In der Sporthalle des Berliner Heinz-Berggruen-Gymnasiums haben jeden Mittwochnachmittag Hockey, Basketball und Co. Pause. Hier übt eine Gruppe mit Judo-Meister Dietmar Strack das, was man normalerweise vermeiden möchte: das Hinfallen.
Das sieht anfangs für den Zuschauer wirklich ein wenig merkwürdig aus. In der Sporthalle des Berliner Heinz-Berggruen-Gymnasiums treffen sich jeden Mittwochnachmittag ein gutes Dutzend Kinder, Jugendliche und bereits in die Jahre gekommene Erwachsene, um sich immer mal wieder hinfallen zu lassen. Hier wird also nicht Hockey, Basketball oder Badminton gespielt, sondern heute üben die Teilnehmer mit großem Eifer und viel Spaß, was jeder normalerweise vermeiden möchte: sich auf die Nase legen, das Gleichgewicht verlieren, stolpern, zu Boden gehen, lang hinschlagen.
Alle in der Gruppe machen also mit voller Absicht das, wovor Eltern ihre Kinder und Enkel ihre schon etwas wackeligen Großeltern ständig warnen: Fall bloß nicht hin! Pass auf, dass Du nicht ausrutscht! Halt Dich gut fest! Bei Schnee, Glatteis und auf rutschigem Laub kannst Du stürzen und Dir alle Knochen brechen! Stimmt. Jeder kennt einen, der schon einmal gestolpert, gefallen oder beim Schneefegen vor der Haustür ausgerutscht ist und sich dabei übelst die Knochen gebrochen hat. Aber auch in anderen Jahreszeiten stürzt und fällt man hin: eine Wurzel im Wald, eine verrutschte Gehwegplatte, eine übersehene Mulde auf der Hundewiese – so schnell kann es dann gehen: Oberschenkelhalsbruch, Krankenhaus, und schlimmstenfalls hat das letzte Hemd keine Taschen mehr. Traurig aber wahr: 2.000 Männer und Frauen, zumeist älter oder hochbetagt, sterben jährlich infolge eines Sturzes.
Bevor es mit dem Training losgeht, werden Matten in die Halle geschleppt, man setzt sich im Kreis zusammen, atmet durch und kommt erst einmal zur Ruhe. Körperbeherrschung – und hierum soll es in den nächsten 45 Minuten hauptsächlich gehen – setzt Besinnung und Konzentration voraus. Und dann beginnen die Übungen. Ganz sachte, noch ziemlich nah am Boden anfangs, fällt und rollt man aus dem Schneidersitz in jede Richtung zu Boden, dann von den Knien aus, als nächstes aus der Hocke und dann aus dem Stand. Weitere Techniken zur Körperbeherrschung kommen hinzu, sie sind unverzichtbar, um richtig Fallen zu lernen. Die korrekte Kopfhaltung, das Anspannen des Beins, das Abschlagen mit ausgestrecktem Arm. Der fallende Körper sollte einer elastischen Banane gleichen – was ein wenig albern klingt, ist wirklich ernst gemeint. Denn Verletzungen und Knochenbrüche sind überhaupt nicht lustig. Nur durch ständiges Wiederholen und Üben wird der richtige Ablauf beim Fallen im Kleinhirn abgespeichert, es wird Wochen und Monate dauern, bis all dies in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Zum Judo kam er zufällig
Während des Trainings ist ein Mann auf keinen Fall zu übersehen. Mit seiner Größe von 1,90 Meter überragt der hagere, durchtrainierte und immerhin schon über 80-Jährige die ganze Gruppe. Dietmar Strack verdankt seine Anerkennung aber weder Größe noch Alter, sondern seiner Erfahrung und seinem Können. Als Träger des schwarzen Gürtels und fünften Dan blickt der Judo-Meister und Diplom Judo-Lehrer auf zahlreiche Lehrgänge im In- und Ausland und vielfache Titelgewinne zurück. Wenn er mit dem scharfen Blick seiner blauen Augen die Übungen seiner Schützlinge verfolgt und mit ruhiger, klarer Stimme nicht nur Hinweise und Anweisungen gibt, sondern selbst vormacht und praktisch zeigt, wie man richtig fällt und worauf es dabei ankommt, dann strahlt er aus, was nicht jedem Trainer eigen ist: natürliche, durch Erfahrung erworbene Autorität und pädagogisches Gespür.
Dabei war dem Einzelkind aus Essen die Leidenschaft für den Judosport überhaupt nicht in die Wiege gelegt. Zwar gehörten Sport, Deutsch und Religion zu seinen Lieblingsfächern in der Montessori-Schule, später fuhr er Fahrradrennen und trieb Leichtathletik, aber erst später kam er durch Zufall mit dem asiatischen Kampfsport in Berührung. Nach dem Abschluss seiner Lehre in einem grafischen Reproduktionsbetrieb in Essen, ging der 19-Jährige in die Schweiz, um sein Können zu perfektionieren. Kurze Zeit später heiratet er, wird Vater und kehrt während der Kubakrise zurück, um in Itzehoe ein gutes Jobangebot anzunehmen.
Doch mit den kargen, zurückhaltenden Norddeutschen tut er sich anfangs schwer, bis ihn eher zufällig ein Arbeitskollege mit zum Judo nimmt. Zusammengesetzt aus den japanischen Worten „JU“ (sanft, nachgeben) und „DO“ (Weg, Prinzip) geht es hier um „Siegen durch Nachgeben“ – und das gefällt ihm außerordentlich. Denn draufhauen oder plattmachen entspricht nicht Dietmar Stracks Wesen, ihm geht es auch um gegenseitigen Respekt und Verantwortung im Kampf. Etwa beim Schulterwurf, eine von vielen Judo-Techniken, bei denen Kraft, Geschmeidigkeit und Geschwindigkeit zusammengehören. Ein Könner, wer den Gegner respektiert und ihn so zu Boden bringt, dass er keinen Schaden nimmt. Dieser Umgang, das gute Gefühl, zu dieser Gemeinschaft zu gehören, machen aus diesem Sport für ihn eine Leidenschaft. Er besucht internationale Lehrgänge, lässt sich auch von japanischen Meistern weiter ausbilden und wird mit den Jahren selbst ein Meister, Trainer, Kampfrichter. Er pausiert, als er in München die Gelegenheit hat, eine eigene Firma zu gründen, kreativ für die ansässige Filmindustrie zu arbeiten, der Beruf steht wieder im Vordergrund und kostet seine ganze Kraft. Doch Aufträge brechen weg, er geht Pleite, die Ehe scheitert. Es endet alles schlimm, er nennt es Lebenskrise, und so kehrt er zurück nach Berlin. Arbeitslos, gesundheitlich angeschlagen, und dann ein Fingerzeig des Schicksals, der Rat seines Arztes: Gehen Sie doch wieder zum Judo. Und es könnte, was zum Judo gehört, auch sein künftiges Lebensmotto sein: „Fallen, aber nicht aufgeben und wieder aufstehen!“ An der Berliner Technischen Universität nimmt er sein Training wieder auf.
Man sollte ein wenig Mut mitbringen
Dietmar Strack erfindet sich also in diesem Sinne neu, gibt nun seinem Sport und seinem Unterricht einen tieferen Sinn, vielleicht sogar eine Lebensweisheit, die sich erst durch Erfahrung, Auf und Abs, Krisen und Zähigkeit entwickelt. Sein Judotraining macht wachsam und demütig zugleich, es schützt vor Leichtsinn und gibt Selbstvertrauen. Er, der durch Judo seine Krise überwindet, entdeckt die Fähigkeit aufs Neue, sein Können weiterzugeben.
Dietmar Strack beginnt Kurse anzubieten: „Fallen lernen für Ältere“ Da er nun selbst oft genug gestürzt ist, kennt er die Ängste gerade der über 60-Jährigen, die durch zunehmende Immobilität besonders gefährdet sind. Aber man sollte auch ein wenig Mut mitbringen und sich schon trauen, seinen Körper besser beherrschen zu können. Wie ein Teilnehmer, der schon dreimal gefallen ist, Rippenbrüche davontrug und es dennoch wissen und lernen will. Jetzt erst Recht. Das kann ganz bescheiden anfangen. Auf einer blauen Linie auf dem Boden der Turnhalle entlanglaufen. Bewusst ausatmen beim Fallen, denn wenn man vor Schreck die Luft anhält, können die Lungenbläschen platzen. Oder auch: Wer der Wucht des Falles ausgesetzt ist, muss versuchen, den Aufprall auf eine möglichst große Fläche zu verteilen. Und immer wieder heißt es: üben, üben, üben. Gern zitiert Dietmar Strack einen japanischen Meister: „Ich fürchte nicht den, der zehntausend Techniken geübt hat. Sondern den, der eine Übung zehntausendmal geübt hat.“
Das Fallen, so fasst Strack zusammen, wird weitgehend unterschätzt. Und da es einen großen Aufwand bräuchte, älteren Menschen erst spät das richtige Fallen zu lehren, wäre es eine Aufgabe für Judo- und andere Kampfsportvereine, sich nicht nur auf Meisterschaftstitel und Medaillensegen zu konzentrieren. Sie sollten sich zusätzlich Jungen und Alten öffnen, um eben die Fähigkeit des richtigen Fallens frühzeitig zu erlernen. Warum werden also nicht auch dort solche Kurse angeboten und Trainer angeheuert, die vermitteln, was Dietmar Strack sich zur Aufgabe gemacht hat? Auch der Sportunterricht an den Schulen sollte entsprechend erweitert werden. Schon hat er ein neues Projekt im Auge. In einer Einrichtung für betreutes Wohnen, in der 250 ältere Menschen ihren Lebensabend aktiv gestalten, wird er auf freiwilliger Basis Fallprophylaxe anbieten. Solange macht er weiter wie bisher: Flyer verteilen und mit selbst geklebten Plakaten und Aushängen auf sein Angebot aufmerksam machen. Der Judo-Meister hofft auf Zuspruch und Interesse. Für jeden Einzelnen je eher, desto besser. Denn für jene, die mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus liegen, kommt sein Angebot eventuell zu spät.