Die Zahl der Fachkräfte im Handwerk sinkt. Dabei braucht die Energiewende vor allem eines: Handwerker. Thomas Otto von der Arbeitskammer und Bernd Reis von der saarländischen Handwerkskammer über Ansätze, die die Lage verbessern könnten.
Herr Reis, der Fachkräftemangel im Saarland als Land im Strukturwandel ist eklatant. Wie ist der Stand der Dinge derzeit aus Sicht der Kammer?
Bernd Reis: Zunächst einmal müssen wir den demografischen Verlauf kompensieren. Das bedeutet, dass derzeit die Babyboomer-Jahrgänge (Geburtenjahrgänge vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis Mitte der 60er-Jahre) nach und nach in Rente gehen. Diese Menschen müssen wir im Arbeitsmarkt ersetzen. Doch es gibt zusätzlichen Bedarf darüber hinaus. Aus den neuen Zielen der Bundesregierung für den Klimaschutz ergeben sich Aufträge für das Handwerk. Diese müssen personell gestemmt werden. Dafür brauchen wir Ressourcen vor allem in den Bereichen, in denen die Klimapolitik der Bundesregierung umgesetzt werden soll: Handwerksbranchen wie Elektro, Sanitär, Heizung und Klimatechnik benötigen nach Berechnungen der Handwerkskammern 100.000 zusätzliche Stellen, um die erwartete und teils schon eingetretene Auftragslage bewältigen zu können. Wir stehen also zwei Herausforderungen gegenüber: dem demografischen Wandel und der Erfüllung klimapolitischer Ziele. Hinzu kommt, dass es auch geeignete Bewerberinnen und Bewerber braucht, um die freien Stellen im Handwerk zu besetzen. Es wird häufig so getan, als wäre jeder, der die Schule verlässt, problemlos im Handwerk einsetzbar. Dem ist nicht so. Wir wissen, dass laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung 48.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland nicht den Hauptschulabschluss erreichen und dementsprechend nicht über die nötigen Kompetenzen zur Aufnahme einer Ausbildung verfügen. Hier ist aus unserer Sicht auch die Bildungspolitik gefragt, passende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Demografie, Bildung und Klimapolitik
Was sagt die Arbeitskammer hierzu, Herr Otto, die ja verstärkt in diesen Bereichen geforscht hat?
Thomas Otto: Das kann ich im Großen und Ganzen so bestätigen. Wir reden von 400.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die das Saarland, das sich in der Transformation befindet, anstrebt. So steht es im Regierungsprogramm der SPD. Die Zahl muss man erklären: Wir brauchen Arbeitskräfte, denn die Transformation ist kein Fachkräfte-Rationalisierungsprogramm. Die grüne Energiewende funktioniert nicht ohne Menschen. Eine Wärmepumpe kann man von Berlin aus fördern, einbauen muss sie ein Handwerksbetrieb. Die Zahl beinhaltet aber auch eine politische Komponente: Ohne sie haben wir nicht genügend Kaufkraft, nicht genügend Steueraufkommen im Land, was bedeutet, dass wir Ausgaben und Leistungen im Land infrage stellen werden.
Doch beim Anstreben dieser Zahl gibt es Schwierigkeiten, sagt das IAB.

Otto: Das stimmt. Um die 25 bis 30.000 Arbeitskräfte werden wir laut Prognosen in den kommenden zehn Jahren verlieren: wegen des demografischen Wandels und vieler anderer Gründe. Jetzt könnte man sagen, bei 35.600 Arbeitslosen im Land hätte man rein rechnerisch Vollbeschäftigung. So einfach ist das natürlich nicht. Nicht jeder von den Arbeitslosen ist gleich ein Beschäftigter, aber ja, wir verfügen über ein gewisses Reservoir an Menschen, dabei auch Gruppen mit spezifischen Anforderungen wie Frauen, ältere Beschäftigte, Migranten und gering Qualifizierte. Nun muss man wissen: 69.000 Menschen mit sozialversicherungspflichtiger oder geringfügiger Beschäftigung im Saarland haben keinen Berufsabschluss. Diese können qualifiziert werden. Unter den Arbeitslosen sind jedoch ebenfalls 21.000 Menschen ohne Berufsabschluss. Diese sind schwer vermittelbar, können also die wegfallenden Fachkräfte nicht so einfach ersetzen. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist nach der Pandemie nicht signifikant gesunken. 12.800 Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos, 25 Prozent mehr als noch 2019.
Das größte Potenzial sehe ich bei jungen Menschen, hier ist in der Tat die Bildungspolitik gefordert. 27.000 junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren sind ohne Berufsabschluss. Schaue ich mir die Großregion an, liegt die Zahl derer über alle Regionen bei etwa zehn Prozent. Es ist also ein flächendeckendes, regional übergreifendes Problem. Zu den 27.000 im Saarland kommen 4.000 im Übergang zwischen Schule und Beruf. Perspektiven gibt es auch bei der Frauenerwerbsquote, sie steigt, ebenso die Zahl der älteren Beschäftigten und der Migranten in Arbeit. Aber es reicht bei Weitem noch nicht aus. Bei der Gruppe der Migranten hängt es oft an der Sprache: Wer sein Sprachzertifikat noch nicht hat, darf oft noch nicht arbeiten, obwohl er gut Deutsch spricht.
Aber hat das Handwerk nicht auch ein Image-Problem, wenn Schülerinnen und Schüler den Master einer Gesellenprüfung vorziehen und sich lieber einen Betrieb mit Viertagewoche oder Home-Office-Möglichkeit suchen?
Reis: Eine Studie untersuchte kürzlich unsere Image-Kampagne, die die Handwerkskammern Jahr für Jahr finanzieren: 87 Prozent der Deutschen halten das Handwerk für wichtig. Wenn wir aber die Frage stellen, ob die Deutschen ihren Kindern eine Ausbildung im Handwerk empfehlen, bejaht das nur ein Viertel. Handwerk gilt noch immer als etwas Antiquiertes, etwas, das nur mit körperlicher Arbeit zu tun hat. Als Handwerkskammer ist und bleibt es deshalb unsere Aufgabe, in die Öffentlichkeit zu tragen, wie vielseitig modernes Handwerk ist. Essenziell ist auch, dass es uns gelingt, aufzuzeigen, wie vielfältig die Weiterbildungsmöglichkeiten und beruflichen Entwicklungschancen in ganz unterschiedlichen Gewerken sind. Für viele kann es zum Beispiel interessant sein, sich nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung noch zum Betriebswirt des Handwerks weiter zu qualifizieren oder ein anderes Studium draufzusetzen. Im Rahmen unserer Kammerarbeit steht es für uns ganz oben auf der Agenda, über die Innovationskraft, die Technisierung und die Kreativität zu informieren, die unsere Berufe einzigartig machen. Mit der Viertagewoche haben einige unserer Mitgliedsbetriebe bereits gute Erfahrungen gemacht, Homeoffice ist in einigen Handwerksbetrieben allerdings eher weniger umsetzbar.
Otto: Handwerk hat goldenen Boden, das Sprichwort entspricht mittlerweile mehr denn je der Realität. Wahr ist aber auch: Im Saarland arbeiten die meisten Handwerksmeister in der Industrie. Diese Abwanderungsbewegung aus dem Handwerk in die Industrie geschah auch dadurch, weil die Industrie mit klaren Tarifmodellen und Mitbestimmung erfolgreich geworben hat. Das Handwerk hatte darauf keine klare Antwort. Es gibt dort mittlerweile auch Vorbilder, aber noch immer ist der Lohnabstand von Handwerk zu Industriebetrieb relativ hoch. Hier gibt es also in der Vergangenheit und bis heute Punkte, an denen das Image des Handwerks gelitten hat. Und das wirkt bis heute nach und es braucht Zeit, bis die positiven Seiten des Handwerkerberufes wie die Karrieren, Wahlfreiheiten, die Selbstständigkeit, Kreativität und Technologie dieses Image im Positiven ablösen.
Reis: Hier müssen wir aber auch feststellen: In der Industrie liegen die Arbeitskosten bei 30 Prozent, 70 Prozent sind Kapitalkosten. Im Handwerk ist dies genau umgekehrt. Jede Erhöhung des Tariflohns schlägt also im Handwerk stärker zu Buche. Wahrscheinlich wäre unser Fachkräftebedarf geringer, wenn nicht viele ausgebildete Meister in die Industrie gewechselt wären. Im Übrigen habe ich mich auch über die eine oder andere politische Aussage gewundert, deren Tenor zufolge wieder Arbeitskräfte für das Handwerk frei würden, wenn Ford im Saarland ginge. Dies vermittelt ein Bild, dass diese Beschäftigung von Kfz-Meistern, die vor zehn Jahren zu Ford ans Band gewechselt sind, heute problemlos möglich sei. Beide Tätigkeitsfelder unterscheiden sich maßgeblich. Eventuelle Kompetenzlücken gilt es daher, mit passenden Weiterbildungsangeboten zu schließen.
Otto: Auch an der Stelle haben wir wieder das Image-Problem. Dies wird jedoch auch vom Handwerk selbst befeuert. Wir wissen, dass ein Handwerksverband davon sprach, dass er Hunderte Menschen von Ford benötigt, sie anlernt, damit sie arbeiten können. Die Botschaft ist also, dass einfaches Anlernen reicht. Recht früh war von Arbeitgeberverbänden zu hören: Die Arbeitnehmer in der Industrie müssen von ihren hohen Löhnen Abstand nehmen, denn ohne Einbußen geht es nicht zurück ins Handwerk. Diese Botschaft ist imagebelastend. Umgekehrt ist die Botschaft positiv: Wenn sich ein Elektriker, vormals vielleicht bei Ford, gut weiterbildet, vor allem in dem Bereich Klima und Energie, wird er nicht zwingend Geld verlieren. Am Band zu stehen bedeutet auch Schicht und Akkord zu arbeiten. Das halten auch nicht alle ein Leben lang durch. Also ja, man kann in der Industrie gutes Geld verdienen, aber das hat seinen Preis.
„Kompetenzlücken schließen“
Arbeitskammer und DGB sprechen nun unter anderem von der umlagefinanzierten Ausbildung. Wie kann diese den Mangel an qualifizierten Bewerbern ausgleichen?
Otto: Es geht dabei um eine Ausbildungsgarantie angesichts von zu wenigen Ausbildungsabschlüssen und zahlreichen Menschen, die in ihrer Orientierungs- und Übergangsphase hängen bleiben. Der AGV-Bau im Saarland nutzt bereits die umlagefinanzierte Ausbildung. Bei der Ausbildung sind vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht, gute und zukunftsorientierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. Eine Ausbildungsquote von gerade einmal 5,1 Prozent zeugt nicht gerade von einem großen Engagement, nur 21,8 Prozent der Betriebe beteiligen sich an der Dualen Ausbildung unseres Fachkräftenachwuches. Statistisch wird aktuell gerne mit einem Überhang an Ausbildungsstellen argumentiert. So standen 2022 im Saarland 4.573 Bewerberinnen und Bewerbern 7.061 Ausbildungsstellen gegenüber, so die Bundesagentur für Arbeit. Die aus unserer Sicht aussagekräftigere Ausbildungsstatistik des Bundesinstituts für Berufsbildung (BBIB) zeichnet ein anderes Bild. Das BBIB kommt für das Saarland 2022 auf 81,5 Ausbildungsstellen je 100 Bewerberinnen und Bewerbern. Es geht mir jetzt nicht darum, einen Streit der Statistiker vom Zaun zu brechen. Vielmehr ist es mir wichtig, für ein gemeinsames Verständnis der aktuellen Lage zu werben. Daher ist notwendig, dass die Sozialpartner vor Ort und weitere Akteure wie die Wirtschafts- und Arbeitnehmerkammern regelhaft in die Bedarfsermittlung einbezogen werden. Der Fachkräftemangel, der allerorts beklagt wird, ist unserer Meinung nach zumindest teilweise auch hausgemacht. Wir fordern daher bereits seit Jahren eine Umlagefinanzierung der Ausbildung, vor allem für die schwächeren Jugendlichen oder diejenigen mit einem Förderbedarf, durch die Betriebe. Bremen macht es vor: Dort wurde eine Ausbildungsgarantie mit Ausbildungsfonds beschlossen, ein Vorbild für das Saarland. Eine Umlagefinanzierung wird tarifvertraglich etwa im Baugewerbe, wie Sie sagen und gesetzlich bei den Pflegeberufen erfolgreich praktiziert. Die Landesregierung muss die bereits für die jetzige Legislaturperiode angekündigte Unterstützung einer Umlagefinanzierung zeitnah angehen sowie Sorge dafür tragen, dass die Verbundausbildung stärker als bisher genutzt wird. In diesem Zusammenhang muss auch die Qualität der Ausbildung inklusive gegebenenfalls notwendiger Unterstützungsmaßnahmen für die sogenannten marktbenachteiligten Jugendlichen verbessert werden. Dazu müssen auch die beruflichen Schulen modernisiert werden.
Herr Reis, wie ist die Haltung der Handwerkskammer zu dieser Umlage?
Reis: Mit einer Ausbildungsgarantie sollen Jugendliche, die keine betriebliche Lehrstelle gefunden haben, das Recht auf eine außerbetriebliche Ausbildung erhalten. Der Anspruch ist zwar an diverse Bedingungen geknüpft, allerdings stellt sich für uns angesichts zahlreicher unbesetzter Lehrstellen im Saar-Handwerk die Frage nach der Sinnhaftigkeit. In zahlreichen Handwerken fehlen Nachwuchsfachkräfte, vor diesem Hintergrund bräuchten unsere Betriebe aktuell wohl eher eine Art Auszubildendengarantie. Jugendliche, die eine Ausbildung in einem von saarlandweit 70 Ausbildungsberufen beginnen möchten, erhalten auch die Möglichkeit dazu. Grundsätzlich zu begrüßen sind breit angelegte Maßnahmen der Berufsorientierung und bedarfsgerechte Förderinstrumente für den Übergang in die betriebliche Ausbildung. Das sind aus unserer Sicht wirksame Instrumente, die Betriebe dabei unterstützen können, ihr hohes Ausbildungsengagement zu halten.
Bereitschaft zur Weiterbildung gering
Für die Transformation müssen die Saar-Betriebe ihre Mitarbeiter außerdem weiterbilden, tun sie das?

Otto: Die Weiterbildungsbereitschaft im Land ist leider weiter unterdurchschnittlich. 2022 gab es im Jahresdurchschnitt 1.910 Teilnahmen an Förderungen beruflicher Weiterbildung im Saarland. Das Corona-Jahr 2020 sticht dabei über die vergangenen Jahre besonders heraus mit 2.100 Teilnahmen, aber über die vergangenen Jahre waren es nie mehr als 2.000 Teilnahmen. Die Rahmenbedingungen für Weiterbildungen waren nie besser, aber wir hatten nie so wenig Weiterbildungen wie derzeit. Das liegt nicht alleine an den Arbeitgebern oder den Arbeitnehmern. Wir brauchen hier keine „Schwarzer-Peter-Diskussion“, wir müssen die Gründe erkunden und Wege für eine höhere Weiterbildungsbereitschaft finden. Es gibt eine große Akzeptanz, dass die Weiterbildung wichtig ist, bei Unternehmen, bei Beschäftigten auch aufseiten der Bundesagentur für Arbeit mit ihren Förderinstrumenten. Aber nur die wenigsten nehmen daran teil.
Reis: In diesen Zeiten ist die Vermittlung von Weiterbildung im Handwerk extrem anspruchsvoll. Denn Handwerkerinnen und Handwerker werden natürlich auch vor Ort in den Betrieben, auf der Baustelle oder beim Kunden vor Ort gebraucht. In unserem Weiterbildungsprogramm sind die Samstagskurse deshalb besonders stark nachgefragt. Es fehlt also nicht am Geld, an den gesetzlichen Grundlagen. Das Gleiche gilt für die Meisterausbildung, die laut Ampel kostenfrei sein soll, nur wissen wir noch nicht wann. Fakt ist, dass eine Meisterausbildung zu 75 Prozent kostenfrei gestellt werden kann: 50 Prozent kommen aus dem Aufstiegsausbildungsförderungsgesetz, mit Bestehen der Prüfung erhält er weitere 25 Prozent. Die Entwicklung geht dahin, dass Länder wie Bayern Meisterprämien ausloben. Auch unser Bundesland tut das mit immerhin 1.000 Euro. Hier wird es Veränderungen geben und die akademische und die handwerkliche Ausbildung in Sachen Kosten gleichgestellt. Das Handwerk muss deutlich selbstbewusster gegenüber der akademischen Bildung insgesamt auftreten. Unsere duale Ausbildung ist stark, aber ohne Handwerker können wir die Herausforderungen der Zukunft nicht stemmen.