Die Blutvergiftung ist eine der Haupttodesursachen. Experte Dr. Matthias Gründling, Intensivmediziner und Gründungsmitglied der Deutschen Sepsisgesellschaft, hat mit uns über Anzeichen, mögliche Ursachen und Diagnostik gesprochen.
Herr Dr. Gründling, was genau ist eine Sepsis?
Eine Sepsis ist eine lebensbedrohliche Erkrankung – ein Notfall. Sie ist dadurch bedingt, dass eine Infektion außer Kontrolle gerät. Wirt und Erreger sich damit auseinandersetzen. Diese außer Kontrolle geratene Auseinandersetzung führt dann zu Organversagen, zum Beispiel zum Versagen der Gehirnfunktion, der Lunge, der Leber oder der Nieren. Kurz gesagt: eine außer Kontrolle geratene Immunreaktion auf eine Infektion mit einem zusätzlichen Organversagen.
Welche Verletzungen und Infektionen führen am häufigsten zu einer Sepsis?
Die Hauptursache für eine Sepsis ist die Lungenentzündung. Gefolgt von Harnwegsinfektionen oder Infektionen im Bauchraum – je nach Studie Position zwei oder drei. Nicht etwa Verletzungen, die dann zum berühmten „roten Strich zum Herzen“ und schließlich zur Sepsis führen. Verletzungen, die sich infiziert haben, sind eher seltene Ursachen.
Was sind die Anzeichen – Schüttelfrost, Fieber, Krankheitsgefühl oder Herzrasen treten ja bei vielen Infektionen auf…
Der Klassiker ist ein Patient, der Fieber und Schüttelfrost hat. Aber leider gibt es auch Patienten, die beides nicht haben. Wenn Patienten Anzeichen im Herz-Kreislauf-System zeigen, also etwa einen schnellen Herzschlag, eine schnelle Atmung, niedrigen Blutdruck kann das auch auf eine Sepsis hinweisen. Manchmal fühlen sich die Patienten schwer krank, teilweise sterbenskrank, erleiden Todesangst. Ein empfindliches Anzeichen ist, dass die Betroffenen plötzlich sehr verwirrt sind oder bewusstseinsgetrübt, dass sich also die Gehirnfunktion verändert – das ist schon ein Zeichen des Organversagens. Es können auch nachlassende Urinausscheidung oder Veränderungen an der Haut – zum Beispiel schlechte Durchblutung, fleckig, kalt, schweißig – vorkommen. Zusammengefasst sind diese Anzeichen alle sehr unspezifisch, es gibt sie auch bei vielen anderen Erkrankungen und das macht es letzten Endes so schwierig, die Sepsis zu erkennen, da ganz gewöhnliche Erkrankungen wie Erkältung oder Grippe ähnliche Symptome aufweisen. Auch ein Schlaganfall kann ähnliche Symptome verursachen, etwa Bewusstseinstrübung und Desorientiertheit. Deshalb ist die Sepsis sehr viel schwieriger als andere Notfälle wie zum Beispiel ein Schlaganfall zu erkennen, wo etwa eine Körperhälfte gelähmt ist oder Sprachstörungen auftreten oder ein Herzinfarkt, wo es links am Brustkorb wehtut und wo dann auch ganz typische Schmerzen im Brustkorb wie Brustenge auftreten. Darum ist es bei Verdacht auf Sepsis wichtig, dass man sehr gezielt danach sucht und den Patienten gründlich untersucht. Man sagt auch „eine Sepsis screenen“: Man schaut sich gewisse Parameter an und wenn die erfüllt sind, muss man der Ursache einer möglichen Sepsis ganz genau nachgehen.
Wie kann man Sepsis sicher diagnostizieren? Und wie werden Betroffene dann im Krankenhaus behandelt?
Bei Sepsis-Verdacht muss man die Diagnostik in die Wege leiten. Das geschieht, indem man die Patienten oder die Angehörigen zunächst befragt, wie es zu diesem Zustand gekommen ist, also eine genaue Anamnese und Befragung durchführt. Vielleicht auch nach den Risikofaktoren fragen und ob der Patient in den letzten Wochen schon Antibiotika eingenommen hat. Dann folgt eine exakte klinische Untersuchung, in der man zum Beispiel die Lunge abhört, den Bauch untersucht, die Nieren. Somit hat man schon die drei wichtigsten Quellen für eine Infektion und für eine Sepsis betrachtet. Danach wird eine apparative Untersuchung durchgeführt, zum Beispiel eine Computertomografie, eine Röntgenuntersuchung oder eine Sonografie, die es uns dann ermöglicht, den Verdacht auf eine Infektion zu erweisen. Ganz wichtig ist, dass man Laborwerte abnimmt. Als allererstes erfolgt die Abnahme von Blutproben, aus denen man Blutkulturen anlegt, die dann gebrütet werden, um mögliche Bakterien nachzuweisen und um daraus abzuleiten, welches Antibiotika bei dem Patienten genau notwendig ist und entsprechend wirkt. Weitere Laborwerte können dann anzeigen, dass es sich um eine Entzündung und Infektion handelt. Die Diagnostik ist also sehr umfangreich und muss wegen der lebensbedrohlichen Situation oftmals parallel zur Behandlung des Patienten erfolgen. Dieser muss schon Flüssigkeit erhalten, ebenso kreislaufunterstützende Maßnahmen, muss Sauerstoff zugeführt bekommen und dann auch Antibiotika, die man zunächst kalkuliert, also aus einer Vermutung heraus sehr breit bei den Patienten anwendet.
Wie schnell müssen die Antibiotika verabreicht werden?

Die schnelle Gabe von Antibiotika muss möglichst innerhalb der ersten Stunde nach der Diagnose erfolgen. Je später man Antibiotika bei einer Sepsis gibt, desto höher ist die Sterblichkeit der Patienten – das ist bewiesen.
Wenn die Ursache durch eine Operation zu behandeln ist, dann muss man diese auch sehr schnell durchführen, zum Beispiel bei einer Entzündung im Bauchraum durch einen geplatzten Blinddarm. Ein infizierter Port (beispielsweise bei Chemotherapie-Patienten) muss entfernt werden, eine infizierte Hüftprothese auch, wenn es da eine schwere Infektion gibt. Das ist die sogenannte Herdsanierung. Und dann muss man ganz allgemeine intensivmedizinische Maßnahmen durchführen: zum Beispiel bei beeinträchtigter Lungenfunktion dem Patienten Sauerstoff zuführen, ihn künstlich beatmen, möglicherweise sogar eine Ecmo-Behandlung – also eine künstliche Lunge – durchführen. Oder wenn die Niere betroffen ist eine Dialyse. Bei Lebererkrankungen mit Herz-Kreislauf-Beteiligung entsprechende Medikamente geben, die diese Organsysteme unterstützen. Leider gibt es das eine Medikament nicht, das diese dysregulierte Immunantwort auf die Infektion behandeln könnte. Daher geht es am Ende darum, die Patienten schnell zu erkennen und schnell das Antibiotikum zu geben, schnell den Herd zu sanieren und schnell die Organfunktion zu stabilisieren.
Dauert es manchmal länger, bis man die Ursache gefunden hat?
Es ist zunächst schwierig, eine Sepsis zu erkennen. Die Quelle der Sepsis zu finden, ist meist hingegen nicht so kompliziert, wenn man sich an den drei Hauptursachen orientiert. Durch die Anamnese und Untersuchung des Patienten kann man ganz oft darauf kommen und wenn es darüber nicht möglich ist, hat man durch eine Computertomografie oder eine Röntgenuntersuchung sehr schnell die Quelle einer Sepsis. Natürlich gibt es immer mal Patienten, bei denen man die Ursache nicht so schnell findet. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn diese irgendwelche Fremdkörper haben wie das angesprochene künstliche Hüftgelenk oder das Port-System – so ein System, worüber zum Beispiel Chemo-Therapie gegeben wird. Diese Systeme haben Patienten mit Tumor-Behandlungen ganz oft Jahre später noch, obwohl sie gar nicht mehr gebraucht werden, und diese können dann durchaus eine Ursache sein, weil sich dieses Plastikmaterial mit Keimen besiedelt und dann zu einer Sepsis-Infektion führen kann. Eine seltene Ursache, die auch schwer zu finden ist, ist die sogenannte Spondylodiszitis, bei der es zu eitrigen Entzündungen an der Wirbelsäule kommt, die immer wieder in den Körper streuen und am Ende zu einer Sepsis führen können. Es gibt auch Patienten, bei denen wir den Herd gar nicht finden. Diese behandeln wir dann einfach mit Antibiotika, und es kommt dadurch zu einer Besserung.
Könnte im Prinzip aus jeder Infektion eine Sepsis werden?
Die Sepsis kann im Prinzip jeden treffen aus diesen Infektionen und Entzündungen heraus. Das Problem entsteht, wenn es außer Kontrolle gerät. Der häufigste Risikofaktor für eine Sepsis ist sicherlich das Alter der Patienten. Ältere Patienten erleiden häufiger eine Sepsis und sterben auch häufiger daran. Die Ursache liegt darin, dass viele Begleiterkrankungen existieren, dass sie manchmal eine Immunschwäche haben, dass sie Medikamente nehmen, die zu Immunschwäche führen – zum Beispiel Prednisolon bei Asthma- oder bei Rheuma-Patienten. Auch bei Neugeborenen und Säuglingen kommt es häufiger vor. Immunschwache und chronisch Kranke sind auch besonders gefährdet. Genauso frisch Operierte durch das Risiko einer Infektion im Operationsbereich. Der Krankenhausaufenthalt insgesamt ist ein Risiko, Stichwort Hospitalkeime. Dann auch Diabetes, Herz-Lungen-Erkrankungen und eben Fremdkörper. Eine Sepsis kann aber jeden treffen. Auch völlig gesunde Menschen ohne jegliche Risikofaktoren. Wir wissen leider nicht, warum es der eine bekommt und der andere nicht.
Wie häufig ist eine Sepsis und wie viele Fälle verlaufen in Deutschland tödlich?
Die Sepsis ist tatsächlich eine sehr häufige Erkrankung. In Deutschland schätzt man ungefähr 200.000 bis 500.000 Fälle jedes Jahr. Das ist ein bisschen schwierig zu erfassen, da die Daten aus sogenannten Verschlüsslungsdaten resultieren. Also wenn eine Sepsis im Krankenhausverlauf nicht codiert wird, dann wird sie auch nicht erfasst in diesen Daten. Bei den Todesfällen ist es ähnlich. Es gibt da unterschiedliche Angaben. Die meisten deuten darauf hin, dass es mehr als 75.000 Todesfälle jedes Jahr in Deutschland gibt. Die Sepsis ist eine der Haupttodesursachen in Deutschland und die richtige Behandlung deshalb extrem wichtig.
Was sind die größten Irrtümer?
Die Wunde, die mit Schmutz in Berührung gekommen ist, und der rote Strich, der anzeigt, dass die Sepsis jetzt zum Herzen geht. Der rote Strich ist eine Entzündung von Lymphwegen und hat mit der Sepsis an sich überhaupt nichts zu tun. Das ist etwas extrem Seltenes. Ein anderer weit verbreiteter Irrtum ist, dass Sepsis durch Krankenhauskeime entsteht, bei denen kein Antibiotika mehr wirkt. Tatsächlich gibt es auch solche Sepsis-Patienten, aber die meisten haben keine antibiotikaresistenten Keime, sondern ganz normale Erreger, die man gut behandeln kann – man muss die Sepsis nur erkennen. Ein anderer weit verbreiteter Fehlglaube ist, dass man durch bessere Hygiene – etwa Händedesinfektion im Krankenhaus – einen großen Teil der Sepsisfälle umgehen könnte, dem ist auch nicht so. Es gibt Schätzungen, dass tatsächlich 2.000 bis 4.000 Sepsistote durch bessere Hygiene vermeidbar sind. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Fälle.
Experten sprechen oft von Defiziten in der Sepsisbehandlung. Was läuft da falsch?
In Deutschland gibt es von Krankenhaus zu Krankenhaus Unterschiede in der Sterblichkeit. In den Häusern, in denen man sich bemüht, Ärzte und Pflegepersonal immer wieder auf Früherkennung, richtige Diagnostik, richtige Blutkulturentnahme und schnelle Behandlung zu schulen, nimmt die Sterblichkeit ab. Dazu gibt es viele nationale und internationale Daten. Wir haben in Deutschland noch ein erhebliches Defizit sowohl in den flächendeckenden Schulungen also auch routinemäßig in Notaufnahmen und auch in Normal- und Intensivstationen, auf Sepsis zu screenen. Auch ist die mikrobiologische Diagnostik – also die Verarbeitung von Blutkulturen – etwas, was nicht flächendeckend abgesichert ist. Es gibt zum Beispiel in den wenigsten Krankenhäusern rund um die Uhr mikrobiologische Diagnostik, was für andere Laborwerte wie das Herzinfarktenzym, das zur Diagnostik des Herzinfarkts notwendig ist, selbstverständlich ist. Das müsste unbedingt verbessert werden.
Und wenn man eine Sepsis überlebt hat ist es oftmals so, dass die Behandlung danach auch sehr anspruchsvoll ist. Man weiß, dass Patienten an Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, dass sie oft Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen ertragen müssen, dass sie kognitive Einschränkungen haben, also Merkfähigkeitsstörungen. Leider ist die Kenntnis darüber in der Nachbehandlung nicht ausgeprägt da. Patienten werden oft von dem einen zum anderen Arzt geschickt, teilweise als Simulanten abgestempelt; da fehlt noch Struktur in der Sepsisrehabilitation. Oder bei ganz einfachen Dingen – zum Beispiel Patienten und Angehörige darüber zu informieren, dass sie überhaupt eine Sepsis hatten, dass Hausärzte sich darum kümmern müssen, wenn entsprechende Symptome auftreten. Deswegen gibt es Bestrebungen, einen Patientenbrief zu schreiben, der den Betroffenen direkt über sein Leiden informiert, nicht nur die nachbehandelnden Ärzte in Fachmedizinisch.
Kann man in den nächsten Jahren eine Verbesserung des Sepsis-Screenings erwarten?
Es gibt hoffnungsvolle Daten aus Amerika bezüglich automatisierter Screeningtools. Da ist diesen Sommer zum ersten Mal eine Studie erschienen, die beweisen konnte, dass durch die Auswertung einer Vielzahl von elektronischen Daten durch künstliche Intelligenz – zum Beispiel Laborwerte, Kreislaufwerte – tatsächlich die Sepsis eher erkannt wurde, als es sonst der erfahrene klinische Arzt oder die Schwester kann und auch die Sterblichkeit reduziert wird. Da wird sich in den nächsten Jahren viel tun. Aktuell ist es aber leider noch so, dass wir bei uns im Krankenhaus mit einer Kitteltaschenkarte arbeiten und damit Sepsis screenen und erkennen.