Ständig fliegen uns Meinungen und Emotionen entgegen. Höchste Zeit, durchzuatmen
Fühlen Sie es auch? Wir stehen mächtig unter Strom. Durch unsere Adern fließt der Drang, mit den eigenen – natürlich richtigen – Argumenten durchzudringen, oder noch besser: einen K.o.-Sieg zu landen. Bei jedem Thema, ob Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Gendern, den Entscheidungen der Video-Schiedsrichter in der Fußball-Bundesliga oder das wirre bis irre Liebesleben von Iris Klein – Letzteres müssen Sie nicht wissen, aber: die Mutter von Daniela Katzenberger. Zu allem geben wir unsere pointierte Meinung kund – und zwar so ausführlich und nachdrücklich wie möglich. Präsenz um jeden Preis. Jederzeit.
Ganz besonders von ihrem Sendungsbewusstsein beseelt sind unsere Politiker. Talkshow-Hosts sind ihre Erfüllungsgehilfen. Tatort „Anne Will“, wahlweise auch „Maybrit Illner“ oder „Markus Lanz“. Die Mächtigen im „Diskurs“. So oder so ähnlich: Gast 1: „Wir planen derzeit ein neues Gesetz zur…“ Gast 2: „Hören Sie doch auf mit Ihren abstrusen Plänen zum…“ Gast 1: „Wenn Sie mich ausreden lassen, beweise ich Ihnen, dass unsere Pläne alles andere als…“ Gast 2: „Sie brauchen mir nichts zu beweisen, Ihre Tatsachen sind an den Haaren…“ Gast 3: „Apropos Haare, früher waren Männer mit blonden, langen Haaren Pazifisten, heute sind sie…“ Gast 2: „Entschuldigen Sie, was wollen Sie mir überhaupt sagen, auf Ihrer Platte ist wahrscheinlich noch nie etwas…“
Die Diskutanten verwenden einen erheblichen Teil der Sendezeit darauf, sich gegenseitig darauf hinzuweisen, ausreden zu wollen – oder reißen das Wort kurzerhand ohne Vorwarnung an sich. Fremde Argumente ausklingen lassen? Fehlanzeige. Die vorgefasste Meinung lässt keine Gegenrede zu. Im Kampf um die Debattenkrone darf es nur einen Sieger geben: mich. Konstruktiver Austausch: von wegen. Dazulernen: wozu? Was für eine erbärmliche Diskussionskultur!
Auch im Job oder im Alltag sehen sich viele in ständiger Konkurrenz. Der Standpunkt definiert das Ansehen. Wichtiger als soziale Kompetenz und Empathie sind Dominanz und Durchsetzungskraft. Während das Gegenüber seine Argumente vorträgt, überlegt man sich bereits eine wuchtige Antwort. Hinzu kommt: Alles um uns herum ist schneller und lauter geworden. Die Leitlinien einer Aufmerksamkeitsgesellschaft mit unzähligen Kommunikationskanälen, auf denen Botschaften im Sekundentakt über den Äther rauschen, haben sich unwiederbringlich in unsere Gehirnwinden gefräst. Ich tippe, also gelte ich. Ich rede, also bin ich. Wir lassen uns davon anstecken, sind ungeduldig, hektisch, aufbrausend, auch und gerade im Dialog.
„Denke immer daran: Wenn du etwas sagst, dann wiederholst du nur das, was du sowieso schon weißt. Aber wenn du zuhörst, dann kannst du noch Neues erfahren“, analysiert der Dalai Lama den Nutzen des Ohrenspitzens. Zuhören ist die Voraussetzung dafür, die Welt zu begreifen. Der andere könnte recht haben, seine Absichten könnten sogar – einige mag das überraschen – wohlgemeint sein. Ergo: Wir tun gut daran, einen Gang zurückzuschalten, Worte geschehen zu lassen. Kritik und Gegenwehr haben Platz, aber auch Zeit.
Die Konzentration auf einen Gesprächspartner ist eine Haltungsfrage. Durch echtes Zuhören entsteht eine zwischenmenschliche Bindung, denn jedes Individuum möchte wahrgenommen, geachtet und verstanden werden. Auch wenn er oder sie im ersten Moment so klingt, als könnten wir uns so gar nicht mit dem Geäußerten identifizieren, als sei es gar ein No-Go, sich mit „so jemandem“ zu unterhalten.
Wenn wir lernen, den Austausch in all seiner Breite zuzulassen und dabei gleichzeitig mehr Substanz wagen, dann können wir neue Horizonte erklimmen, unser eigenes und das Leben unserer Mitmenschen positiver gestalten. Atmosphärisch und faktisch. Um mit weisen Worten des Schweizer Dichters und Politikers Gottfried Keller zu schließen: „Mehr zu hören, als zu reden – solches lehrt uns die Natur: Sie versah uns mit zwei Ohren, doch mit einer Zunge nur.“