Es war das Halbfinal-Rückspiel im Europapokal der Pokalsieger zwischen dem gastgebenden ungarischen Team Tatabánya Bányász und dem VfL Gummersbach. Dabei kam es am Abend des 30. März 1979 zu jenem tragischen Unfall, dessen Auswirkungen fortan das Leben des Handball-Stars bestimmen sollten.
Die Tour zum Rückspiel im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger der Saison 1978/1979 schien für den VfL Gummersbach kaum mehr als Routine zu sein. Schließlich war es national wie international die erfolgreichste und populärste Handball-Mannschaft der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren und der Titelverteidiger hatte schon das Hinspiel klar mit 18:10 gewonnen. Daher konnte er mit einem mehr als beruhigenden Acht-Tore-Vorsprung in die im Nordwesten Ungarns liegende Kleinstadt Tatabánya fahren, die etwa 52 Kilometer westlich von Budapest liegt.
Hier traf man am frühen Abend des 30. März 1979, einem Freitag, auf das Spitzenteam Tatabánya Bányász, dem amtierenden Ungarischen Meister und Pokalsieger, für den schon das Erreichen des Semifinals der größte Erfolg der Vereinsgeschichte auf europäischem Parkett sein sollte. Über den Spielverlauf wurde offenbar respektvoll ein Mantel des Schweigens gehüllt. Vielmehr als die Zeit des Anpfiffs um 17 Uhr und das Endergebnis von 21:21 ist nicht bekannt – denn das Sportliche musste an diesem tragischen Abend komplett hinter dem persönlichen Schicksalsschlag von Joachim Deckarm zurücktreten.
Unfall in der 23. Spielminute
Wäre der Handball-Gott etwas gnädiger gestimmt gewesen, hätte es zu dem katastrophalen Unfall in der 23. Spielminute gar nicht zu kommen brauchen. Denn schon kurz nach dem Auftakt in einer durch die Zuschauer extrem aufgeheizten Atmosphäre wurde Jo Deckarm in der sechsten Spielminute von einem Gegenspieler so hart attackiert, dass das Match für ihn bereits gelaufen schien. Seine Mannschaftskollegen trugen ihn vom Feld. Doch nach zehnminütiger Erholungspause auf der Reservebank kehrte Deckarm wieder aufs Spielfeld zurück. Der ungarische Sportjournalist Tibor Hámori, der in seinem 1981 veröffentlichten Buch „Die Geschichte von Deckarm. 131 Tage im Koma!“ als einziger an diese Szene des Spiels erinnert hatte, wollte nicht ausschließen, dass Deckarm sich schon bei diesem frühen Zusammenprall ernsthaft verletzt haben könnte. Dass beispielsweise seine Reflexe womöglich schon in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Das lässt sich im Rückblick allerdings nicht mehr verifizieren, weil weder im Tross des VfL Gummersbach noch im Team des Gegners oder im gesamten Umfeld des Spiels Ärzte oder Sanitäter präsent gewesen waren. Erst drei Jahre später sollte eine medizinische Versorgung der Spieler bei internationalen Wettbewerben verpflichtend vorgeschrieben werden.
Die 23. Spielminute hatte gerade erst begonnen, als Abwehrchef Heiner Brand, das Gummersbacher Urgestein und Deckarms kongenialer Partner im Spiel des VfL, einen Angriff des Gegners vor dem eigenen Tor abgefangen und den Ball für einen Tempo-Gegenstoß in Richtung des schon in die Hälfte des Kontrahenten vorgepreschten Deckarms geworfen hatte. Wie auf einem in körnigem Schwarz-Weiß gehaltenen und beim Anschauen auch heute noch kaum zu ertragenden Video-Clip im Web ersichtlich wird, konnte der mit der Rückennummer elf aufgelaufene Deckarm den Ball kurz vor dem gegnerischen Kreis fangen. Wobei ihm in nahezu dem gleichen Sekundenbruchteil der heranlaufende gegnerische Abwehrspieler in die Quere gekommen war. Beide Spieler stießen dabei mit ihren Köpfen zusammen, wobei der Körper des deutlich größeren Deckarm ein Stückchen nach oben katapultiert worden war und danach krachend ohne jeglichen Einsatz schützender Arme oder Hände auf den Boden aufgeschlagen war, weil er offensichtlich schon durch den Kopfkontakt das Bewusstsein verloren hatte. Dabei war nach dem Oberkörper auch der Kopf völlig ungebremst und mit noch deutlich stärkerer Wucht aufgeprallt. Während Pánovics, sich die Schläfe reibend, gleich danach wieder aufstehen konnte, blieb Deckarm bäuchlings einfach liegen. Der Schiedsrichter unterbrach sofort das Spiel, wobei der fatale Zusammenstoß keinesfalls als vorsätzliches Foulspiel angesehen werden konnte, sondern letztendlich ein tragischer Unfall gewesen war. Der wäre in dieser extremen Form allerdings in modernen, mit einem den etwaigen Aufprall dämpfenden Parkett-Schwingboden ausgestatteten Hallen niemals aufgetreten. Aber im damaligen Ostblock war es absolut üblich, dass der knallharte Betonboden nur mit einer hauchdünnen PVC-Schicht überdeckt war.
Nach einigen sich wie Ewigkeiten anfühlenden Sekunden der Schockstarre wurden sich alle Beteiligten allmählich des Ernstes der Lage bewusst. Es wurde vergeblich nach Ärzten oder Sanitätern gerufen, doch nicht mal eine Trage war in der Halle vorhanden. „Ich weiß noch“, so Heiner Brand im Rückblick, „ich habe mit einem Mannschaftskameraden zusammengestanden. Dann kam jemand zu uns und meinte, da sei etwas ganz Schlimmes passiert, weil Veränderungen an Jos Gesicht zu sehen waren.“ Schließlich wusste man sich nicht anders zu helfen, als den bewusstlosen Deckarm in die Umkleidekabine zu schleppen. Dort war dann ebenso glücklicherweise wie überraschend mit Dr. Peter Penkov ein Arzt zur Stelle. Der in Tatabánya wohnhafte Dr. Penkov hatte das Match am Feierabend vor seinem Fernseher verfolgt und sich gleich nach dem Unfall eiligst auf den Weg zur nahen Halle gemacht. Ohne sein Mitwirken, der auf der Stelle die ersten medizinischen Nothilfemaßnahmen eingeleitet und etwa 20 Minuten nach dem Unfall für den unverzüglichen Transport des Schwerverletzten ins Bezirkskrankenhaus von Tatabánya gesorgt hatte, hätte Deckarm den Tag vermutlich nicht überlebt.
Überraschend war ein Arzt zur Stelle
Von der lokalen Klinik aus, wo zunächst Blut aus der Lunge des Handballers entfernt worden war, wurde Deckarm eineinhalb Stunden später in einem Rettungswagen in das Budapester St.-Johannes-Hospital transportiert. In der dortigen Abteilung für Traumatologie wurde unter Federführung des behandelnden Arztes Dr. Peter Moritz die schreckliche Diagnose eines doppelten Schädelbasisbruches, eines zehn Zentimeter langen Hirnhautrisses, eines schweren Schädel-Hirn-Traumas und Quetschungen des Haupthirns diagnostiziert. „Die Überlebenschancen stehen 50:50“, so die damalige erste Einschätzung durch Dr. Moritz. „Ein solch schweres Hirn-Trauma hat eine relativ hohe Todesquote. Wir können nur auf die gesunde Konstitution des Patienten hoffen.“ Man müsse davon ausgehen, dass Deckarm im Falle des Überlebens in einem wochen- bis monatelangen Dämmerzustand bleiben werde, eine frühe Prognose, die sich später in 131 Tagen Koma bewahrheiten sollte. Noch in der Nacht zum Samstag wurde Deckarm einer zweistündigen Gehirnoperation unterzogen und schwebte danach auf der neurologischen Intensivstation weiter in Lebensgefahr. Auch wenn Dr. Moritz einen leichten Optimismus verströmt hatte, weil die Atmung „ruhig und gleichmäßig“ gewesen war, „Kreislauf und Blutdruckwerte sind normal. Der Verdacht auf eine Gehirnblutung bestätigte sich nicht“. Die Eltern des Sportlers waren zwischenzeitlich ebenso wie ein deutsches Spezialärztetermin sowie DHB-Verantwortliche am Krankenbett aufgetaucht, wofür die Stiftung Deutsche Sporthilfe spontan sämtliche Kosten übernommen hatte. Auch für die späteren aufwendigen Behandlungen, die ab Ende April 1973 in der neurochirurgischen Klinik der Universität Köln und ab Anfang Juli 1973 in der gleichen Abteilung der Uniklinik Homburg fortgesetzt wurden, sollte unter dem Dach der Deutschen Sporthilfe ein spezieller Joachim-Deckarm-Fonds gegründet werden.
Während Deckarm mit dem Tode gekämpft hatte, mussten seine geschockten Mannschaftskollegen das zur Nebensache degradierte Halbfinal-Spiel zu Ende bringen. Im Umkleideraum herrschte danach tiefste Depression. „Es war ganz schlimm. Nach dem Spiel saßen wir alle in der Kabine und haben geheult, weil wir dachten, Jo sei tot“, so Heiner Brand. Von daher war die Erleichterung bei den Mannschaftskollegen, von denen einige ein sofortiges Ende ihrer Sportkarriere in Erwägung gezogen hatten, erst einmal riesengroß, als sich die schreckliche Info als falsch erwiesen hatte.
Dennoch wird keiner der Beteiligten diesen Tag jemals vergessen können. „Ich war damals 26, Jo 25“, so Heiner Brand, „In dem Alter glaubt man, unantastbar zu sein – dann passiert das! Seitdem weiß ich, dass es wichtigere Dinge gibt als Erfolge im Sport.“