Verena Holler ist Mitbegründerin der Initiative „Smarter Start ab 14“. Sie möchte Eltern ermutigen: kein eigenes Smartphone für Kinder, die jünger als 14 sind. Eltern an 200 Schulen in Deutschland nehmen teil, immer mehr registrieren sich auf der Website.
Frau Holler, heutzutage bekommen Kinder ihr erstes Smartphone zwischen sechs und elf Jahren. Das zeigt das Ergebnis einer Umfrage der Plattform YouGov. Sie ermutigen Eltern, dass sie ihren Kindern erst mit 14 Jahren ein eigenes Smartphone kaufen. Ist da nicht die Gefahr groß, dass das Kind in der Schule zum Außenseiter wird?
Klar! Und es ist schlimm, dass es so weit gekommen ist. Viele Eltern haben das Gefühl, dass ein Smartphone nicht gut für ihr Kind wäre – und kaufen es ihnen trotzdem, aus Gruppendruck. Ich möchte sie dazu ermutigen, nicht aufzugeben. Auch wenn es wirklich schwierig sein kann. Jeder und jede von uns kann versuchen, die aktuelle Entwicklung mitzugestalten. Außerdem versucht unsere Initiative ja genau das: Ausgrenzung zu verhindern.
Wie schaffen Sie das?
Unsere Idee ist: Wenn mehrere Eltern in einer Klasse sich zusammentun und gemeinsam beschließen, dass ihre Kinder erst mit 14 Jahren Smartphones bekommen, dann ist die Chance viel geringer, dass die Kinder sich ausgeschlossen fühlen. Sie können es viel besser annehmen, wenn ihre Freundinnen und Freunde auch noch kein Smartphone haben. Unsere Initiative funktioniert so, dass man sich bei uns mit seinem Namen und dem Namen der Schule des Kindes anmeldet. Wir schauen dann: Gibt es an dieser Schule noch andere Eltern, die sich bei uns angemeldet haben? Und dann bringen wir diese Leute zusammen. Das Konzept ist wie ein Schneeball-System. Es soll von allein immer weiter rollen und größer werden, weil immer mehr Eltern von uns erzählen und sich zusammenschließen.
Und das funktioniert?
Wir bekommen sehr viele Mails von Eltern, die schreiben, dass sie den Tränen nahe waren, als sie uns entdeckt haben. Vor Erleichterung. „Es gibt noch Menschen, die so denken wie ich“ ist ein Satz, den wir häufig lesen oder hören. Sie fühlen sich darin bestärkt, etwas in Gang zu bringen. Dieses Jahr hatten wir 25.000 Seitenaufrufe. Eltern an 200 Schulen in Deutschland machen mit.
Sie haben selbst drei Kinder. Was ist Ihre eigene Erfahrung?
Meine Kinder sind der Grund, warum ich die Initiative mitbegründet habe. Ich saß vor ein paar Jahren bei einem Elternabend, mein mittlerer Sohn war gerade in der dritten Klasse. Wir haben über Mediennutzung geredet. Und es hat mich geärgert, dass es immer nur darum ging, wie lange Kinder ihr Smartphone nutzen sollten. Da habe ich mich gemeldet und gesagt: Was ist denn mit der Frage, ob Grundschüler überhaupt ein Smartphone besitzen sollten? Die Frage stellen sich viele gar nicht mehr. Eine andere Mutter hat sich daraufhin gemeldet und mir zugestimmt. Nach dem Elternabend hat mich eine der Mitbegründerinnen, Solveig Scheuren, angesprochen und gesagt: Wir haben da was vor, möchtest du mitmachen?
Es fehlen allerdings Langzeitstudien über die Auswirkung eines eigenen Smartphones auf ein Kind.
Weil Kinder erst seit etwa zehn Jahren Smartphones besitzen und darauf Social Media nutzen. Das ist ein extrem kurzer Zeitraum. Aber es kommen immer mehr Studien raus, und keine einzige davon belegt einen positiven Effekt auf Kinder. Im Gegenteil: Sie zeigen, dass es wahrscheinlich ist, dass Kinder sich physisch und psychisch schlechter entwickeln, wenn sie so viel Zeit vor Bildschirmen verbringen. Ich persönlich glaube, dass wir eines Tages zurückblicken und denken: Das ist Wahnsinn, dass wir unseren Kindern so früh eigene Smartphones überlassen haben. Weil es so ein großes Risiko für ihre Gesundheit ist. Ein Vergleich: Früher war es völlig normal, dass in Innenräumen geraucht wurde. Auch neben schwangeren Frauen. Das würde heute niemand mehr tolerieren, es gibt genug Studien dazu. Wir haben uns weiterentwickelt.
Der Slogan Ihrer Initiative lautet: „Die Kindheit ist zu kurz, um sie an ein Smartphone zu verlieren.“ Ist das nicht etwas drastisch formuliert?
Die Kindheit ist ein wichtiger, zeitlich sehr begrenzter Abschnitt im Leben eines Menschen. Diese Zeit kann niemand mehr zurückholen. Wir lernen nie wieder so viel. Und wir müssen eine unglaubliche Menge an Erfahrungen machen, damit sich bestimmte Verknüpfungen im Gehirn bilden. Solche, die nur in der realen Welt und in der Auseinandersetzung mit realen Personen, der Natur, mit Tieren oder auch einfach mit sich selbst geschehen müssen. Es geht zum Beispiel darum, die Mimik und Gestik von anderen Menschen interpretieren zu lernen, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu benennen, sie vor allem auch zu regulieren. Das passiert alles nur, wenn wir Zeit mit anderen Menschen verbringen. Noch ein wichtiges Thema: Kinder müssen lernen, Langeweile auszuhalten. Es ist bewiesen, dass das extrem wichtig für die Kreativität ist.
Gibt es auch körperliche Folgen von zu viel Zeit vorm Bildschirm?
Ja, zu viel Zeit am Smartphone wirkt sich negativ auf die Motorik aus, aufs Springen, Balancieren oder Klettern. All das sind Dinge, die Kinder heute viel weniger machen oder überhaupt können. Weil sie zu Hause sitzen und auf einen Bildschirm starren. Solche Bewegungen sind in unserem Evolutionsprogramm seit Millionen von Jahren essenziell für die Entwicklung des Körpers und des Gehirns. Nicht nur bei Menschen ist das so. Alle Säugetiere spielen, wenn sie jung sind. So bereiten sie sich auf das Erwachsenenleben vor. Das ist sehr gut erforscht. Wenn das fehlt, tragen Menschen ein Leben lang Defizite mit sich herum.
Warum ist ausgerechnet 14 das richtige Alter für ein Smartphone?
Die 14 ist zum Beispiel in der Rechtsordnung ein entscheidendes Alter: Bis man 14 wird, ist man ein Kind nach dem Jugendschutzgesetz. Da gelten strengere Schutzvorschriften und Verbote. Auch strafmündig ist man erst mit 14. Das hat einen Grund: Kinder denken und verhalten sich anders als Erwachsene. Sie sind impulsiver und noch nicht so vernunftgesteuert wie wir.
Der Übertritt auf eine weiterführende Schule scheint für viele Eltern der passende Zeitpunkt für das erste eigene Smartphone zu sein. Warum ist das falsch?
Die meisten Kinder bekommen zu dem Zeitpunkt ein Smartphone, ja. Das ist normal geworden. Mit dem Argument: Längerer Schulweg, eventuell mit Bus und Bahn – das Kind muss erreichbar sein. Aber erreichbar kann ein Kind auch über ein altes Nokia-Tastenhandy sein. Dazu braucht es kein iPhone 14 mit Internetflatrate. Außerdem ist die erste Zeit an einer weiterführenden Schule eine Umbruchphase. Die Klassengemeinschaft ändert sich, Freundeskreise formen sich neu. Das Kind interessiert sich nicht mehr so für seine alten Spielsachen oder Hobbys, es möchte Neues ausprobieren. Da sticht ein neues Smartphone im Zweifel alle anderen Angebote aus. Weil es eben so viel verlockender und bequemer ist als zum Beispiel eine neue Sportart zu lernen.
Laut einer Studie der DAK sind aktuell 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland abhängig von Social Media, Gaming und Streaming oder zumindest suchtgefährdet. Hängt das für Sie mit dem eigenen Smartphone zusammen?
Ja, denn ein Smartphone bedeutet ja meistens einen unkontrollierten, unbeaufsichtigten Zugang zum Internet. Zu jeder Zeit und an jedem Ort. Online Games und Social Media sind nachweislich so designt, dass wir möglichst viel Zeit auf den Apps verbringen. Das wissen wir. Aber nicht nur das Suchtpotenzial dieser Apps ist das Problem. Sondern auch andere negative Folgen: Essstörungen, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Zugang zu Pornografie. Wie können wir unsere Kinder dem einfach aussetzen, indem wir ihnen ein Smartphone in die Hand drücken?
Müssen Kinder nicht früh lernen, sich im Internet zu bewegen?
Das Argument höre ich oft: Je früher Kinder das lernen, desto besser. Damit macht man es sich zu einfach. Ich bin dafür, dass es eine Art Medienführerschein gibt. So machen wir es doch auch beim Autofahren: Erst die Theorie, und dann ganz langsam und begleitet mit der Praxis anfangen. Man würde ja niemanden einfach allein ins Auto setzen und sagen: Fahr mal los, wirst schon lernen, wie es geht. Letztendlich bedeutet ein Smartphone ja nicht, dass Kinder vorher keine digitalen Medien nutzen sollen. Das sollen sie natürlich. Aber eben begleitet und kontrolliert, zum Beispiel zusammen mit den Eltern.
Und für Sie ist es also die Lösung, das Smartphone erst an das Kind zu geben, wenn es schon gelernt hat, mit den Gefahren im Internet umzugehen.
Das würde ich für richtig halten. Stichwort: Medienkompetenz. Andere Länder sind da weiter als wir. In Österreich gibt es ab der ersten Klasse ein eigenes Unterrichtsfach „Digitale Grundbildung“. Vor dem ersten Smartphone könnte man Kindern eine Art Kinder-Handy geben. In den USA gibt es so etwas schon: Kinder-Handys haben keinen Zugang zum Internet, haben aber dafür hilfreiche Tools wie Kalender, SMS, gute Kameras, Taschenrechner. Mit manchen kann man sogar Musik hören. Das finde ich sehr sinnvoll. Wir sollten nicht vergessen: Smartphones sind von Erwachsenen für Erwachsene gebaut worden. Sie sind keine Kinderspielzeuge.
Finden Sie, dass die Politik zu wenig tut?
Ja, sie lässt Eltern und Lehrer aktuell allein damit. Das ist problematisch. Das hat auch etwas mit Chancengleichheit zu tun: Welche Eltern haben die Zeit und die Ressourcen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Der richtige Ort, um darüber zu lernen, wäre die Schule. Aber das heißt nicht, dass wir Lehrer damit allein lassen sollten. Die Verkehrserziehung zum Beispiel wird ja auch von Externen wie der Polizei durchgeführt. In diesem Fall könnten es Medienpädagogen machen. Wir von der Initiative überlegen gerade, ob wir solche Kurse für Klassen anbieten könnten. Aktuell ist unser Angebot noch sehr auf Eltern bezogen mit Workshops, Webinaren oder Medien-Elternabenden.
Steht Weihnachten vor der Tür, wünschen sich viele Kinder ein Smartphone. Wie erkläre ich als Elternteil, dass es keins bekommt?
Ich finde es wichtig, ehrlich zu sein und die Gründe zu erklären. Das Kind soll hören, welche Gedanken ich mir gemacht habe, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es gibt und welche Sorgen ich habe. Wir können nicht erwarten, dass das Kind es dann akzeptiert – aber es kann vielleicht besser mit dem Nein umgehen, weil es merkt, dass keine Willkür dahintersteckt, keine Verschwörungstheorie, sondern eine Entscheidung aus Liebe und Sorge.
Das wird nichts daran ändern, dass Kinder Videos auf TikTok anschauen wollen.
Wir sollten uns genau anhören, warum unser Kind ein Smartphone will. Ist es zum Beispiel der Klassen-Chat? Oder ein bestimmtes Spiel? Ist es das Musikhören? Viele Apps kann man ja auch am Tablet der Eltern oder am PC nutzen, auch WhatsApp. Wir können dem Kind zum Beispiel erlauben, zweimal am Tag in den Klassen-Chat zu schauen, damit es nichts verpasst und mitreden kann. Wir können zusammen mit dem Kind auf TikTok scrollen. So bleiben wir auch selbst auf dem Laufenden. Das ganze Thema ist nicht schwarz-weiß. Wir können unserem Kind entgegenkommen. Und wir sollten seine Bedürfnisse unbedingt ernst nehmen.