Mit seinem Überraschungssieg bei der German Championship sorgte Ricardo Pietreczko für Schlagzeilen. Doch das wird nicht alles vom deutschen Nachwuchstalent gewesen sein. Denn so ganz nebenbei sicherte sich „Pikachu“ damit auch die WM-Teilnahme im Dezember.
So wirklich glauben konnte er es selbst noch nicht. „Ich weiß selbst nicht, was das war. Irgendwie hat heute alles gepasst“, sagt Ricardo Pietreczko. „Es fühlt sich an wie ein Traum.“ Der zu diesem Zeitpunkt noch 28 Jahre junge Pietreczko hatte sich gerade die German Championship gesichert. Als Neuling. Und zweiter Deutscher überhaupt in der gesamten Darts-Geschichte. Zuvor hatte er unter anderem Landsmann Martin Schindler, Michael van Gerwen und schließlich Peter Wright in einem nervenaufreibenden Finalmatch geschlagen – mit einer 100-Prozent-Quote auf die Doppel. „Ich war froh, dass ich die Doppel überhaupt getroffen habe. Da war mir gar nicht bewusst, dass es 100 Prozent waren“, sagt Pietreczko.
Aber wie schafft der Nürnberger, der am 20. Oktober seinen 29. Geburtstag feierte, das? „Ich nehme meine drei Darts in die Hand und werfe sie. Fertig“, lacht er. Tatsächlich wird Pietreczko von keinem Mantalcoach, wie sie in der Profiszene üblich sind, betreut. „Er bringt sich das alles selbst bei“, bestätigt auch sein Management. Sein Geheimnis dabei sei, die Mischung zwischen Spaß und Ehrgeiz zu finden. Wenn Pietreczko wirft, befindet er sich in einem Tunnel, fast schon in einem Rausch. Seine Umgebung blendet er aus.
Auch die Darts-EM war ein Erfolg
Der zweite Clou wäre ihm dann fast zwei Wochen später gelungen: Bei der Darts-EM in Dortmund erreichte er als einziger Deutscher die zweiter Runde, schied dort aber in einem engen Match gegen Michael van Gerwen aus. Zuvor hatte er Titelverteidiger Ross Smith 6:3 besiegt – und auch die Partie gegen van Gerwen (7:10) sollte bis in die letzten Sekunden spannend bleiben. Bislang konnte noch kein Deutscher das Turnier für sich entscheiden. Für Pietreczko war das Turnier somit nach eigener Aussage dennoch ein Erfolg. Im Gegensatz zu seinen deutschen Mitspielern Gabriel Clemens und Martin Schindler, die nach vier Teilnahmen noch immer sieglos sind, gelang ihm direkt bei seiner EM-Premiere ein Sieg. „Das war die größte Arena, in der ich je gespielt habe“, sagt „Pikachu“, wie der gebürtige Berliner sich nennt. Dabei hat Pietreczko gar nichts mit Pokémon am Hut. „Bei einem Turnier hat mal jemand gerufen. ‚Ey, Pietreczko, komm mal her‘. Ein anderer hat „Pikachu“ verstanden“, erklärt er. „Den Namen habe ich dann nicht mehr abgelegt.“ Passend dazu hat er auch als Einlaufmusik das Pokémon-Theme gewählt. Marketingtechnisch ein gar nicht mal so schlechter Schritt, denn das Pokémon-Franchise und die ikonische Donnermaus Pikachu erfreuen sich einer immensen Popularität, gerade bei jungen Leuten.
Popularität, die er auch selbst erreichen kann, wenn seine Leistungen weiterhin auf dem Niveau bleiben, auf dem Pikachu aktuell abliefert. Auch Experten sind sich sicher: Pietreczko hat das Zeug, zum neuen deutschen Darts-Helden zu werden. Dabei hätte der 29-Jährige vergangenes Jahr fast hingeworfen. Ende 2022 wollte Ricardo seine Tour Card abgeben, die er sich erst in diesem Jahr gesichert hatte bei der Q-School erspielt hatte. „Ich war im ersten halben Jahr wirklich schwer am Kämpfen, weil ich einfach immer verloren habe. Ich habe vielleicht ein Spiel pro Block gewonnen“, erinnert er sich. „Das war für mich so schwer, dass ich gesagt habe: Ich will mir den Spaß nicht verderben und gebe meine Tourcard zurück.“ Für ihn stehe der Spaß an den Darts im Vordergrund, die ernsten Strukturen der Pro-Tour musste er erst einmal lernen und sich in eben jene einfinden. Darts, so sagt er, sei seine große Liebe. Erst zum Jahresende, als er es innerhalb eines Players Championship Blocks zweimal ins Achtelfinale schaffte, platzte der Knoten. „Das war der Punkt an dem er gemerkt hat, er gehört hierher“, erinnert sich auch sein Management.
Dass er „hierher“ gehört, sagen nicht nur Fans, sondern auch seine Gegner und Mitspieler. „Er hat mich schwer beeindruckt“, lobt Max Hopp, der einzige deutsche Teilnehmer der Darts-Geschichte, der vor Ricardo ein Pro-Tour-Event für sich entscheiden konnte. „Alleine das Spiel gegen seinen deutschen Kontrahenten Martin Schindler (bei der German Championship; Anm. d. Red.) war mit einem Average von 107 eine herausragende Leistung.“ Auch seine fehlerlose Doppelquote im Finale werde „ihm und dem deutschen Darts-Sport sehr gut tun.“ Die beiden Sportler kennen sich bereits von der PDC Pro-Tour. Dort konnte Pietreczko auch einen 6:3-Sieg gegen den „Maximiser“ erspielen. Ansonsten sieht der gelernte Maler sich eher als „Außenseiter“ unter seinen deutschen Mitspielern. „Wenn ich ausgeschieden bin, gehe ich ziemlich schnell“, erklärte er, warum er nur selten am deutschen Tisch zu finden ist. Zwar versuche er sich später noch mit den Landsleuten zu verabreden, „aber direkt nach der Niederlage will ich meine Ruhe“.
Für die Highlights qualifiziert
Doch an Niederlagen sollte Pietreczko aktuell maximal bei seiner zweiten Leidenschaft denken müssen, der Nürnberger ist nämlich Fan der Hertha BSC. Für seine eigene Karriere läuft es besser als er sich hätte träumen können. Noch bei der Q-School sprach er davon, dass er zwar mit dem Ziel, die Tour zu gewinnen, angereist sei, aber „nicht fest damit gerechnet“ habe. Damals sprach er noch davon, dass sich durch die Tour nicht viel für ihn ändern werde. Doch nun hat sich so ziemlich alles für „Pikachu“ verändert. Nicht nur seinen Platz in der deutschen Darts-Geschichte sicherte er sich, so ganz nebenbei konnte er sich auch noch für den Grand Slam of Darts (11. bis 19. November) und die World Championship (15. Dezember bis 3. Januar) qualifizieren und sprang in der Order of Merit der Pro-Tour auf Platz 17. In der Weltrangliste kletterte er sogar von Rang 63 auf 45. Da er in dem auf der Ergebnisse der vergangenen zwei Jahre basierenden Liste kein Preisgeld zu verteidigen hat, dürfte er nach der WM sogar unter den Top 32 der Welt auftauchen. Eins ist sicher: Für den ambitionierten Pietreczko ist noch lange nicht Schluss. Und am Ende ist das Pokémon-Thema vielleicht sogar ein bisschen mehr eine Ansage, als nur ein Marketing-Aspekt, wenn vor seinen Matches ertönt: „Ich will der allerbeste sein, wie keiner vor mir war.“