Als Spieler waren sie schon Freunde. Seit seinem Unfall ist Heiner Brand eine Konstante im Leben von Joachim Deckarm. Vor dem 70. Geburtstag spricht der langjährige Bundestrainer über eine Beziehung mit Seltenheitswert.
Herr Brand, ganz Handball-Deutschland fiebert der Europameisterschaft im eigenen Land entgegen. Bevor wir auf Jo Deckarm zu sprechen kommen. Wie groß ist die Anspannung bei Ihnen schon?
Ich war vor Weihnachten dreieinhalb Wochen in Neuseeland und Australien. Wenn man dann zurückkommt, arbeitet man die Dinge ab, die liegen geblieben sind. Ich bin da schon ein gutes Stück von weg. Aber diese Entscheidung habe ich bewusst getroffen. Natürlich schaue ich mir die Spiele an, aber es ist ganz entspannend, wenn man nicht mehr in der ersten Reihe steht.
Das hört sich aber wirklich komisch an. Der „Vater des deutschen Handballs“ hat sich in die zweite Reihe versetzt. Das kann man ja kaum glauben.
Ach, wissen Sie. Ich war 50 Jahre in der Branche tätig. Ich habe viel erlebt und viele Erfolge gefeiert. Irgendwann ist auch mal gut. Ich gehe die Spiele in Gummersbach schauen und bin auch ansonsten sehr interessiert. Aber ich bin auch in einem Alter, wo man nicht mehr in der ersten Reihe stehen muss. Alles hat seine Zeit.
Was trauen Sie denn der deutschen Mannschaft zu?
Grundsätzlich zu Hause vor eigenem Publikum eine ganze Menge. Wichtig ist ein guter Turnierstart, dann kann viel passieren. Vom Gefühl her muss man schon sagen, dass skandinavische Nationen wie Dänemark oder Schweden Vorteile haben. Da ist viel passiert. Auch Frankreich ist immer stark einzuschätzen. Wir haben auch den einen oder anderen Verletzten. Aber das ist auch die Chance für jüngere Spieler.
Ende Januar kommen Sie anlässlich von Deckarms 70. Geburtstag ins Saarland. Das ist ja eigentlich ein Handball-Entwicklungsland. Welche Erinnerungen verbinden Sie abseits von Deckarm mit dieser Region?
Die große Zeit des TV Niederwürzbach ist natürlich haften geblieben. Rudi Hartz war damals der Motor des Projekts. Ein toller Mann. Seinen Sohn Jürgen habe ich als Spieler erlebt, Blacky Schwarzer natürlich auch. Ich war ja als Vereinstrainer mit Wallau-Massenheim und dem VfL Gummersbach häufig zu Gast. Es war eine schöne Zeit, schade, dass es so zu Ende gegangen ist.
Haben Sie eine Erklärung, warum es nicht gelungen ist, im Saarland dauerhaft Spitzen-Handball zu etablieren?
Das ist von außen schwer zu beurteilen. Ich hatte damals schon den Eindruck, dass eine gewisse Euphorie, ein gewisses Potenzial vorhanden ist. Aber es hat ja Gründe gegeben, warum das Projekt beendet wurde. Am Ende brauchst Du heute zwei Faktoren. Die finanziellen Mittel müssen vorhanden sein und dann muss die Infrastruktur stimmen. Der Handball hat sich entwickelt, die Zeit der Dorfvereine ist eher vorbei. Früher hat die Bundesliga in den klassischen Schulsporthallen mit zwei Tribünen gespielt, das ist heute undenkbar. Die HG Saarlouis hat sich ja einige Jahre in der Zweiten Liga gehalten. Richard Jungmann, der das Ganze auf die Beine gestellt hat, kenne ich natürlich. Aber soweit ich das beurteilen kann, fehlt es auch dort einfach an einer Halle, um den nächsten Schritt zu gehen.
Geblieben sind Erinnerungen an den TVN und natürlich an Joachim Deckarm. In Saarbrücken wurde sogar eine Halle nach ihm benannt. Seine Karriere endete 1979 auf tragische Weise. Wie bewerten Sie den Sportler Deckarm heute?
Er war ein Ausnahmespieler, ein Weltklasseathlet. Wir sind 1978 Weltmeister geworden, da war Jo gerade 24 Jahre alt. Er war noch nicht fertig, sein Potenzial lange nicht ausgeschöpft. Er hatte alles vor sich. Bis zu diesem verdammten Abend in Tatabánya.
Die Geschichte des Unfalls wurde oft erzählt. TV-Bilder gibt es nur ganz wenige. Wie präsent ist Ihnen die Szene noch?
Es ist 44 Jahre her. Natürlich, immer wenn man über Deckarm spricht, wird man mit dieser Szene konfrontiert. Vor einigen Jahren waren Joachim und ich mit einem Team des Saarländischen Rundfunks in Tatabánya. Da haben wir uns die Bilder natürlich vorher noch mal angeschaut und als wir in der Halle gestanden haben, waren die Erinnerungen ganz nahe. Die Zeit heilt schon viele Wunden. Man muss ja auch sagen, dass es kein schlimmes Foul war. Es war eine Alltagsszene aus dem Handball. Ein Unglück. Man lernt, damit umzugehen. Aber in meinem Sportlerleben war es bei Weitem das schlimmste und prägendste Ereignis. Wenn sich innerhalb von einer Sekunde ein Leben verändert, ist das heftig. Sie müssen sich mal die Situation vorstellen. Zuerst hieß es in der Halle, Jo sei tot. Da haben wir alle geheult. Dann hieß es, er lebt, aber es ist kritisch. Dann haben wir gezittert. Und plötzlich kam die Nachricht, dass er überlebt. Da haben wir wieder geheult. Und dann sind wir ihn besuchen gefahren und haben gedacht, alles wäre wie vorher. Wir haben aber gemerkt, dass es nicht mehr der alte Jo ist. Das war schon ein schmerzhafter Prozess.
Sie waren Mitspieler und Freund von Deckarm. Und sind bis heute einer seiner engsten Gefährten. „Sport Bild“ schrieb von der „tiefsten Freundschaft des deutschen Sports“. Wie nahe geht Ihnen das?
Das sollen andere beurteilen. Jo ist mein Freund, das war er damals schon. Man muss ja dazu sagen, dass eine Handball-Mannschaft immer aus recht wenigen Spielern besteht. Da gibt’s keine Grüppchenbildung. Als Spieler waren wir übrigens am Anfang gar nicht so extrem eng. Ich war schon verheiratet und habe in Gummersbach gelebt, Jo in Köln. Aber das hat sich so entwickelt, wir wurden gemeinsam Weltmeister, waren durch die ganzen Reisen oft zusammen. Nach seinem Unfall hat sich das im Laufe der Zeit dann ergeben. Ich bin ja dem deutschen Handball verbunden geblieben und man muss schon sagen, dass die Anteilnahme für Deckarm etwas Spezielles ist. Der Handball ist nach wie vor sehr familiär. Das sieht man auch an den Vorbereitungen zu seinem 70. Die alten Weggefährten sind immer zur Stelle.
Deckarm lebt seit einigen Jahren in einer Pflegeeinrichtung in Gummersbach. An dem Umzug hatten Sie entscheidenden Anteil. Wie erleben Sie ihn heute?
Jo hat mit einem enormen Willen das Beste aus seiner Situation gemacht. Nun werden wir alle nicht jünger. (lacht) Es kommen natürlich Dinge des Alters dazu. Ich erlebe ihn aber als interessierten Gesprächspartner. Leider sieht er nicht mehr so gut. Aber wenn ich komme und ein bisschen nähertrete, dann ruft er: „Mensch Heiner, da biste ja.“
Wie laufen solche Treffen ab?
Sein größtes Problem ist das Kurzzeitgedächtnis. Er vergisst recht schnell Dinge und weiß nicht mehr, wer ihn zuvor besucht hat. Ansonsten nimmt er am täglichen Leben teil, schaut etwas fern. Er hat ein Trainingsgerät in seinem Zimmer stehen, da motiviere ich ihn immer, wenn ich da bin, dass wir dann was machen. Und wir spielen immer ein paar Runden mit einem Würfelspiel. Da hat er richtig Freude dran.
Hat Deckarm noch Verbindung zum aktuellen Handball?
Na klar, er geht die Heimspiele des VfL Gummersbach schauen. Das genießt er, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie viel er sieht. Aber das Ergebnis bekommt er mit. Dann haben wir ja die Traditionsrunde der 78er-Weltmeister, an denen er teilnimmt.
Kommt er zu den Feierlichkeiten Ende Januar ins Saarland?
Das ist unser Ziel, das ist sein Ziel. Allerdings muss man bei einem Menschen mit seinen Einschränkungen immer von Tag zu Tag entscheiden. Versprechen kann man das nicht, aber wir wollen es unbedingt.
Was wünschen Sie Joachim Deckarm zu seinem 70. Geburtstag?
Ich glaube, dass er seinen Frieden gefunden hat, und das macht mich froh. Und ich wünsche meinem Freund, dass er noch einige gute Jahre vor sich hat und er am Leben teilhaben kann. Jo ist ein Vorbild und zu seinem runden Geburtstag möchte ich auch sagen, dass ich froh, stolz und dankbar bin, ihn begleiten zu dürfen.