Vor genau zehn Jahren hat die chinesische Regierung die „Belt and Road“-Initiative ins Leben gerufen. Das gigantische interkontinentale Infrastruktur- und Handelsnetz läuft trotz des Krieges weiter – auf Sparflamme.
Und sie bewegt sich doch: die „Neue Seidenstraße“ zwischen Europa und China. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zwar dem Transit durch Russland arg zugesetzt und damit das Projekt beeinträchtigt. Aber wer meint, die EU-Sanktionen hätten dem Landtransport zwischen China und Europa ein Ende bereitet, irrt. Der Transit auf der Neuen Seidenstraße durch Russland funktioniert weiter, wenngleich deutlich reduziert.
„Wir sind noch weiterhin aktiv auf der Seidenstraße“, sagt Chen Si Hellmann, die beim deutschen Transport- und Logistikunternehmen Hellmann für den Bahntransport zuständig ist. „Aber wir haben gespürt, dass die Volumen aufgrund dieses Kriegs sehr stark zurückgegangen sind.“ Auch in Duisburg, wo die Neue Seidenstraße per Schiene in Deutschland endet, fahren weniger Züge. Der Projektmanager für intermodale Strategie bei Duisport, Jochen Pohl, bestätigt: „Wir sind mittlerweile runtergefallen auf 20, 25 Züge die Woche. Zum Peak waren wir bei weit über 40 Zügen.“
Volumen wegen Krieg zurückgegangen
Der Hamburger Hafen verzeichnet nach dem Peak 2021 mit 290 Verbindungen heute nur mehr rund 255. „Natürlich sind die Luftverkehrsverbindungen weiterhin die schnellsten, aber auch in der Regel die teuersten“, sagt Projektmanagerin Inga Gurries vom Marketing des Hafens. „Vom Preis her liegt die Schiene zwischen Luftfracht und Seefracht. Die Seeverbindungen sind in der Regel aber dreimal so lang.“ Mit der Bahn sind die Waren nur rund zwei Wochen unterwegs. Diese Transportform hat zudem noch viel Potenzial: Lediglich fünf Prozent des Warenverkehrs zwischen China und Europa werden derzeit auf der Schiene abgewickelt.
Einer der Kunden, die weiterhin am Landtransport auf der Schiene durch Russland festhalten, ist das Unternehmen für Automatisierungstechnik „ifm electronic“: „Ich fahre natürlich nicht gerade durch die politisch stabilsten Regionen“, gibt der Geschäftsführer für den Bereich Logistik, Frank Stegherr, zu. „Aber von der Laufzeit her ist man trotzdem schneller als mit dem Schiff. Viele Firmen tun sich schwer, das auch moralisch zu argumentieren.“
Die Zahl der sogenannten Operateure auf der Seidenstraße ist groß. Dabei handelt es sich um Spediteure, die für ihre Kunden Züge bereitstellen, auf denen diese dann ihre Container von Ost nach West oder umgekehrt rollen lassen können. Einige wie die Spedition Kühne und Nagel haben ihren Dienst aber inzwischen komplett eingestellt.
Der Transport von Gütern zwischen China und Europa folgt auf dem Landweg alten Karawanenrouten, in erster Linie auf der Schiene: Die Eisenbahn als Alternative zur Beförderung von Waren per Schiff oder Flugzeug. Die Seidenstraße soll es unter anderem der Wirtschaft in Mittel- oder Westchina erleichtern, für Ein- und Ausfuhr ihrer Handelswaren nicht den Umweg über die ostchinesischen Seehäfen nehmen zu müssen, sondern direkt durch Eurasien zu fahren. Die Hauptroute führt von China über Kasachstan, Russland und Belarus nach Polen und weiter in die übrigen EU-Länder.
Die Deutsche Bahn wickelt derzeit rund 100 Züge in der Woche von und nach China ab und spricht von plus vier Prozent in den nächsten Jahren. „Perfekt für den Bahntransport sind relativ eilige, schwerere Güter, etwa Teile für die Automobilindustrie“, sagt Sebastian Kummer, Vorstand des Instituts für Transport- und Logistikmanagement an der Wiener Wirtschaftsuniversität.
Die EU importiert aber mehr als doppelt so viel als sie nach China exportiert. Das Handelsbilanzdefizit lässt deshalb bei manchen schon lange die Alarmglocken schallen. China begnügt sich zudem nicht allein mit dem Transport von Wirtschaftsgütern von und nach Europa. Die „Belt and Road“-Initiative sieht ausdrücklich die Entwicklung der Infrastruktur entlang der Seidenstraße vor. In den vergangenen Jahren hat sich das Projekt kontinuierlich weiterentwickelt, und China hat sich an wichtigen wirtschaftsstrategischen Punkten entlang dieser Neuen Seidenstraße eingekauft. Was viele, insbesondere in Europa, misstrauisch gegenüber der Initiative gemacht hat.
Erst kaufte China den schwer defizitären griechischen Hafen Piräus und machte ihn wieder profitabel, dann beteiligte es sich an der Bahnstrecke von Belgrad nach Budapest. Vor wenigen Monaten wollte sich das chinesische Staatsunternehmen Cosco im Hamburger Hafen einkaufen. Unternehmerin Chen Si Hellmann sieht das gesamte Projekt aber nicht als chinesische Initiative, um Europa wirtschaftlich zu dominieren, sondern als gegenseitige Win-win-Chance. Und auch Frank Stegherr von „ifm electronic“ meint, dass die europäische Wirtschaft von der Seidenstraße profitiere. Man müsse eben klug vorgehen: „Wenn Sie Ihre patentgeschützten Produkte frei Hand, frei Haus und mit allen Konzeptionen weiter nach China exportieren – pardon, selber schuld.“
Auch die europäische Wirtschaft profitiert
Die Neue Seidenstraße mag zwar von China als Initiative erfunden worden sein, das Monopol darauf hat das Reich der Mitte aber nicht. Gerade für asiatische Länder ohne Meereszugang ist sie interessant. „Ich kenne die Arbeitskosten in Usbekistan nicht, aber ich denke, dass sie günstiger sind als zum Beispiel in China“, sagt Logistik-Professor Kummer. Sowohl Aserbaidschan als auch Kasachstan würden ihre Chance erkennen und sich als logistische Hubs positionieren wollen. „Es gibt bereits Unternehmen, die aus China abwandern. Dieser zentralasiatische Raum entwickelt sich relativ stark.“
Die neue Zeit lässt in Usbekistan wenig Raum für Karawanen-Romantik vergangener Tage. Das Land baut sein Eisenbahnnetz mit großem Tempo aus. Die Containerwirtschaft und die Logistik im Land entwickelten sich von Tag zu Tag weiter, sagt der Bahnhofsvorstand von Samarkand, Ibrahim Asatullayev. Wenn es erst eine direkte Bahnverbindung nach China gebe, würde das die Fahrzeit verkürzen und den Preis reduzieren.
Im Geflecht der Neuen Seidenstraße lassen sich drei Hauptrouten ausmachen: Da wäre die nördliche über Russland, über die bis voriges Jahr 90 Prozent aller Transporte zwischen China und Europa abgewickelt wurden, bevor sie über Nacht zum Problem wurde. Eine südliche Route über Iran existiert derzeit lediglich in Gedankenspielen.
Derzeit konzentrieren sich alle Hoffnungen auf die mittlere Route. Allerdings weist sie zwei Fährverbindungen auf, durch das Kaspische und das Schwarze Meer, zwei Engpässe. Außerdem können auf dem Kaspischen Meer bei Sturm die Fähren nicht fahren. Dennoch hat das Logistikunternehmen Hellmann diese mittlere Route vor einem Jahr getestet: „Da sind noch sehr viele Lücken auf dieser Route“, gibt Chen Si Hellmann zu. „Das Schließen dieser Lücken kostet sehr viel Zeit und Aufwand.“ Die Zusammenarbeit zwischen den Eisenbahnen der durchfahrenen Länder sei noch nicht da.
Laut Deutscher Bahn ist dieser Weg noch um ein Drittel teurer und dauert 40 statt 14 Tage auf der Nordroute durch Russland. Die Kosten stünden laut Experten in keinem Verhältnis zum Aufwand. Und wenn aus der Ukraine Getreide über das Schwarze Meer transportiert wird, so wie bisher, dann bedeute das für die Neue Seidenstraße Kapazitätsengpässe bei den Reedern und damit Unsicherheiten beim Buchen der Meeresüberfahrt.
Vieles ist unsicherer geworden auf der Neuen Seidenstraße, selbst auf der Nordroute. Zahlreiche Unternehmer bleiben derzeit weg, weil sie um ihre Waren beim Transit durch Russland fürchten. Zum Teil mögen es moralische Skrupel sein, zum Teil ist es jedoch auch die Angst, aufgrund von plötzlichen Entscheidungen Russlands die eigenen Waren zu verlieren. Doch Inga Gurries vom Hafen Hamburg beruhigt, weil auf chinesischer Seite großes Interesse am Erhalt der Verbindung bestehe: „Und damit würde man sich keine Freunde machen, dass man sie auf russischer Seite plötzlich unterbrechen würde.“ Viel eher sieht Gurries die Möglichkeit, dass die EU ihre Sanktionen auf die Seidenstraße ausweite.
Für Logistik-Professor Sebastian Kummer ist die Eisenbahn zudem nach wie vor ein sicheres Verkehrsmittel. „Ich bin gar nicht ganz so sicher, ob das Seeschiff so viel sicherer ist als die Eisenbahn. Ganz im Gegenteil. Wenn das Schiff mal in einen Sturm kommt, dann treten sehr große Kräfte auf, und es gehen ja auch öfters Container verloren.“ Und das ist auf der Schiene eher selten der Fall.