Die Mutter von Thomas Serrières Vater war in seiner Familie immer ein Tabuthema. Vor Kurzem fing der Hobby-Ahnenforscher an zu recherchieren und setzte das Puzzle einer ungewöhnlichen Geschichte zusammen.

Über unsere Großmutter wurde in unserer Familie nicht gesprochen“, erinnert sich Thomas Serrière. Edith war eine Persona non grata. „Sie hat ihren Mann und ihren damals fünfjährigen Sohn, meinen Vater, einfach zurückgelassen. Mein Vater kam daraufhin für ein halbes Jahr ins katholische Kinderheim Fidelishaus in St. Ingbert. Er muss dort schlimme Erfahrungen gemacht haben. Edith blieb für meinen Vater und unsere gesamte Familie ein Tabuthema. Meine Schwester und ich haben nicht gewagt, unseren Vater auf sie anzusprechen. Ebenso haben wir unseren Vater nie nach den Erlebnissen in seiner Kindheit gefragt. Edith war für uns die ‚verlorene Großmutter‘. Im Raum blieb immer die Frage stehen: Warum hast du dein Kind zurückgelassen?“
Edith ließ Mann und Kind zurück
Ein liebevolles „Oma Edith“ kommt dem heute 66-Jährigen auch rund 45 Jahre nach dem Tod seiner Großmutter 1977 nicht über die Lippen. Aber eine zaghafte Annäherung, ein neugieriges Zugehen auf die verlorene Großmutter, das hat in den vergangenen Monaten stattgefunden. Ausschlaggebend dafür war das digitale Gedenkbuch des Stadtarchivs Saarbrücken, in dem der passionierte Ahnenforscher zum Jahresanfang in seiner Freizeit nach seiner Großmutter geforscht hat. „Vor ihrem Tod habe ich immer mal wieder von meiner Tante Maria kleinere Details über meine Großmutter erfahren. Zum Beispiel, dass sie einen Juden aus Saarbrücken geheiratet haben soll und mit ihm 1935 nach Paris gezogen sei. Im Stadtarchiv wurde ich dann fündig. Dort erfuhr ich, dass Edith den jüdischen Kaufmann Leo Cahn geheiratet hat.“
Zeitgleich zu seinen Recherchen im Stadtarchiv gab Thomas Serrière eine Suchanfrage zu seiner Großmutter und ihrem Ehemann Leo Cahn bei der Genealogie-Plattform „MyHeritage“ auf. Auf dieser israelischen Plattform können Nutzer seit 2003 rund 14 Milliarden historische Aufzeichnungen und rund 4,7 Milliarden Profile nach ihren Vorfahren durchsuchen.
Vor wenigen Wochen bekam Thomas Serrière Post aus Paris. Jean-Michel Wachsberger hatte die Suchanfrage des Saarländers gesehen. „Er teilte mir mit, dass Leo Cahn sein Großonkel sei, der 1942 in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde. Das hat mich, ganz ehrlich gesagt, fast umgehauen. Schließlich gehöre ich dem Volk der Täter an, die an seinem Volk millionenfachen Mord begangen hat. Und dieser mir unbekannte Mann nahm in einer sehr freundlichen Art, völlig vorurteilsfrei und ohne jegliche Anklage Kontakt zu mir auf.“

Nach einem vorsichtigen Herantasten an Jean Michel Wachsberger kam Bewegung in die Ahnenforschung von Thomas Serrière. Innerhalb kurzer Zeit tauschten sie ihre Ergebnisse aus. Thomas bekam verschiedene Fotos und Dokumente zur Verfügung gestellt, darunter einen Antrag Ediths aus dem Jahr 1936. Umgekehrt konnte Jean-Michel durch die von Thomas geschickten Dateien das frühere Leben Ediths in Saarbrücken kennenlernen.
„Mittlerweile kann ich das Leben meiner Großmutter und das ihres zweiten Ehemanns viel besser nachzeichnen“, sagt Thomas Serrière, und erzählt: „Meine Großeltern Edith und Jakob Serrière heirateten 1922. Edith war damals 19 Jahre alt. Am 11. März 1926 kam mein Vater Harald Eugen Serrière auf die Welt. Auf den Kleinkind-Bildern mit meinem Vater sieht Edith eindeutig nicht glücklich aus, und ich erkenne auch etwas Distanz zu ihrem Kind. Die Ehe zwischen Jacob und Edith hielt bis 1933.
Für meinen Vater Harald bedeutete die Trennung und der Weggang seiner Mutter ein furchtbares und einschneidendes Ereignis. Als wäre die Trennung für das Kind nicht schon schlimm genug gewesen, musste er 1933 für ein halbes Jahr nach St. Ingbert in ein Heim, in dem laut Aussagen vieler ehemaliger Schüler Erniedrigungen, Demütigungen und körperliche Attacken zu den gängigen Erziehungsmethoden zählten. Unser Vater hat später mit uns nie über diese Zeit gesprochen.“
Warum Thomas Serrières Vater kurzzeitig ins Heim musste, weiß keiner. Ab 1934 war er aber wieder bei seinem Vater in Saarbrücken. Seine Erfahrungen im Heim und das Gefühl, von seiner Mutter verlassen worden zu sein, müssen aber so schlimm gewesen sein, dass er Nachfragen seiner Enkelkinder nach ihrer Großmutter immer schroff abgebürstet hat.
„Im Jahr 1935 hatte mein Vater erste heilige Kommunion“, so Thomas Serrière weiter. „Laut Tante Maria kam meine Großmutter Edith nach Saarbrücken. Sie war nicht eingeladen worden. Sie beobachtete die Zeremonie allein, versteckt hinter einer Säule in der Kirche. Anlässlich des Festes bekam Harald ein Bild von Edith geschenkt, in dem Edith chic und etwas kokett aussieht. Der Text darauf lautete ‚Meinem lieben Harald von seiner Mutter‘“.
Nach der Ermordung ihres zweiten Mannes Leo Cahn blieb Thomas Serrières Großmutter in Paris. Nach Kriegsende soll sie ihren ersten Mann gebeten haben, den Namen Serrière wieder tragen zu dürfen. Ob es dazu kam, ist nicht bekannt.
„Mein Vater wehrte alle Versuche ab“
„Einige Male soll sich meine Großmutter bemüht haben, Kontakt zu ihrem Kind und später zu uns Enkelkindern zu knüpfen“, erzählt Thomas Serrière weiter. „Doch mein Vater wehrte alle Versuche ab. Dazu eine kleine Geschichte: Sie spielt Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre. Meine Tante war damals zu Besuch bei uns zu Hause. Am Mittagstisch erzählte sie, dass sie Edith getroffen habe. Edith habe gesagt, sie würde gerne die Kinder ihres Sohnes Harald kennenlernen, also meine Schwester und mich.“ Thomas Serrières Vater reagierte sehr wütend: Wenn Edith etwas wolle, dann solle sie zu ihm kommen. „Dieses Gespräch war das einzige Mal, dass mein Vater uns gegenüber die Existenz Ediths erwähnt hat. Als meine Großmutter im Sterben lag, startete sie einen erneuten Versuch, ihren Sohn zu sehen. Doch dazu kam es nicht mehr. Mein Vater fuhr zwar nach Paris, doch seine Mutter war bereits verstorben.“

Auch wenn Edith größtenteils eine Blackbox für Thomas Serrière bleiben wird, hat sich seine Haltung gegenüber der „verlorenen Großmutter“ in einigen Aspekten geändert. „Vielleicht klingt es etwas esoterisch, aber ich bin mit ihr in einen inneren Dialog getreten. Ich stelle andere Fragen: Warum ging die Ehe meiner Großeltern in die Brüche? Welchen Anteil hatte mein Großvater? Warum musste mein Vater kurzzeitig in ein Kinderheim? Gab es noch weitere Versuche Ediths, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen? Wollte Edith vielleicht doch ihr Kind nicht zurücklassen, sondern mitnehmen? Und: Wollte das ihr zweiter Ehemann Leo vielleicht nicht?“
Antworten wird Thomas Serrière dazu nur schwer finden. Doch dank seiner Ahnenforschungen und dem Kontakt zu Jean-Michel Wachsberger hat sich seine ursprünglich vehement ablehnende Grundeinstellung zu Edith geändert. Und mit dem jüdischen Familienzweig seiner Großmutter ist er dank Jean Michel Wachsberger nun im engen Kontakt und Austausch.
Kürzlich trafen sich die beiden in Saarbrücken. Gemeinsam besuchten sie die Gedenkstätten für die ermordeten Saarbrücker Jüdinnen und Juden: das Gedenkband vor der Synagoge am Beethovenplatz, die Gedenktafel an der Ecke Kaiserstraße / Futterstraße, wo bis 1938 die ehemalige Saarbrücker Synagoge stand, das Modegeschäft von Ferdinand Cahn, Leos Vater in der Bahnhofstraße, Ecke Viktoriastraße, das Mahnmal des Unterbrochenen Waldes an der Berliner Promenade und die Stolpersteine für Leo Cahn, Ediths zweiten Mann und Großonkel von Jean-Michel und für Dilla Cahn, die Mutter von Leo Cahn, die beide von Nazis ermordet wurden. Eindringliche Momente für den Deutschen und den Franzosen, die durch Edith, die Großmutter von Thomas und die Schwägerin von Jean-Michels Oma Fanny Cahn, verheiratete Wachsberger miteinander verbunden sind.
In Viehwägen nach Auschwitz gebracht

An dieser Stelle sei noch die tragische Geschichte der Familie Jean-Michels erzählt: Seine Großmutter Fanny Wachsberger fiel zusammen mit ihrer Schwägerin der berüchtigten Razzia des Velodroms zum Opfer. Am 16. und 17. Juli 1942 wurden damals 13.000 Juden in eine Pariser Radsporthalle getrieben, wo sie zusammengepfercht unter unsäglichen Bedingungen einige Tage vor sich hin vegetieren mussten. Nach und nach wurden sie über das Durchgangslager Drancy in Viehwägen nach Auschwitz gebracht. Am 29. Juli wurde die Mutter von Herbert, dem Vater von Jean-Michel, nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz darauf ermordet wurde. Kann man das Leid Herberts ermessen, da dies an seinem zehnten Geburtstag geschah? Kann man verstehen, warum Herbert sein Leben lang keinen Geburtstag feiern wollte und auch keine Gratulationen entgegennahm?
Schließlich wurden viele Familienmitglieder ihrer jüdischen Verwandten von Nazis abgeholt, in Konzentrationslager verbracht und ermordet, wie zum Beispiel die Urgroßmutter Dilla von Jean-Michel Wachsberger. „Mein Vater musste erleben, wie die französischen Polizisten seine Großmutter aus dem Haus zerrten. Herbert musste auf die Polizeiwache mitkommen. Sein Name stand aber nicht auf der Deportationsliste. Herbert kam dank einer Nachbarin über Irrwege zu Verwandten in den Pyrenäen, wo er sich verstecken musste und erst nach dem Krieg erfuhr, dass ein Großteil seiner Familie in Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern vergast worden war“, erzählt er bei seinem Besuch in Saarbrücken. Welchen Stand hatte Edith als Deutsche nach 1942 in Frankreich, wie gingen ihre jüdischen Anverwandten mit ihr um? Vielleicht gelingt es durch weitergehende Nachforschungen und Befragungen zusätzlicher Personen noch andere Mosaiksteinchen aus dem Leben von Edith Frisch, geschiedene Serrière, verwitwete Cahn ans Licht zu bringen und damit ihrem saarländischen Enkel Thomas ein besseres Verständnis ihres Lebens zu ermöglichen.