaftlichen Expertise eine Stärkung der institutionellen Netzwerke zwischen beiden Ländern. Für Michel Jeannoutot, Präsident der CIVS, zeugt die Zusammenarbeit durch ihre Einzigartigkeit und Stärke vom Willen der beiden Länder, die Umsetzung der Washingtoner Grundsätze neu zu beleben. Für die erst kürzlich eingerichtete M2RS ist es die erste konkrete Handlung. Es sei wichtig, mit der Annäherung an die deutschen Partner zu beginnen, so deren Leiter David Zivie. Für ihn ist die Entwicklung eines Forscher- und Expertennetzwerks ein grundlegendes Element seiner Arbeit, um schneller voranzukommen und Informationen über gemeinsame Fälle austauschen.