An der sächsischen Grenze zu Polen ist die Zahl der Geflüchteten stark angestiegen. Auch die Skrupellosigkeit der Schleuser nimmt zu. Eine verdeckte Einheit der Bundespolizei will sie stoppen.
An der Ampel steht ein dunkelgrauer Transporter. An seiner Seitenwand glänzt die grüne Schrift einer Autovermietung im Sonnenlicht. Drei Männer sitzen vorne. Dunkle Haare, Dreitagebart. „Fahrer und Beifahrer passen ins polizeiliche Raster“, sagt Polizeioberkommissar Andreas Klemm (Name von der Redaktion geändert), der die verdeckt arbeitende Fahndungseinheit der Bundespolizei am sächsischen Standort Ludwigsdorf leitet. Männliche Personen, die in einem gemieteten Kastenwagen scheinbar ziellos durch das Gewerbegebiet kreisen: verdächtig. Denn hinter der Autobahnabfahrt beginnt das polnische Staatsgebiet. Die kleinen Seitenstraßen und Ackerwege nahe der Anschlussstelle Görlitz sind bei Schleusern beliebte Orte für das „Abkippen ihrer Ware“.
„Den Schleusern ist es egal, was mit den Menschen hinten im Wagen passiert“, sagt Hauptkommissar Michael Engler, 53, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf. „Als Menschen sehen die Schleuser die Geflüchteten längst nicht mehr.“ Das Einsatzgebiet der Inspektion umfasst 97 Kilometer Grenzlinie entlang der Neiße und elf Grenzübergänge nach Polen. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch bei uns zur Katastrophe kommt.“ Leblose Personen auf der Ladefläche oder Tote durch Fluchtfahrten sind Horrorszenarien für jeden Polizisten. Erst im Juli vergangenen Jahres ist in der Nähe der sächsischen Stadt Pirna ein Kleintransporter auf der Flucht vor der dortigen Bundespolizei verunglückt. Eine junge Frau starb.
Auch in Görlitz spitzt sich die Lage zu. Vor Kurzem wollte ein Schleuser im nahegelegenen Bad Muskau mit seinem Transporter vor der Polizei flüchten und landete im Straßengraben. Fünf der 28 Mitfahrenden wurden schwer verletzt „Die Schleuser kennen keine Gnade, quetschen bis zu 40 Personen in einen Transporter rein, machen keine Pausen, reichen kein Wasser“, sagt Engler, „die Geflüchteten reißen Türgummis heraus, damit Luft ins Wageninnere kommt.“
„Keine Pause, kein Wasser“
Die Zahl der unerlaubten Einreisen über die sächsisch-polnische Grenze ist in den vergangenen Monaten rasant angestiegen. Mit über 10.000 festgestellten Geflüchteten bis einschließlich August hat sich die Zahl der Menschen, die ohne nötige Ausweisepapiere, Aufenthaltstitel oder Visa eingereist sind, im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht. Tendenz weiter steigend. „Es gibt keinen Tag mehr ohne Migranten.“ Das war vor zwei Jahren noch anders. Michael Engler nennt es „die Stunde Null“. Alles begann an einem Wochenende Anfang August 2021, als plötzlich 21 Iraker in einer kleinen Ortschaft im Landkreis Görlitz auftauchten. Anwohner alarmierten die Polizei. „Zu diesem Zeitpunkt hat niemand gedacht, dass das der Startschuss zu dieser Migrationslage sein würde.“ In den Tagen darauf tauchten weitere Migrantengruppen in der Region auf. Schnell gab es auf dem Einsatzgebiet der Bundespolizei Ludwigsdorf kaum noch weiße Flecken. „Viele der illegal Eingereisten kamen über die Belarus-Polen-Route nach Deutschland“, sagt der Polizeisprecher. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko lockte Geflüchtete in sein Land und ließ sie an die EU-Grenzen bringen. So wollte er Druck auf die EU ausüben, die im Jahr zuvor als Reaktion auf die manipulierten Präsidentschaftswahlen Sanktionen gegen das Land erlassen hatte.
Unabhängig von den Ereignissen an der Grenze nahm im Sommer 2021 bei der Bundespolizei in Ludwigsdorf eine sechsköpfige, zivile Fahndungseinheit den Dienst auf. Sie sollten die Einsatzkräfte vor Ort bei Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz oder der Fahndung nach gestohlenen Fahrzeugen unterstützen. Menschenschmuggel spielte damals noch eine untergeordnete Rolle. Heute ist die verdeckte Einheit mit der Fahndung nach Schleusern ausgelastet. „Die Ereignisse überschlagen sich“, sagt Michael Engler, „wenn die Lage brennt, wird jeder gebraucht.“ Und sie brennt. Polen ist zum Drehkreuz für die Asylmigration geworden. In Ludwigsdorf kommen zwar kaum noch Geflüchtete über die Belarus-Polen-Route an, dafür steigt die Zahl der irregulären Migranten, die über die Balkanroute nach Polen und dann weiter nach Deutschland flüchten, sprunghaft an. Mit Blick auf die Lage an den sächsischen Grenzen spricht Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) von einer „veritablen Migrationskrise“. Nicht nur die polnisch-deutsche Grenze, sondern auch die Grenzregionen zu Tschechien, Österreich und der Schweiz sind betroffen. Im August registrierte die Bundespolizei deutschlandweit mehr als 14.000 unerlaubte Einreisen, im vergangenen Jahr waren es im gleichen Monat noch unter 9.000.
Angst, dass mal einer durchdreht
Schleusungen sind zu einem Milliardengeschäft geworden, in dem die organisierte Kriminalität längst mitmischt. Zu lukrativ ist das Geschäft mit der Not. Die Geflüchteten zahlen oft vier- manchmal sogar fünfstellige Beträge an die Schleuser, für die viel auf dem Spiel steht. Nicht zuletzt ihre Freiheit. Der Druck ist groß, die Brutalität steigt – auch gegenüber der Polizei. „Im vergangenen Herbst wurde ein Beamter von einem Schleuser bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt“, sagt Andreas Klemm, selbst Warnschüsse und ein zerschossener Reifen hielten ihn bei der Flucht nicht auf. „Erst die Kollegen auf polnischer Seite konnten ihn stoppen.“ Auch Polizeihauptmeisterin Jasmin Boll ist Teil der zivilen Fahndungseinheit. Auf ihrem Handy zeigt sie Bilder der „Abladeorte“: Jacken, Schlafsäcke, Wasserflaschen liegen im hohen Gras verstreut. Das nächste Bild zeigt ein Kampfmesser in der Ablage eines Schleuserfahrzeugs. „Die Angst, dass einer durchdreht, begleitet uns.“
Das verdeckte Ermittlerteam biegt einige Autos hinter dem grauen Transporter mit der grünen Aufschrift auf die B 115 ab. Über das Funkgerät ruft er ein zweites Team hinzu. „Wir hängen uns dran.“ Kurzfristige Observationen lässt das Bundespolizeigesetz zu. Sie gehören zum Alltag des Teams. Oft warten sie Stunden bis etwas passiert, mal als Angler getarnt am Fluss, mal als flanierendes Touristenpaar. Sie müssen unentdeckt bleiben, tragen Alltagsklamotten. Jeans, T-Shirts, Sportschuhe. Wer auffliegt und mit Bild in die Chatkanäle der Schleuser gerät, kann den Job nicht mehr machen.
Jasmin Boll blickt auf den grauen Transporter, der eine Runde im Kreisel dreht und die gleiche Strecke zurückfährt. „Das könnten Abholer sein“, sagt sie und nimmt die Verfolgung auf. Viele Schleuser gehen nach dem gleichen Muster vor. Ein Fahrzeug bringt die Geflüchteten über die Grenze, während ein zweites Team die illegal Eingereisten am verabredeten Treffpunkt abholt. Die Fahnder könnten die drei Männer in dem Kastenwagen problemlos stoppen. Doch sie wollen mehr erfahren über die Bewegungen der Schleuser, über „Bunkerwohnungen“, in denen Geflüchtete „zwischengelagert“ werden und mögliche Hintermänner. Das Polizeiduo fädelt sich in den Verkehr ein, lässt mehrere Autos zwischen sich und dem verdächtigen Fahrzeug. Doch heute ist das Glück nicht mit den Beamten. Der graue Transporter biegt an einer Ampel ab, kurz bevor sie auf Rot springt. Zwei Minuten später ist das „Zielfahrzeug“ nicht mehr auffindbar. Sie suchen noch weitere zehn Minuten, fahren die bei Schleusern beliebten Stellen in der Gegend an. Feldwege, Nischen in Wäldern, abgelegene Parkplätze. Erfolglos. „Abbruch“, sagt Andreas Klemm ins Funkgerät.
„Heute ist Totenstille, das ist irgendwie unheimlich“, sagt Jasmin Boll. Das vierköpfige Einsatzteam, das heute in zwei Fahrzeugen unterwegs ist, trifft sich an einer Fußgängerbrücke über die Neiße, die gemächlich unter der Brücke hindurchfließt. Ringsherum grüne Wiesen, ein kleines Wäldchen. Ein Parkplatz für Touristen und Menschen, die einfach mal raus wollen in die Natur. Zwei unauffällige Fahrzeuge der gehobenen Mittelklasse in gedeckten Farben fallen hier nicht weiter auf. Das Blaulicht liegt im Fußraum. Klemm berichtet von Einsätzen an den Brücken über die Neiße, von Schleusern, die den Geflüchteten mit Handys folgen, um ihren Grenzübertritt zu dokumentieren. „Nur dann werden die Gelder, die die Migranten für ihre Schleusung bezahlt haben, freigeschaltet.“
Familie zehn Stunden im Wagen eingepfercht
Die Ankündigung von stationären Grenzkontrollen durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser habe den Druck auf die Schlepperbanden zusätzlich erhöht. „In der vergangenen Woche wurden in unserem Zuständigkeitsbereich 246 Migranten in 24 Stunden aufgegriffen“, sagt Klemm. Ein neuer Rekord. Nun rudert die Ministerin zurück, setzt stattdessen auf flexible Grenzkontrollen – ab sofort. Doch schon jetzt ist die Personaldecke in Ludwigsdorf dünn, trotz Unterstützung der Bundesbereitschaftspolizei. „Wir bräuchten sowohl in unserem Team als auch generell mehr Leute“, sagt Andreas Klemm. Die Bundespolizei arbeite am Limit. „Egal wo man zieht, das Hemd ist zu kurz“, raunt ein Kollege ihm zu.
Dann plötzlich ein Funkspruch. Eine Streife der Bundespolizei hat ein vollbesetztes Schlepperfahrzeug gestoppt. Klemm und Boll rennen zu ihrem Auto. Fünf Minuten später sind die Fahnder vor Ort. Ein schwarzer Renault Scenic mit polnischem Kennzeichen steht am Rand einer Wiese, eingekesselt von zwei Einsatzfahrzeugen der Bundespolizei. Ein Zufallstreffer. Der Kleinwagen ist in eine Seitenstraße eingebogen, in der eine Polizeistreife stand. Der Fahrer wollte wenden, doch die Polizisten schnitten dem Fahrzeug den Weg ab. Insgesamt zehn Menschen waren in dem Kleinwagen. Darunter ein 27-jähriger Georgier, der das Fahrzeug fuhr. Ihm werden Handfesseln angelegt. Der Tatvorwurf: Einschleusung von Ausländern unter lebensbedrohlichen Umständen. Noch am gleichen Tag hat er einen Termin beim Ermittlungsrichter im Amtsgericht Görlitz.
Die Geflüchteten werden zur „Bearbeitungsstraße“ der Bundespolizei gebracht, einer alten LKW-Abfertigungshalle auf dem Gelände des einstigen Grenzübergangs Ludwigsdorf. Die aufgegriffenen Menschen werden hier in Gewahrsam genommen, registriert, durchsucht und erstversorgt, bevor sie ein Zugticket für eine der drei sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen in Leipzig, Dresden und Chemnitz bekommen. Jede ankommende Gruppe bekommt ein Armbändchen. „Sonst verlieren wir bei der Masse an Menschen den Überblick“, sagt ein Beamter.
Ein Dolmetscher zeigt auf grüne Metallstühle vor einer blauen Plastikplane im Eingangsbereich der Halle. Zu den Geflüchteten in dem Renault gehört auch eine kurdische Familie. Das kleinste Kind ist erst acht Monate alt. Seine Mutter Şükran reicht ihm einen Pappbecher mit Wasser. Das Baby trinkt gierig, Wasser tropft auf seine Kleidung. Zehn Stunden war die Familie in dem Kleinwagen eingepfercht. „Der Fahrer hat uns verboten, das Fenster zu öffnen. Auch auf unsere Bitte nach Wasser hat er nicht reagiert“, sagt die 25-jährige Kurdin, die zusammen mit ihrem Bruder, zwei Cousinen und einem Cousin samt Kind aus den Kurdengebieten im Süden der Türkei geflohen ist. „Dort gab es kein sicheres Leben für uns, die türkische Polizei hat uns immer wieder kontrolliert.“ Ihrem weißen Wollpullover und den Sneakers sieht man die Strapazen der letzten Tage an. Dreckige Streifen erzählen von langen Fußmärschen und regenreichen Nächten in den Wäldern des serbisch-ungarischen Grenzgebiets. Seine Cousine zieht das Hosenbein hoch und zeigt eine abgeschürfte, geschwollene Stelle am Knöchel, die sie humpeln lässt. „Das ist von dem Fußmarsch“, sagt sie. In der Nähe eines Waldes holte der Schleuser sie um vier Uhr in der Früh ab. Zehn Stunden dauerte die Fahrt. Ohne Pause in der stickigen Hitze des Autos. Die Fenster waren mit schwarzer Folie abgeklebt.
„Die Strapazen stecken den Menschen in den Knochen. Die sind völlig fertig von der Fahrt“, sagt Hauptkommissar Engler. Erfrierungen, Hautkrankheiten, verstauchte Gliedmaßen und offene Wunden sehen die Polizisten hier häufig. Zu Handgreiflichkeiten ist es noch nie gekommen. „Die Menschen sind einfach nur froh, dass sie es überstanden haben.“ Doch noch befinden sich Şükran und ihre Familie in Gewahrsam. Ein Beamter der Bundespolizei befragt sie, will mehr über die Schleuser erfahren. „Es waren Afghanen und sie hatten Waffen dabei“, sagt Şükrans Bruder Sabri, 27, der in seiner Heimat als Tagelöhner gearbeitet hat. Namen kenne er nicht. „Sie haben Spitznamen benutzt.“
Es drohen bis zu zehn Jahre Haft
Im Verhör berichtet der Fahrer des Schleuserfahrzeugs, dass er seit eineinhalb Jahren in Polen lebt und dort als Taxifahrer gearbeitet hat. Einen Führerschein hat er nicht. Den Drahtzieher der Schleuserbande habe er während seiner Arbeit kennengelernt. Er fragte ihn, ob er mit dem Transport von Menschen Geld verdienen möchte. Der Lohn: 2.200 Euro bar auf die Hand. Ein verlockendes Angebot für einen Menschen, der wenig hat.
Ein paar Stunden später steht der Renault als Beweismittel in der Halle eines regionalen Abschleppunternehmens. Dort warten noch drei andere Schleuserfahrzeuge auf die kriminaltechnische Untersuchung. Auch auf dem Hof reihen sich die Fahrzeuge der Menschenschmuggler aneinander. Darunter alte, rostige Transporter, Neuwagen und Mietfahrzeuge. Die Kennzeichen kommen aus Polen, Tschechien, Deutschland, Schweden. In ihnen liegen die Hinterlassenschaften der Schleuser: Energydrinks, Zigaretten, Jacken.
Erst wenn die Staatsanwaltschaft die Fahrzeuge freigibt, können sie abgeholt werden. Mietfirmen und unbeteiligte Halter holen ihre Autos meist schnell ab. Fahrzeuge, auf die keiner einen Anspruch erhebt oder hat, werden am Ende versteigert oder verschrottet.
Am späten Nachmittag dann ein Funkspruch, der die Ermittler aufhorchen lässt. Eine andere Einheit der Bundespolizei hat im sieben Kilometer entfernten Kodersdorf ein weiteres Fahrzeug gestellt. Im Inneren: Drei Georgier. An Zufall glauben die Beamten nicht. „Das könnte ein Pilotfahrzeug gewesen sein“, sagt Andreas Klemm. Komplizen des georgischen Schleppers. Das sei eine beliebte Taktik. „Ein Fahrzeug fährt vor, klärt die Lage und bindet notfalls eine Polizeieinheit an sich, beispielsweise in dem es auffällig fährt oder einen kleinen Blechschaden verursacht.“ So ist der Weg für das Schleuserfahrzeug frei, das seine „Fracht“ schnell absetzen kann.
Für Şükran und ihre Familie geht es am nächsten Morgen mit dem Zug in Richtung Westen. Ihr Ziel: die Erstaufnahmeeinrichtung in Leipzig.
Für ihren Schleuser hat der Amtsrichter Untersuchungshaft angeordnet. Im Fall einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug. Auch seine drei mutmaßlichen Komplizen werden sich vor Gericht verantworten müssen. Klemm und Boll sind längst wieder auf der Straße unterwegs. „Hinter jedem Fahrer, den wir wegnehmen“, sagt der Ermittler, „warten zwei andere, die den Job übernehmen.“