Für die einen ist es ein „Durchbruch“, für die anderen ein „Tropfen auf den heißen Stein“. Bund und Länder haben sich auf ein milliardenschweres „Startchancen-Programm“ geeinigt, das vor allem Schulen mit besonderen Herausforderungen unterstützen soll.
Die Vorstellung war begleitet von Superlativen. Es sei das „größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“, ein „wichtiger Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit“, das „wichtigste Förderprogramm seit Aufholen nach Corona““. Die Liste der lobenden Worte ließe sich verlängern.
In der Tat geht es um eine beträchtliche Summe – und ehrgeizige Ziele.
Zwanzig Milliarden Euro sollen im „Startchancenprogramm“ in den kommenden zehn Jahren zur Verfügung stehen, um allen Kindern unabhängig von Herkunft und dem oft zitierten „Geldbeutel der Eltern“ einen guten Bildungserfolg zu ermöglichen.
Deutschland steht ausweislich einer ganzen Reihe von Studien, insbesondere OECD-Bildungsstudien, weiterhin vor der Herausforderung, dass Bildungserfolg von Kindern stark abhängig ist vom sozioökonomischen Status der Eltern und der Herkunft.
„Reformdynamik kam zum Erliegen“
„Da hilft es auch wenig, sich damit herauszureden, dass wir im OECD-Schnitt liegen. Wir sind eine hoch entwickelte Industrienation und wollen es auch bleiben!“, kommentierte der damals stellvertretende Bundesvorsitzende des VBE (Verband Bildung und Erziehung) Gerhard Brand den OECD-Bericht 2021.
Zwei Jahre später kommentierte Brand, inzwischen VBE-Bundesvorsitzender, die Ergebnisse der Pisa-Studie mit den Worten: „Alle frommen Versprechungen in Richtung Chancengleichheit, sie fruchten nicht. Insgesamt decken sich die Ergebnisse mit vielen vorangegangenen Bildungsstudien.“
Dabei habe Deutschland nach dem „Pisa-Schock“ 2001 „zunächst viel erreicht. Im Ergebnis stand Deutschland bereits 2009 im internationalen Vergleich viel besser da“, sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher Ende vergangenen Jahres in einer von der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) veröffentlichten Analyse. Insbesondere sei es gelungen, die großen sozialen Unterschiede zu reduzieren. Auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund hätten deutlich bessere Leistungen aufgewiesen. „Allerdings kam diese Reformdynamik in den vergangenen zehn Jahren praktisch zum Erliegen. Seitdem sehen wir Rückschritte, nicht unbedingt, weil die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems abnimmt, aber weil das Bildungssystem in Deutschland sich den sich ändernden Rahmenbedingungen nicht schnell genug anpasst“.
Je schneller der Wandel, desto weniger würden politische Instrumente wirken, die auf eine Abmilderung sozialer Ungleichheiten abzielten, so die These von Schleicher. „Kinder aus wohlhabenderen Familien finden oft viele offene Türen für ein erfolgreiches Leben. Dagegen haben Kinder aus bildungsfernen Schichten meist nur eine einzige Chance im Leben: eine gute Schulbildung“.
Das alles sind keine neuen Erkenntnisse. „Der Handlungsdruck ist groß“, räumt auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung auf seinen Internetseiten ein. Um aber gleich die gute Botschaft von Ministerin Bettina Stark-Watzinger zu liefern: „Ich freue mich, dass wir uns darauf verständigt haben, dass sich die Länder hälftig an der Finanzierung des Programms beteiligen.“ Diese Feststellung im September letzten Jahres signalisierte Einigkeit zwischen Bund und den für die Bildungspolitik zuständigen Ländern, ein bemerkenswertes Programm auf den Weg zu bringen. Es brauchte zwar noch ein paar Monate, um zahlreiche Details zu klären.
Anfang des Monats konnte dann ein sichtlich zufriedenes Damen-Quartett das Ergebnis öffentlich verkünden: Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger neben der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, der saarländischen Ministerin Christine Streichert-Clivot, flankiert von Kolleginnen Karin Prien aus Schleswig Hostein für die CDU-geführten Bildungsministerien Stefanie Hubig aus Rheinland-Pfalz für die SPD. Schon diese Zusammensetzung zeigt: Bildungspolitik ist ein höchst komplexes Feld.
Die Ergebnisse dieser Verständigung: Zwanzig Milliarden Euro gibt es in den kommenden zehn Jahren für Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter junger Menschen. Rund 4 000 Schulen dürften davon profitieren, somit rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Die Kosten teilen sich Bund und Länder jeweils zur Hälfte. 40 Prozent der Fördermittel sind für Infrastruktur und Ausstattung vorgesehen, jeweils 30 Prozent für Schul- und Unterrichtsentwicklung (etwa spezielle Fördermaßnahmen) sowie für multiprofessionelle Teams. Schwerpunkt der Förderung soll in den Grundschulen liegen, aber auch weiterführende Schulen und berufliche Schulen werden berücksichtigt. Inhaltlich stehen Basiskompetenzen im Mittelpunkt, also Schreiben, Lesen, Rechnen, mithin genau die Bereiche, bei denen Deutschland in der letzten Pisa-Studie keine guten Ergebnisse erzielt hatte. Starten soll das Ganze bereits im kommenden Schuljahr 2024/25.
„Bildungföderalismus funktioniert“
Die Reaktionen darauf fielen, wie kaum anders zu erwarten, recht unterschiedlich aus. Karin Prien beispielsweise betonte vor allem, dass diese Verständigung zwischen Bund und Ländern ein guter Beleg dafür sei, dass „der Bildungsföderalismus funktioniert“.
Eben jener Bildungsföderalismus, in dem viele Kritiker eine der Ursachen dafür sehen, dass Deutschland in Sachen Bildung im internationalen Vergleich eher mittelmäßig abschneidet (je nachdem, welche Parameter herangezogen werden).
Für die CDU/CSU-Opposition im Bundestag kritisiert deren Koordinatorin für Bildungspolitik, Daniela Ludwig, dass das Startchancen-Programm allenfalls der berühmte „Tropfen auf den heißen Stein“ sei. Sie rechnet vor, dass einerseits nach der Pisa-Studie ein Viertel der Kinder und Jugendlichen die Mindeststandards in den Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen) nicht mehr erreichen würde, andererseits aber nur jeder elfte Schüler von dem Startchancen-Programm überhaupt profitieren werde, und stellt lapidar fest: „Das ist zu wenig“.
Andere wiederum wie die GEW-Vorsitzende Maike Finnern sehen einen entscheidenden Durchbruch gegenüber der bisherigen Praxis, indem nämlich nun ein lange geforderter „Sozial-Index“ zur Anwendung käme, was heißt, dass Schulen in Quartieren und Regionen mit besonderen Herausforderungen gezielt gefördert werden. Aber auch für Finnern greift das Programm noch viel zu kurz. Sie verweist darauf, dass rund zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen in armutsgefährdeten Verhältnissen leben, das Programm aber eben nur die schon erwähnten rund zehn Prozent erreichen werde.
Zudem gebe es an den Schulen einen grundsätzlichen Sanierungsstau von 45 Milliarden Euro. Dafür brauche man aber eigentlich einen eigenen Sanierungstopf. Das Startchancen-Programm könne insofern nur „ein Einstieg“ sein.
Lob gab es vom Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Florian Fabricius, aus dessen Sicht das Programm ein Gamechanger sein könnte, weil erstmals zielgerichtet Geld verteilt werde an die Schulen, die dies besonders nötig hätten.
Aber auch auch der Vertreter der Schüler verweist darauf, dass damit „kaputte Toiletten und tropfende Decken nicht repariert“ werden würden. Und am grundsätzlichen Lehrermangel ändere es ebenfalls nichts.