Über Minimalismus-Maximierung, Freizeitstress und überflüssigen Ballast
Für fast jede Situation gibt es das passende Sprichwort – und leider meist auch jemanden, der es einem um die Ohren haut. Manche Sprüche sagt man aber auch gern zu sich selbst. „Weniger ist mehr“ ist so einer. Meist fällt der Satz dann, wenn eigentlich von mehr ausgegangen wurde. Er dient praktisch der nachträglichen Selbstberuhigung. Statt 400 Euro bekomme ich nur 50 Euro Gehaltserhöhung? Naja … weniger ist mehr. Ich wollte im Sommer drei Wochen auf die Malediven, aber das Geld reicht nur für drei Übernachtungen mit Frühstück im Hotel „Zum grünen Wildschwein“ in Bad Bergzabern? Weniger ist mehr. Haha.
Dass weniger wirklich und wahrhaftig mehr sein kann, ist in unserer auf Wachstum programmierten Welt keine Option. Wenn jemand freiwillig weniger möchte, tut und macht, muss es sich um irgend so einen Minimalismus-Spinner handeln. Diese Denkweise ist tief in unseren Hirnen verschaltet. Wenn ein Problem auftaucht, überlegen wir automatisch, was wir zusätzlich tun können, um seiner Herr zu werden.
Wenn ein System hakt, stellen wir die Frage, welche Komponente wir noch integrieren können, damit das Ruckeln aufhört. Das mag manchmal funktionieren, keine Frage. Nur sieht leider nicht alles, an das man immer mehr Dinge anbaut, nachher so imposant aus wie das Schloss Neuschwanstein, wenn Sie verstehen …
Ein besonders markanter Auswuchs des Ganzen ist mir neulich begegnet. Ein Onlineartikel beschäftigte sich mit den zunehmenden Überforderungstendenzen von Kindern im Grundschulalter und deren ausgeprägtem Freizeitstress. Für viele sei es völlig normal, während der Woche zwischen Klavierunterricht, Jazzdance, Fußballtraining, Tischtennis, Zeichenkurs, Reitstunden und Kampfsporttraining zu pendeln.
Die „Lösung“ dafür? Nennen Sie mich einen altmodischen Schluri, aber ich hätte gedacht, wenn mich was überfordert, mache ich erst einmal – soweit es geht – weniger. Aber, wie oben ausgeführt, schwingt bei einem „Weniger“ ja immer irgendwie auch ein bisschen was von „Verlierer“ mit. Weniger macht man nur, wenn es gar nicht anders geht. Niemals freiwillig jedenfalls. Und deshalb pries der Artikel Resilienz-Training für Kinder an.
Damit die Kids es besser verkraften, an jedem Wochentag komplett verplant zu sein, packt man ihnen also noch einen Termin in den Kalender. Okay. „Ab zum Resilienz-Training, Leon-Philipp, morgen musst du gut drauf sein für dein Schachturnier!“
Andererseits verwundert es nicht wirklich, dass es heute solche Trainings gibt. Selbst Dinge, die unter dem Stichwort „Self Care“ laufen, sind meist nur ein weiterer Termin unter vielen. Yoga, Entspannungstraining, Meditation? Klar – aber bitte nur zweimal die Woche für maximal 60 Minuten. Ansonsten passt es schlecht.
Und warum tun wir das Ganze? Na klar, um wieder „aufzutanken“ und uns verausgaben zu können. All diese Dinge sind immer nur Mittel zum Zweck: Um mehr zu tun. Mehr arbeiten. Mehr leisten. Mehr feiern. Mehr erledigen. Auf jeden Fall: mehr Ablenkung.
Wissenschaftliche Studien belegen, dass der Großteil der Menschen nicht einmal auf die Idee kommt, weniger könnte tatsächlich mehr, sprich besser sein. Ein Text soll überarbeitet werden? Kürzen wird als Lösung meist nicht in Betracht gezogen. Selbst beim Bauen von Häusern mit Lego-Steinen zeigt es sich: Strukturen verbessern, indem man überflüssigen Ballast entfernt, darauf kommen nur einige wenige Versuchspersonen.
Die Komplexität unserer Welt hat dazu geführt, dass wir blind für die einfachen Dinge geworden sind. Schichten von scheinbaren Bedürfnissen stapeln sich übereinander. Und so erhält die Komplexität sich irgendwann selbst und lässt uns Zielen hinterherjagen, die niemand von uns jemals erreichen kann, weil es sie nicht wirklich gibt. Oder wann waren Sie zuletzt am Ende Ihrer Bedürfnisse angelangt?