Das Glaszentrum im französischen Meisenthal hat aus einer Industriebrache ein florierendes Geschäft geformt: Kultur, Wirtschaft und Tourismus unter einem Dach vereint. Das ist bislang einzigartig in Frankreich.
Wo Tradition und Innovation aufeinandertreffen, könnte etwas Geniales entstehen. Das dachte sich der Gemeindeverband Communautés des Communes de Pays de Bitche. Als Betreiber hat er aus der einstigen Glasfabrik in Meisenthal ein wirtschaftlich tragfähiges Kleinod geschaffen, das in Frankreich seinesgleichen sucht. Denn was für das Saarland die Völklinger Hütte ist, ist für die nördlichen Vogesen das Glaszentrum in Meisenthal – ein Ort, der industrielle Tradition, Fertigung und Kunst miteinander verbindet. Zugegebenermaßen deutlich kleiner, aber mit ebenso viel Entwicklungspotenzial und mittlerweile einem enormen Bekanntheitsgrad in ganz Europa. Zu verdanken hat der Standort Letzteres wohl dem Wiederaufleben einer Legende, nämlich der Herstellung und dem Verkauf der vor allem in ganz Frankreich so begehrten Weihnachtskugeln seit 1999.
Wirtschaftlich tragfähige Transformation
Nachdem Ende der 1960er-Jahre die Lichter in der traditionsreichen Glasindustrie endgültig ausgingen und dies in einer ohnehin schon strukturschwachen Gegend für einen weiteren Aderlass an qualifizierten Fachkräften sorgte – in der Hochzeit fanden bis zu 650 Beschäftigte Arbeit in Meisenthal –, brauchte es viele Jahre, bis in den 80ern eine Handvoll engagierter Mitstreiter das Handwerk der Glasbläser und die Glaskunst wieder aufleben lassen wollte. Denn auch viele andere Standorte der Glasindustrie wie im benachbarten Goetzenbruck sind aufgrund der Konkurrenz aus Fernost mit Billigprodukten längst geschlossen. Lediglich im zehn Kilometer entfernten Wingen sur Moder im Elsass wird noch unter dem weltberühmten Namen des französischen Unternehmers und Künstlers René Lalique heute unter Schweizer Ägide Glaskunst produziert. Gleiches gilt für die zur französischen Hermès-Gruppe mit Luxus- und Modeartikeln zählende Manufaktur im Nachbarort Saint-Louis-lès-Bitche, die sich auf Lüster für Kronleuchter spezialisiert hat.
Anfangs mehr von Idealismus als von finanziellen Mitteln geprägt, hat sich das Glaszentrum in Meisenthal inzwischen zu einem vorzeigbaren Leuchtturmprojekt in der Großregion für gelungene Revitalisierung eines einstigen Industriestandorts entwickelt. Die Glasmanufaktur, eine Eventhalle im postindustriellen Chic für Ausstellungen und Konzerte, ein Glasmuseum sowie eine Verkaufsboutique mit Restauration sorgen dafür, dass dort mittlerweile wieder rund 70 überwiegend zweisprachige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Hochsaison Arbeit finden. Und es könnten noch mehr werden, wenn die ambitionierten Pläne des Gemeindeverbands in naher Zukunft umgesetzt werden.
Zu Beginn mit europäischen Interreg-Mitteln gefördert, trage sich das Glaszentrum mittlerweile auch wirtschaftlich, betont der Präsident des Gemeindeverbands, David Suck. Nicht eingerechnet seien dabei die positiven Effekte für den Tourismus in der Region wie Hotelübernachtungen und Restaurantbesuche. Jahr für Jahr zählt das Glaszentrum (abgesehen von der Corona-Zeit) steigende Besucherzahlen. Allein in der Hochsaison im November und Dezember jeden Jahres kommen mehr als 30.000 Besucher, unter ihnen 3.000 aus dem Ausland und davon die Hälfte aus Deutschland.
Nun entwickelt sich der Standort weiter. So soll in Meisenthal ein Versuchslabor für neuartige Produktionstechniken und Materialien der Glaskunst entstehen. Außerdem sollen die Unterbringungsmöglichkeiten für Kurs- und Workshop-Teilnehmer des Glaszentrums auf ein neues Niveau gehoben werden, inklusive eines neuen Verkaufsshops für heimische Produkte. Eigens dafür hat der Gemeindeverband Bitche bereits eine Immobilie im Dorfzentrum erworben. „Viele junge Menschen wollen in der Region bleiben, wenn sie denn qualifizierte Arbeit finden. Und da wollen wir mit den Handwerksberufen rund um die Glaskunst einen wichtigen Beitrag leisten“, so der Leiter des Glaszentrums, Yann Grienenberger.
Kooperation mit HBK und Berufsschule
Die schon traditionelle Kooperation mit der nahen Hochschule für Bildende Künste (HBK) in Saarbrücken mit ihren jährlich stattfindenden einwöchigen Sommerworkshops für Studierende, die Zusammenarbeit mit der in Grand Est einzig verbliebenen Berufsschule für Glasbläser im lothringischen Sarrebourg sowie Praktika und Infoveranstaltungen zur Berufsorientierung für rund 2.000 Schülerinnen und Schüler aus der Region pro Jahr tragen Früchte und sorgen für einen Hoffnungsschimmer, den Beruf des Glasbläsers in Grand Est wieder salonfähig zu machen. Tradition verpflichtet. Doch Erweiterungspläne stoßen wie so oft im wirklichen Leben nicht nur auf Gegenliebe: In der beschaulichen 700-Seelen-Gemeinde der Nordvogesen mit ihrer ausgeprägten Künstler- und Hippie-Kultur regt sich auch Widerstand gegen die zunehmende Vermarktung des Glaszentrums und deren Veranstaltungen. Grünflächen opfern für mehr Parkplätze ist nicht im Sinne einiger Bewohner, die andererseits gern auch von steigenden Immobilienpreisen profitieren.
Das Konzept, Wirtschaft, Kultur und Tourismus unter einem Dach zu verbinden, scheint jedenfalls aufzugehen. Denn jeder Bereich für sich genommen hätte wohl nur geringe wirtschaftliche Überlebenschancen. Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Weitere Entwicklungspotenziale stecken zudem in der Zusammenarbeit der verschiedenen Glasstandorte in den nördlichen Vogesen. Zwar kooperieren die Glasmuseen in Meisenthal, in Wingen und in Saint-Louis-lès-Bitche bereits bei den Eintrittspreisen, aber hier könnte künftig noch mehr gehen. Ausbaufähig ist sicherlich auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, so wie es die HBK in Saarbrücken seit Ende der 80er-Jahre mit dem Centre Verrier macht, oder wie die Route des Arts du feu, die Straße des Feuers, die die einstigen Industriestätten von Luxemburg über das Saarland bis hin nach Lothringen touristisch erschließt und das gemeinsame Kulturerbe näherbringt. Davon ist auch die saarländische Kulturministerin Christine Streichert-Clivot überzeugt. Am Tag des europäischen Kulturerbes Mitte September besuchte sie erstmalig das Glaszentrum in Meisenthal und verwies auf die gemeinsame Geschichte, Kultur und die gemeinsamen Werte in der Großregion. An einem Wochenende im Jahr öffnen alle Kulturstätten Frankreichs ihre Tore für das breite Publikum, um den Menschen ihr „Kulturerbe“ leichter zugänglich zu machen. Und das besteht an dieser Stelle aus Glas – mit einer sehr robusten Zukunft.