Präzise, schnell, wartungsarm: Elektronische Schaltungen für Fahrräder bügeln typische Macken rein mechanischer Schaltungen aus. Die Entwicklung bringt mehr Komfort und ultrateure High-End-Lösungen hervor – doch langsam setzt eine Demokratisierung ein.
Es zirpt und rattert im Getriebe. Nicht gerade geräuschlos schaltet die Elektronik in den Anfahrgang zurück, als wir mit dem Test-Bike vor der roten Ampel halten – dafür aber automatisch und blitzschnell. Dann wird es grün, wir treten in die Pedale und wechseln mit dem Daumen – zirp, zirp – ein ums andere Mal den Gang. Per Knopfdruck ohne großen Kraftaufwand oder dass Hebel über lange Wege bewegt werden müssten.
Als das große Ding feiert Getriebehersteller Pinion, Spezialist für Tretlagerschaltungen im württembergischen Denkendorf, sein „Smartshift“-System: Schalten sei jetzt so „high-end und intuitiv wie im Sportwagen“. Gangwechsel gingen „schneller als ein Wimpernschlag“ vonstatten, nämlich binnen 0,2 Sekunden. Nicht nur während der Fahrt oder im Stand, sondern auch unter Last – also zum Beispiel im Wiegetritt bergauf. Zudem sei das System praktisch wartungsfrei.
„Schneller als ein Wimpernschlag“
Wie immer, wenn Hersteller in höchsten Tönen über eigene Produkte schwärmen, muss schnell Wasser in den Wein: Neu ist, dass sich ein Pinion-Zentralgetriebe erstmals elektronisch schalten lässt. Doch Schaltungen, die elektrischen statt rein mechanischen Impulsen gehorchen, gibt es von anderen Herstellern schon seit Jahrzehnten.
Eine erste „mikroprozessorgesteuerte“ Kettenschaltung brachte 1992 der französische Komponentenhersteller Mavic heraus, Sachs aus Schweinfurth stellte mit der Speedtronic 1995 laut Benutzerhandbuch von damals „die erste elektronisch gesteuerte Nabenschaltung der Welt“ vor, Shimano zog im neuen Jahrtausend mit der Schaltgruppe Nexave C910 nach und führte im vergangenen Jahrzehnt auch E-Versionen der Nabenschaltungen Alfine und Nexus ein.
Konkurrent Sram, in dem die Fahrradabteilung von Sachs längst aufgegangen ist, trumpfte 2016 mit der weltweit ersten funksignalgesteuerten Rennradschaltung Red Etap auf, die auf Kabelverbindungen verzichtet. Und Anfahrgänge können Biker auch bei Schaltungen anderer Hersteller einstellen, zum Beispiel bei Rohloffs elektronischer Nabenschaltung Speedhub E-14 für Mittelmotor-E-Bikes. Hersteller Enviolo, Anbieter einer Automatik nennt sein vergleichbares Feature „Ampelfunktion“.
Was grundsätzlich für alle elektronischen Schaltungen gilt: „Der Komfort steigt“, sagt Marco Brust, Geschäftsführer beim Schweinfurter Fahrrad-Prüfinstitut Velotech. Verstellte Schaltungen, knurpsende Naben oder schleifende Ketten, gehören weitgehend der Vergangenheit an, da die Systeme präzise schalten. Michael Wild vom Shimano-Importeur Paul Lange in Stuttgart spricht von einer „dauerhaften, konsistenten Schaltqualität, da, einmal eingestellt, das Schaltsystem sich nicht mehr verstellen kann, beispielsweise durch gelängte mechanische Züge.“ Auch Prüfexperte Brust sagt: „Elektronische Schaltungen haben weniger anfällige Komponenten.“
Langlebiger, weil schonende Nutzung
Praktisch ist eine weitere Funktion, die sich beim italienischen Hersteller von Kettenschaltungen Campagnolo Shift Assist nennt und andere so ähnlich bieten: Dabei werden unbeliebte große Übersetzungssprünge, die mit dem Kettenblattwechsel einhergehen, durch das Schaltwerk kompensiert, indem es die Kette synchron auf andere Ritzel legt. Im Idealfall lassen sich die Gänge elektrischer Kettenschaltungen genauso sequentiell hoch- und runterschalten, wie das bei einer Nabenschaltung auch ohne Elektrohilfe der Fall ist. Die Überschneidung von Gängen bei Antrieben mit mehreren Kettenblättern wird umgangen.
Und verschleißhemmend wirken elektronische Steuerungsmöglichkeiten, sagt Brust – Beispiel Nabenschaltung in Verbindung mit Mittelmotor-E-Bikes. Um Kette oder Riemen während der Gangwechsel zu schonen, kann beim Schalten über das Bordnetz und Sensorik die Motorkraft reduziert werden, erläutert der Experte. „Die schonende Nutzung macht die Komponenten langlebiger.“ So leitet Rohloffs Nabenschaltung E-14 Gangwechsel ein, wenn der Druck auf die Pedale geringer ist, in den sogenannten Totpunkten bei vertikaler Stellung der Kurbelarme. „So erreichen wir Lastfreiheit für das System, am Fahrrad gibt es ja keine Kupplung“, sagt Mirco Rohloff, Sohn des kürzlich verstorbenen Firmengründers.
Breit gefächertes Preisgefüge
Mit dem heckmotorgetriebenen ST7-Testbike steuern wir eine Steigung an und schalten runter, wieder kracht es im Stirnradgetriebe zwischen den Knöcheln. Wie lange machen die Zahnräder das mit, ohne Schaden zu nehmen? Quasi für immer, sagt Dirk Menze von Pinion. „Das System hält ein Eingangsdrehmoment von 250 Newtonmetern dauerhaft aus.“ Das entspreche einem gängigen Motordrehmoment eines Autos. Auch Pinions Elektronik verlegt Gangwechsel möglichst in die „Totpunkte“ der Trittbewegung, doch geschehe das eigentlich nur aus Komfortgründen, „damit es nicht so knackt“. Beim Hochschalten immerhin, wenn weniger Kräfte im verkapselten Getriebe wirken, erweist sich das Smartshift-System als akustisch weit dezenter. Das Zirpen des Servomotors ist indes immer zu hören.
Eine aktuelle Entwicklung ist, dass das Angebot an E-Schaltungen wächst und mechanische Varianten dabei verdrängt werden. Kettenschaltungen für Rennräder oder Mountainbikes aus der oberen Preisschublade bieten Hersteller wie Sram oder Shimano nur noch in E-Varianten an. David Koßmann, der beim industrienahen Pressedienst Fahrrad (pd-f) in Göttingen seit Jahren den Markt beobachtet, sieht eine „sehr deutliche Tendenz der Ausbreitung“ elektronischer Schaltungen.
Nun will die Industrie die Technik auch bei Hobbysportlern, Pendlern und Cargo-Bikern populär zu machen. „Den Eindruck kann ich komplett untermauern“, sagt Koßmann. Shimano-Mann Wild beobachtet eine Nachfrage, die sich „immer deutlicher in Richtung Elektronik entwickelt hat“. Auf der Hand liege aber, dass elektronische Schaltsysteme in den letzten Jahren günstiger geworden seien.
So hat Shimano seine Rennrad-„Volksgruppe“, die Kettenschaltung 105, unter Strom gesetzt. Mit ihr solle „elektrisches Schalten zur Normalität werden“, schreibt das Rennrad-Magazin „Tour“. Empfohlener Herstellerpreis für die Gruppe – bei Rennrädern umfasst diese typischerweise auch die Bremsen: 1.800 Euro. Das hat Sram mit der funkgesteuerten Apex ASX für knapp 1.400 Euro unterboten, die man an Kompletträdern für um die 2.500 Euro sehen dürfte.
Dass das Thema komfortsteigernd auch bei Pedelecs in die Breite gehen soll, zeigt das 2022 vorgestellte Shimano-System Cues Di2 für „weniger Stress bei Pendelfahrten“: eine elektronische Kettenschaltung für „City-, Lasten- und Lifestyle-E-Bikes“, die allerdings nur mit Shimano-Steps-Motoren funktioniert. Sie werkelt nicht nur automatisch, sondern man kann auch ohne gleichzeitiges Pedalieren schalten – beides bislang ein Privileg von Naben- oder Getriebeschaltungen. Unter den Nabenschaltungen derzeit am günstigsten sind die E-Versionen der Shimano-Modelle Nexus und Alfine.
Doch ob Ketten- oder Nabenschaltung: Zu beobachten ist auch ein breit aufgefächertes Preisgefüge. Der italienische Komponentenhersteller Campagnolo verlangt allein für seine neue Rennrad-Gruppe Super Record Wireless 5.200 Euro. Die Rohloff-Nabe E-14 macht am Komplettrad einen Anteil von gut 1.500 Euro aus. Unser Testrad ST7, Stromers Topmodell mit Smartshift, kostet 12.735 Euro. Allerdings plant Pinion einen großangelegten Roll-out des Smartshift-Systems: An E-Bikes der Marken Desiknio in Kombination mit Mahle-Motoren sowie der belgischen S-Pedelec-Marke Åska soll das System Einzug halten. Eine neue Motor-Getriebe-Einheit, die Pinion zur Eurobike vorstellte und die eine neue Entwicklungsstufe von Smartshift enthält, soll zum Modelljahr 2024 an E-Mountainbikes, E-Trekkingrädern und E-Lastenbikes eingebaut werden. „Auch für Non-E-Bikes wird es Smartshift geben, mit eigener Stromversorgung“, sagt Menze.
Bei Pedelecs keine Akku-Probleme
Die Elektrifizierung von Fahrradschaltungen ist aber nicht nur praktisch. Weil sie an normalen Fahrrädern eine Stromversorgung benötigen, müssen Akkus und Batterien regelmäßig geladen werden. „Wenn der Akku auf dem Trail leer ist, wird’s schwierig“, sagt Marco Brust. Hersteller versprechen zwar Strom für mehrere Tausend Schaltvorgänge und erinnern Radlerinnen und Radler per Ladestandsanzeige, doch ist der Akku leer, lässt sich kein Schaltimpuls mehr auslösen. Wild hält dagegen: „Stellt man dem die Notwendigkeit zur regelmäßigen Einstellung und Wartung bei mechanischen Systemen gegenüber, die deutlich mehr Aufwand erfordern, wird aus dem vermeintlichen Nachteil schnell ein weiterer Vorteil.“
Doch sind E-Schaltungen kabellos bringt das laut Brust grundsätzlich „neue Probleme“: „Wenn das Produkt nicht abgeschirmt ist, und Sie an einem Trafo-Häuschen vorbeifahren, kann die Schaltung anfangen zu spinnen. Die elektromagnetische Verträglichkeit muss gesichert sein.“ Bei den gängigen Markenprodukten sei das in der Regel aber gegeben.
Kommen elektrische Schaltungen an E-Bikes zum Zuge, relativiert das gleich zwei Probleme: Das Mehrgewicht der E-Komponenten bei Kettenschaltungen spielt keine Rolle, da Pedelecs mit dem schweren Antriebs-Akku und Motoren ohnehin viel auf die Waage bringen. Und sie benötigen in der Regel keine Extra-Batterien. Sie versorgen sich meist aus dem E-Bike-Akku. „Weil wir das Bordnetz nutzen, haben wir keine Akku-Problematik“, sagt Mirco Rohloff. „Es gibt einen Puffer“, beschwichtigt auch Pinion-Sprecher Menze. Das Batterie-Management-System sorge dafür, dass man immer noch „stundenlang“ schalten könne, auch wenn der Haupt-Akku aufgrund niedrigen Ladestands nicht mehr für den Motor genutzt werde. Steht mit dem 38 Kilo schweren High-End-S-Pedelec ST7 ein steiler Anstieg bevor, kann das die Rettung sein.