Mit dem Wort „historisch" sollte man behutsam umgehen. Wenn damit einschneidende Veränderungen bezeichnet werden, dann war 2022 für das Saarland durchaus „historisch".
Am 27. März schicken die Wählerinnen und Wähler die CDU nach fast einem Vierteljahrhundert Regierungsverantwortung in die Opposition. Mehr noch: Die SPD erringt die absolute Mehrheit der Sitze im Landtag und kann künftig alleine regieren. Dass der kleinere Partner einer großen Koalition die Wahl gewinnt, ist schon ziemlich außergewöhnlich. Dass nach den Entwicklungen der Parteienlandschaft seit vielen Jahren eine Partei eine absolute Mehrheit erringen konnte, ist einzigartig.
Der CDU haben einige Wenden, etwa zu G9 im Wahlkampf, ebenso wenig geholfen wie ein Spitzenkandidat, der mit einem Tankstellenvideo gegen steigende Spritpreise zu Felde ziehen wollte. Die Grünen scheiterten äußerst knapp, 23 Stimmen fehlten: Ergebnis lang anhaltender innerer Zerstrittenheit, die im Jahresverlauf immer wieder aufflackern sollten. Die Linke bekommt ebenfalls die Quittung für personelle Dauerquerelen und fliegt aus dem Landtag. Die FDP scheitert zum dritten Mal in Folge. Vier Wochen nach der Wahl, am 25. April, legt Anke Rehlinger den Amtseid als Ministerpräsidentin ab. Als erstes Regierungsprojekt wird die lange und heftig diskutierte Rückkehr von G8 zu G9 auf den Weg gebracht.
Ende Mai stellt die CDU personelle Weichen für einen Neuanfang in der Opposition. Stephan Toscani, zuletzt Landtagspräsident, wird neuer CDU-Landesparteichef. Im Vorfeld hatte die Partei auf Regionaltreffen mit der Ursachenanalyse für den Machtverlust begonnen. Kernpunkte: Die lange Regierungszeit habe zu inhaltlicher Unkenntlichkeit und einer Entfremdung von Regierung/Parteispitze und der Basis geführt.
Transformationsfonds soll Strukturwandel gewährleisten
Im Juni erschüttert die Entscheidung von Ford gegen den Standort Saarlouis (und für Valencia) das Land. Auch wenn die Hoffnung bis zuletzt hielt, die Landesregierung Ford ein Konzept vorlegte, das nur schwer abzulehnen war, die Ministerpräsidentin in die USA zur Konzernzentrale flog, kommt die Entscheidung nicht völlig unerwartet. Später kommt es zu einer Vereinbarung mit Ford über den künftigen Umgang mit dem Gelände, das dem Unternehmen gehört. Im November wird ZF die Entscheidung für den Standort Saarbrücken als Elektro-Leitwerk und 300 Millionen Euro Investitionen und Unterstützung vom Land bekannt geben. Nach der Ford-Entscheidung ein wichtiges Signal für das bislang vom Verbrenner abhängige Autoland Saarland.
Im September stellt die Landesregierung ein Instrument vor, mit dem der Strukturwandel zu einem klimaneutralen Industriestandort gelingen soll: den Transformationsfonds. Volumen: drei Milliarden Euro. Befürworter sehen darin eine Art Befreiungsschlag, Kritiker warnen unter Berufung auf den Rechnungshof vor einer Schuldenspirale, die das Saarland handlungsunfähig machen könnte. Verfassungsrechtlich ist die Konstruktion als Sondervermögen – begründet durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine – umstritten. Andere Länder blicken aus unterschiedlichen eigenen Interessen aufmerksam auf die Pläne. Die CDU legt im November ein Gegenkonzept vor, das ebenfalls Investitionen in einer Größenordnung von drei Milliarden Euro vorsieht. Die will die CDU aber anders organisieren und höchstens eine Milliarde Schulden aufnehmen. Das Konzept soll auch die neue Rolle als „konstruktive Opposition" unterstreichen. Gleichzeitig muss sich die CDU mit negativen Schlagzeilen auseinandersetzen: Rücktritt des Vorsitzenden der Nachwuchsorganisation JU nach Vorwürfen sexueller Belästigungen und Ermittlungen wegen des Verdachts auf Untreue gegen Handwerkskammerpräsident Bernd Wegner, der zugleich wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion ist.
Am Ende des Jahres steht eine gestärkte SPD, die in Alleinregierung ihr zentrales Projekt Strukturwandel vorantreibt, eine CDU am Anfang eines Neuaufbaus, eine AfD, an deren Zustand sich auch nach Neuwahlen nicht allzu viel verändert hat, Grüne, die sich immer noch schwer mit den inneren Verhältnissen tun, und eine Linke, die ums Überleben kämpft. Für alle steht das Jahr 2023 im Zeichen der Vorbereitung auf die Kommunalwahl 2024.