Die westlichen Sanktionen gegen Russland wirken. Ein schnelles, durch wirtschaftliche Schwäche bedingtes Ende des Krieges in der Ukraine ist jedoch nicht in Sicht. Dafür sorgt unter anderem die russische Zentralbank.
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat dem Land den zweifelhaften Titel des meistsanktionierten Landes der Welt eingebracht. Mehr als 13.000 Sanktionsmaßnahmen wurden verhängt, mehr als gegen die drei folgenden Länder in der Sanktions-Weltrangliste Iran, Syrien und Nordkorea zusammen. Und dennoch steht der russische Bär noch einigermaßen stabil und hat sich, so wie in der Ukraine militärisch, auf eigenem Boden wirtschaftlich eingegraben. Oder sieht es nur von außen so aus?
Um zu verstehen, ob die Russland-Sanktionen wirken, reicht nicht der Blick auf offizielle russische Nachrichten. Offiziell überschlagen sich diese mit oft guten, ja sensationellen Meldungen, während die dahinterliegenden Zahlen ein anderes Bild zeichnen. Nach dem Ende des Getreidedeals zwischen Russland, der Türkei und der Ukraine drängte Kreml-Herrscher Putin darauf, russisches Getreide statt ukrainisches zu kaufen, man habe ohnehin eine Rekordernte zu verzeichnen. Ob dies stimmt oder nicht, ist von außen kaum zu verifizieren. Miteinberechnet sind hier jedoch wahrscheinlich die vier von Russland annektierten ukrainischen Oblaste, in denen sich ein großer Teil der ukrainischen Getreideanbauflächen befindet.
Blickt man auf die wirtschaftlichen Entwicklungen anhand offen zugänglicher Daten, ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Der Kurs des Rubels gilt als ein wichtiger Indikator für die Stabilität der russischen Wirtschaft. Zu Beginn des Krieges raste der Wechselkurs in die Höhe, stieg zeitweise auf 113 US-Dollar. Maßnahmen der russischen Zentralbank fingen die turbulenten Ausschläge wieder ein: Sie beschränkte den Kapitalverkehr und hob den Leitzins drastisch an. Dies beruhigte die russische Wirtschaft. Seit Anfang des Jahres hat der Rubel gegenüber dem Dollar und dem Euro aber erneut an Wert verloren. Auch dies könnte sich jedoch bald wieder umkehren. Exporteure müssen nach einem Erlass des Kremls Devisen in Rubel umtauschen, um ihre Steuern zu zahlen.
Mehr als 13.000 Sanktionsmaßnahmen
Im Zentrum dieser dynamischen Geldpolitik bleibt die russische Zentralbank ein wichtiges Fundament für die Staatsmacht. Sie steht vor der Aufgabe, den Wert des Rubels einigermaßen stabil zu halten. Bislang ist dies gelungen. Vor allem durch die stark erhöhten Leitzinsen zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine senkte sie die Inflation in erheblichem Maße, danach schmolz der Leitzins langsam wieder ab. Seit einem Monat zieht die Zentralbank die Zinsschraube wieder an und senkte damit die Inflation erneut drastisch. Nun hat sie angekündigt, auf den staatlichen Nationalen Wohlstandsfonds (NWF) zurückzugreifen, damit der Staat liquide bleibt. Dabei könnten die vor allem in chinesischen Yuan gehaltenen Devisenreserven verkauft werden, um die fehlenden Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften auszugleichen. Der Fonds, der ursprünglich zur Stabilisierung der russischen Renten aufgelegt wurde, kauft Devisen, wenn der Ölpreis hoch ist, und verkauft sie, wenn er 44 Dollar pro Barrel unterschreitet, um den Rubel vor Ölpreisschwankungen zu bewahren. Sein Volumen beträgt nach offiziellen Angaben des russischen Finanzministeriums derzeit noch etwa 160 Milliarden US-Dollar. Nach Angaben der ukrainischen Kyiv School of Economics hat Russland seit Kriegsbeginn etwa ein Viertel des NWF aufgezehrt, der Löwenanteil des Geldes ging in den Staatshaushalt oder in russische Firmen, die wegen der Sanktionen strauchelten.
Wirtschaftlich gesehen sieht es laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) nach einem Mini-Wachstum in diesem Jahr aus: Ein Plus von 0,7 Prozent trauen die Währungsexperten der russischen Wirtschaft zu, während die deutsche Wirtschaft laut IWF um 0,1 Prozent schrumpfen wird. Ein Grund, warum der Kreml frohlockt – die Sanktionen würden kaum greifen und der russischen Wirtschaft gehe es gut. Noch. Denn das Wachstum entstammt der russischen Industrie, die Produkte für das Militär produziert. Die derzeit stabile Lage ist aus den Mitteln des russischen Staatshaushaltes erkauft. Das Defizit des Haushaltes beträgt wegen gesunkener Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften und der hohen Ausgaben für das Militär jetzt schon 2,6 Billionen Rubel (26 Milliarden Euro), 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. 2022 lag das Defizit bei 2,3 Prozent.
Entscheidend für den russischen Haushalt sind der Ölexport und ein Marktpreis von 70 Dollar pro Barrel Rohöl. Die Deckelung des Preises bei 60 Dollar wie von der EU und den G7-Staaten beschlossen senkt die Einnahmen Russlands um 170 Millionen US-Dollar – pro Tag. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht den russischen Export trotz des „billigeren“ Preises massiv geschwächt – es fehlen Kunden. Das Land habe im ersten Quartal 2023 im Vergleich zum vierten Vorjahresquartal 29 Prozent weniger Öl verkauft. Beide Rohstoffe, Öl und Gas, muss das Land mehr oder weniger verramschen. Staaten wie China und Indien profitieren davon und kaufen gern ein. Zwar hatte Russland angekündigt, weniger Öl fördern zu wollen, um den Preis zu stabilisieren. Doch nach Angaben der Internationalen Energieagentur ist dies bislang nicht geschehen: Auch wenn der Preis niedrig ist, der Staatshaushalt bleibt auf die Einnahmen angewiesen. Größter Importeur ist das Nachbarland China. Dadurch, dass Russland weitgehend vom internationalen Markt, dem Bankensystem Swift abgekoppelt ist und lediglich Öl- und Gasexporte dominieren, bleibt das Land jedoch von möglichen wirtschaftlichen Turbulenzen im Rest der Welt verschont, so die US-Stiftung Carnegie.
Weniger Exporte von Öl, Gas und Waffen
Neben den eingebrochenen Öl- und Gasgeschäften zeichnet sich ein weiterer stark rückläufiger Sektor ab, in dem Russland bislang zu den führenden Nationen der Welt zählte: internationale Waffenverkäufe. Daten des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri zeigen, dass der russische Waffenexport um gut die Hälfte zwischen 2019 und 2022 abgenommen hat. Russland ist nach den USA der weltweit größte Waffenexporteur, aber seine Bedeutung hat über die Jahre abgenommen. In den vergangenen beiden Jahren sank der Export noch einmal deutlich. Die größten Kunden waren bislang China und Indien. Beide produzieren allerdings nun auch eigene Waffen; zum Teil finden sich auch chinesische Komponenten in russischen Geräten, wie die Ukraine mehrfach berichtet, sodass sich der Warenfluss für Komponenten offenbar bereits umkehrt. Der Flaschenhals der russischen Waffenindustrie bleiben Halbleiter. Daher sucht das Land nach Ersatz und Schlupflöchern in den Sanktionen, eines davon sind offenbar die Malediven. Über den Inselstaat sollen laut einem Bericht von Nikkei Asia 400.000 US-Halbleiter mithilfe von russischen Linienflügen der Aeroflot nach Russland transportiert worden sein.
Insgesamt liegen die Exporte weiterhin über den Importen, doch hat sich ihr Wert gegenüber 2022 verringert: Waren es Anfang des vergangenen Jahres noch Ausfuhren im Wert von 180 Milliarden US-Dollar pro Quartal, lag der Wert Anfang 2023 bei 110 Milliarden US-Dollar, so das Wirtschaftsinstitut Bofit der Bank of Finland, das die Wirtschaft von Russland und China analysiert. Durch die Sanktionen verändert sich die Wirtschaft des Landes dramatisch, hin zu einer Kriegswirtschaft. Rüstungsindustrie und alle damit verbundenen Sektoren werden nach Auffassung des Bofit-Instituts zum Kern der russischen Wirtschaft, so wie zu Sowjet-Zeiten. Andere Sektoren wie die Autoindustrie werden mangels Teilen, Technologietransfer und Know-how dazu gezwungen sein, einfachere Produkte herzustellen. Dies werde die Produktivität des Landes auf lange Sicht schwächen, so die Experten. Fiskalische Probleme seien kaum zu erkennen, die erwartbare Rezession könne durch Mittel des NWF und eine höhere Besteuerung von Privatunternehmen – die Putin kürzlich erst angeordnet hat – aufgefangen werden. Russland habe sich entschieden, sich für längere Zeit auf Kriegswirtschaft und die Entkopplung vom Westen einzustellen – zulasten von Wirtschaftswachstum und einem höheren Lebensstandard für seine Bürgerinnen und Bürger.
Der russische Bär siecht also vor sich hin. Eingriffe der Zentralbank, ein geringer Schuldenstand, einigermaßen gefüllte Geldreserven und Schlupflöcher für die dringend benötigte westliche Technologie retten die Wirtschaft Russlands wahrscheinlich auch in diesem Jahr vor einem raschen Kollaps. Ein schnelles, durch wirtschaftliche Schwierigkeiten Russlands bedingtes Ende des Krieges ist damit erst einmal nicht in Sicht.