Er gilt als einer der erfahrensten Mediziner Deutschlands im Umgang mit Cannabis: Prof. Dr. Sven Gottschling. Nun will er die teilweise Legalisierung mit seiner Erfahrung begleiten – und gründet ein Unternehmen. Im Herbst soll „Dr. Cannabis“ das erste Ladenlokal eröffnen.
Herr Prof. Dr. Gottschling, wie lange behandeln Sie Menschen bereits mithilfe von medizinischem Cannabis?
Seit ich vor 24 Jahren Arzt geworden bin, behandele ich Menschen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Beschwerden mithilfe von medizinischem Cannabis. Ich habe angefangen im Jahr 2000 in der Kinderonkologie, dort haben wir erfolgreich THC-haltige Medikamente gegen Übelkeit infolge der Chemotherapie eingesetzt. Im Laufe der Jahre haben wir nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene behandelt. Seit 2017 dürfen wir schwerkranken Menschen, wenn übliche Therapien nicht mehr hinreichend wirksam sind, unter bestimmten Voraussetzungen Cannabis-Medikamente, auch als Extrakte und Blüten, verabreichen. Die rechtlichen Leitplanken hier sind ziemlich eng, das heißt, nur wenige Patienten werden kassenfinanziert mit Cannabis versorgt, die Bürokratie dahinter ist monströs. Für Ärzte bedeutet dies, dass nur wenige sich in diesen Papierkrieg stürzen.
Wie viele Patienten wurden seit 2017 hier behandelt?
Etwa 1.000 Erwachsene und 200 Kinder. Wir haben europaweit die größte Erfahrung in der Behandlung von Kindern mit Cannabinoiden. Deshalb erweitern wir uns zu einem medizinischen Referenzzentrum. Die Behandlungsform, und das konnten wir belegen, ist hocheffektiv. Unsere Daten zeigen, dass 75 Prozent der Schmerzpatienten einen deutlich positiven Einfluss auf ihre Lebensqualität verspüren. Viele von ihnen haben eine lange Leidensgeschichte und eine lange Palette von Medikamenten hinter sich.
Gegen welche Beschwerden verabreichen Sie Cannabis-Medikamente?
Das geht los bei bislang nicht behandelbarer Epilepsie über Tourettesyndrom bis hin zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Schmerzerkrankungen, Spastiken bei Multipler Sklerose und einiges mehr. Es ist kein Allheilmittel. Aber das Behandlungsfeld ist wirklich sehr groß. Das klingt im ersten Moment abstrus. Es liegt aber daran, dass wir fast überall im Körper Cannabinoid-Rezeptoren haben, die wir wirksam ansteuern können.
Wie funktioniert das genau?
Eine Cannabis-Pflanze hat 700 einzelne Inhaltsstoffe, über 100 sogenannte Phyto-Cannabinoide, also pflanzliche Cannabinoide. Davon sind viele noch nicht so gut untersucht, die bestuntersuchten sind THC, ein berauschendes Cannabinoid, und CBD, ein nichtberauschendes Cannabinoid. Daher ist CBD auch legal und frei verkäuflich. CBD wirkt schmerzlindernd, schlaffördernd und antientzündlich und kann bei zeitgleichem Einsatz von Chemotherapie auch wirksam Krebszellen angreifen. Beide Wirkstoffe stehen in komplexen Wechselwirkungen zueinander.
Das Palliativzentrum ist jedoch nicht ihr einziger Job. Sie gründeten mit Kollegen ein Start-up mit Namen „Dr. Cannabis“. Worum geht es?
Dabei handelt es sich um ein Fachgeschäft, im ersten Schritt für Cannabidiol, also CBD-Produkte. Geschultes Fachpersonal, darunter ein Apotheker, Medizinisch-Technische Angestellte und Pharmazeutisch-Technische Angestellte, beraten Kunden bei spezifischen gesundheitlichen Problemen – sie stellen wohlgemerkt keine Diagnose, das dürfen sie auch nicht. Wer nicht krank genug ist, um eine kassenärztliche Versorgung mit Cannabis-Medikamenten zu erhalten, findet in Deutschland meist keinen Ansprechpartner. Hier werden wir eine Anlaufstelle bieten und diese Menschen an Ärzte aus unserem Netzwerk vermitteln, die ihnen weiterhelfen möchten. Das Netzwerk umfasst alle relevanten Ärzte aus Deutschland, Schweiz und Österreich, die in diesem Bereich forschen und versorgen. Die Dr.-Cannabis-Akademie kümmert sich um Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Apothekern, soll aber auch Eltern und Jugendliche über die Risiken und die Chancen von Cannabis aufklären, über Schmerztherapien und Krankheitsbilder. Das heißt, wir sehen uns als Schnittstelle, die berät, hilft und schützt und eine größere Transparenz bei diesem Thema herstellt. Einen Teil des Gewinnes wollen wir in Präventionsprojekte und Forschungsprojekte stecken.
Wie kam diese Idee zustande?
Die Legalisierung zeigt, dass die Prohibitionspolitik gescheitert ist. Zehn Prozent der Deutschen konsumieren regelmäßig Cannabis. Deshalb macht es nun Sinn, den Konsum zu steuern. Sie sollen an definierte Produkte geraten und Cannabis nicht als Einstiegsdroge missbrauchen. Als Einstieg gilt es aber vor allem dann, wenn ein illegaler Dealer die Droge entweder streckt, was sehr gefährlich werden kann, oder nach dem zweiten oder dritten Geschäft eine andere, gefährlichere Droge verkaufen möchte. Cannabis ist relativ billig und es kommen auch jüngere Menschen an diese Droge heran, die unter 21 Jahren alt sind. Wenn nun die Legalisierung kommt und der Cannabis-Freizeitkonsum für die Menschen sicherer werden soll, dann haben wir Mediziner die größte Expertise. Unser Fokus dabei liegt auf Hilfe, Prävention und Jugendschutz – ich habe selbst fünf Kinder, meine älteste Tochter ist 20 Jahre und ich möchte nicht, dass sie jetzt schon konsumiert.
Das Alter, in dem ich Mitglied in einem Cannabis-Verein werden kann, liegt aber schon bei 18 Jahren.
Unsere Philosophie wird sein, dass wir keinesfalls THC-haltige Produkte an Menschen unter 21 Jahren verkaufen. Das liegt daran, dass uns das gesundheitliche Risiko zu groß ist, solange das Hirn des Menschen sich noch entwickelt.
Warum eröffnen Sie nun zuerst einen Laden? Die Datenlage zu Cannabis ist noch nicht besonders breit, schreibt unter anderem die Bundesärztekammer.
Die Voraussetzung ist, wir verkaufen keine THC-haltigen, also womöglich psychoaktive Cannabis-Produkte, sondern nicht-psychoaktive Cannabidiol-Produkte. Wir gehen aber davon aus, dass die Bundesregierung ein Mehrsäulenmodell an den Start bringt. Säule eins sind der Eigenanbau und die Vereinsstrukturen sowie die Entkriminalisierung von bis zu 25 Gramm Besitz. Cannabis wird aus dem Betäubungsmittelgesetz entfernt. Bei diesem Schritt möchten wir diese Cannabis-Clubs im Anbau von Cannabispflanzen beraten. Wir überlegen, Analysegeräte für Proben anzuschaffen, um Substanzen auf ihren THC-Anteil zu prüfen. Der Verkauf wird, wie erwähnt, auf die legalen CBD-Produkte und Zubehör ausgerichtet sein. Derzeit wird über Säule zwei gesprochen, Modellregionen, in denen auch eine THC-Abgabe erfolgt. Ich halte das Saarland für eine ideale Modellregion wegen seiner Größe und weil wir im Vergleich zum Rest der Bundesländer sehr viel Erfahrung bei der Behandlung mit medizinalem Cannabis besitzen. Den gesamten Legalisierungs- und Geschäftsprozess könnten wir wissenschaftlich begleiten.
Um was genau zu untersuchen?
Zum Beispiel ist die Datenlage zur Fahrtauglichkeit unter Cannabis-Einfluss viel zu dünn und stammt vornehmlich aus Australien. Grenzwerte dazu sollen jetzt bis Anfang 2024 vom Verkehrsministerium kommen, ich bin gespannt, wie die aussehen. Denn Cannabis hat keine lineare Kinetik wie Alkohol mit seinen Promillegrenzen. Ein Mensch kann beispielsweise samstags Cannabis konsumiert haben. Montags fährt er zur Arbeit, gerät in eine Kontrolle, dann kann die Polizei unter Umständen noch immer Cannabis in seinem Blut feststellen. Das hängt von vielen Faktoren ab. Wir wissen aber, dass vier bis fünf Stunden nach Inhalation von Cannabis in der Regel keine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit mehr vorliegt. Wir haben die Motivation, die Menschen und die Experten zu informieren, diese Datenlage auszubauen.
Warum wäre diese zweite Säule so wichtig?
Erfolgt keine kontrollierte Abgabe von THC-haltigen Cannabis-Produkten, nutzt die derzeitige Situation nur den Dealern. Denn sie können weiter ihre Mengen verkaufen, illegal und von fragwürdiger Qualität. Ob das Cannabis gestreckt ist, beliebt ist zum Beispiel Haarspray, ob der THC-Anteil extrem hoch ist, bleibt weiterhin eine Sache der Polizei. In einer Modellregion könnte man den Verkauf reglementieren, die Qualität überprüfen und dies wie gesagt wissenschaftlich begleiten, um Probleme beispielsweise bei der Altersgrenze zu erfassen und den THC-Gehalt zu deckeln. Dies könnte den Schwarzmarkt zu einem Teil effektiv austrocknen. Derzeit hält sich das Saarland noch zurück, wahrscheinlich, weil noch ein Mangel an Informationen herrscht. Es grassieren eben immer noch sehr viele Mythen über Cannabis.
Woher beziehen Sie Ihre Produkte?
Derzeit existieren in Deutschland drei lizenzierte Unternehmen, die medizinales Cannabis anpflanzen und produzieren – etwa eine Tonne pro Jahr. Diese könnten aber derzeit den Bedarf, wenn dieser sich in den Freizeitkonsum erweitert, nicht decken. Wenn sie ihre Anbauflächen erweitern, kämen sie auf vielleicht 40 Tonnen. Deutschland aber konsumiert pro Jahr zwischen 400 und 1.000 Tonnen Cannabis. Hier möchten wir also auch Erfahrung mit unserem Konzept sammeln, um mithilfe von CBD-Produkten ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der Markt aussehen könnte – um dann, wenn der THC-Verkauf legalisiert werden sollte, nicht blindlings loszustolpern. Es gibt etliche Firmen, die jetzt in den Startlöchern stehen, um zu produzieren, diese brauchen aber politische Sicherheit, um ihre Investition umzusetzen. Zum Beispiel darf laut EU-Recht kein THC-haltiges Cannabis legal verkauft werden, es gilt noch als Droge, die auch nicht importiert werden darf. Daher befinden sich alle Firmen, die derzeit eine Anbaulizenz für medizinales Cannabis haben, in Deutschland.
Wie teuer sind dann Produkte, die in der Freizeit konsumiert werden? Die Auflagen für medizinales Cannabis sind ja recht rigide und die Präparate dementsprechend teuer.
Der Verkaufspreis für THC-haltiges Cannabis für den Freizeitkonsum dürfte den derzeitigen Schwarzmarktpreis von etwa zehn Euro pro Gramm nicht groß überschreiten. Sonst ist der legale Verkauf nicht konkurrenzfähig. Aber wir wissen noch nicht, unter welchen Bedingungen Cannabis für einen Freizeitkonsum produziert werden darf. Die Auflagen für medizinales Cannabis sind in der Tat gewaltig: Schon die Steinwolle, in der die Pflanzen gedeihen, muss unter Aufsicht vernichtet werden, obwohl die Wurzeln gar kein THC enthalten. Die Anlagen, in denen dieses Cannabis wächst, sind gesichert wie ein Tresor. Das heißt, wir werden abwarten müssen, welche Regeln für das „Freizeit-Cannabis“ gelten. Wer es sich kauft, statt es selbst in einem Verein anzubauen, wird Steuern darauf zahlen müssen, und die Verkaufsstellen werden ebenfalls etwas verdienen wollen. Wo sich der Preis dann letztlich einpendelt, müssen wir sehen.