Von wegen „verlorene Generation"! Bei allen Problemen gibt es durch die Krise auch Chancen, sagt die Vorsitzende des Landesjugendrings Saar, Hannah Meuler. Man muss Jugendliche ernst nehmen und beteiligen bei den „vielen offenen Fragen, mit denen wir umgehen müssen".
Frau Meuler, es gibt in der Corona-Krise die These von der „verloren gegangenen Generation". Ist das so?
Ich glaube, dass der Begriff „verloren gegangene Generation" sehr viel außer Acht lässt, weil ich glaube, dass den jungen Menschen zwar ganz viel verloren gegangen ist, aber nicht, dass die jungen Menschen verloren gegangen sind. Man darf es aber sicher auch nicht nur so sehen, dass den jungen Menschen etwas verloren gegangen ist, was dann immer so klingt, als hätte man ihnen etwas aktiv weggenommen. Sie haben auf etwas verzichtet, aber sie haben damit ja auch ihre Verantwortung wahrgenommen, sich solidarisch verhalten. Ich betone das so, weil ich den Eindruck habe, dass man sehr oft bei den jungen Menschen den Sündenbock gesucht hat: Die haben sich getroffen, abends, und ohne Maske und ohne Abstand! Da wurde viel eher der Blick drauf gelenkt, obwohl es auch Erwachsene gab, die sich nicht solidarisch verhalten haben.
Das klingt es ein wenig so, als sei alles nicht ganz so dramatisch.
Es ist wichtig, darüber zu reden, welche Nachteile jungen Menschen in den vergangenen Monaten entstanden, was alles nicht hat stattfinden können, welche Erfahrungen nicht gemacht werden konnten. Trotzdem: Von einer verlorenen Generation zu reden halte ich für falsch, weil das suggeriert, dass man nichts mehr nachholen kann und alles weg ist. Wenn wir so an die Geschichte rangehen, dann wird es sehr schwierig, dass sich diese Generation Gehör verschafft. Und das ist es, worauf es eigentlich ankommt. Wir sollten zum Beispiel darauf schauen, was die jungen Menschen in den letzten Monaten geleistet haben. Es war ja nicht nur für die Lehrerinnen und Lehrer schwierig, sich umzustellen. Schülerinnen und Schüler haben sich vor der Situation gesehen, plötzlich keine Struktur mehr zu haben und mussten sich selber für den Tag Struktur geben. Man muss auch sehen, welche kreativen Ideen sich entwickelt haben.
Nach einer anderen These ist es die erste Generation seit Langem, die jetzt echte Krisenerfahrung hat, was auch eine Chance sein kann.
Wenn wir von Krisen reden: Die hatten wir auch mit der ganz großen Finanzkrise 2008/2009, die junge Menschen vor ganz große Herausforderungen gestellt hat, wenn es zum Beispiel um Ausbildungsplätze ging. Natürlich hat die Corona-Pandemie noch viel krasser eingegriffen und die Situation viel mehr verschärft. Ich glaube, dass man mit Krisen dazulernt, dass man danach Sachen anders zu schätzen weiß. Aber es ist auch ein sehr privilegierter Blick, wenn man auf die Welt schaut, und dann sagt, das birgt auch Chancen. Wenn ich auf mich sehe, kann ich sagen, klar, ich hab’ ganz viel neue Sachen gelernt. Aber ich habe auch einen Job, der sicher ist. Und das ist nun mal anders, wenn ich einen prekären Job habe, nicht weiß, wie lange ich noch arbeiten kann, oder nicht weiß, ob ich meinen Abschluss schaffe. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Es kann auch durchaus sein, dass die Generation einen ganz anderen Blick dafür bekommt, wie wichtig es ist, sich politisch einzumischen. Das spielt auch bei der Klimakrise eine Rolle. Vor wenigen Jahren hat man noch gesagt, die jungen Leuten würden sich überhaupt nicht für Politik interessieren. Das kann man beim besten Willen seit zwei Jahren nicht mehr behaupten. Andererseits zeigen Umfragen, dass ganz viele junge Menschen den Eindruck haben, sie werden mit ihren Sorgen und Anliegen nicht gehört. Das hat Einfluss auf eine Generation. Das macht was mit Menschen. Für uns ist also die Frage: Ignorieren wir das und machen weiter wie bisher? Oder gehen wir auf die jungen Leute zu, beziehen sie mit ein, geben ihnen das Gefühl, dass sie etwas verändern können? Dann können wir was ganz Großes aus der Krise machen. Aber ob wir das schaffen? Da bin ich selber mal gespannt.
Was Beteiligen und Zuhören betrifft, hat es den Eindruck, die Politik würde es zumindest versuchen. Ein Beispiel ist die große Anhörung zur Kinder- und Jugendpolitik im saarländischen Landtag. Bewegt sich da inzwischen etwas?
Das Thema Beteiligung beschäftigt uns ja schon seit Jahren. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir eine Absenkung des Wahlalters fordern. Das gehört sozusagen zur DNA des Landesjugendrings, wie viele andere Forderungen, die wir schon lange vor Corona gestellt haben. Es ist also nicht so, als wären viele Herausforderungen nur durch die Pandemie entstanden. Dass es nicht genügend Räume für die Jugend gibt, war auch vorher schon so, es war nur nie wirklich ein akutes Thema, es gab immer andere Sachen, um die man sich eher kümmern musste. Mit der Pandemie ist es ein Thema, weil jetzt klar ist, dass Räume größer sein müssen. Das ist ein Beispiel, dass Themen, die es vorher schon gab, jetzt richtig akut sind. Das gilt für die Förderung der Jugendarbeit genau so. Da hatten wir vorher schon Kritik. Jetzt sehen wir: Wenn sich daran nichts ändert, dann wird das weitreichende Schäden haben, weil vieles nicht stattfinden kann. Schließlich ist alles teurer geworden: Ich muss medizinische Ausrüstung zur Verfügung stellen, Tests finanzieren, ich brauche mehr Personal. Auch da haben sich Probleme verstärkt.
Das ist jetzt eine große Bandbreite: Fridays for Future für das große globale Thema und die Raumnot in der Kommune zu Hause, dazwischen die vielen anderen Fragen. Was bringt es da, wenn sich ein Parlament mit der Jugendpolitik beschäftigt?
Für uns auf jeden Fall große Hoffnung, dass es mehr und breite Aufmerksamkeit gibt. Zumal die geladenen Experten eigentlich ganz gut das theoretisch untermauern, was wir aus der Praxis schon seit Jahren fordern. Es gab auch Reaktionen nach dem Motto: Jetzt haben wir was an der Hand, um was draus zu machen. Ich glaube also schon, dass wir in den nächsten Jahren davon etwas in der Politik merken werden.
Es gab auch Reaktionen, die sich überrascht gezeigt haben, wie klar junge Menschen sich dort eingebracht haben. Hätte man das nicht früher merken können?
(lacht). Die Politiker und Politikerinnen, die häufiger Veranstaltungen vom Landesjugendring besuchen, waren weniger überrascht. Was jetzt noch dazu kam: Dass bei einer Anhörung im Landtag Ehrenamtliche auftreten, ist eigentlich nicht üblich und eine große Ausnahme. Normalerweise gehen da die Hauptamtlichen hin, die das natürlich vorher rückkoppeln, und dann finden die Anhörungen tagsüber statt, wo sich junge Menschen gar nicht beteiligen könnten. Deshalb war es ja auch ganz, ganz wichtig, dass diese Anhörungen immer erst ab 16 Uhr stattgefunden haben. Deshalb konnten auch junge Menschen auftreten, die aus ihrer Lebenswirklichkeit berichtet haben, und die haben ja auch tatsächlich was zu sagen.
Man hat auch mit anderen Formen experimentiert. Einen Fishbowl-Abend online bei einer Landtagsanhörung hat es vorher nicht gegeben. Ein Beleg, dass man neue Formen der Kommunikation suchen muss?
Ganz sicher. Das ist Teil des Problems, dass Politik und Jugendliche kaum gemeinsame Kommunikation haben. Das gilt auch für den Vorschlag Jugendparlament. So was kommt aus der Erwachsenenwelt: Man trifft sich zur festen Uhrzeit mit fester Tagesordnung, alles ist sehr detailliert vorbereitet – das ist eine Erwachsenenperspektive. Da glaube ich, spielen uns digitale Formate sehr in die Hände. Bei der Fishbowl-Party haben sich ganz viele junge Leute beteiligt, die ich vorher bei solchen Gelegenheiten im Landtag nie gesehen habe, das hat mich richtig gefreut. Das zeigt: Es braucht einfach mal einen offenen Raum, um sich auszutauschen. Da helfen digitale Formate.
Ist das so ein Beispiel für Lernen aus der Krise?
Genau, weil solche digitalen Formate in diesen Bereichen vorher gar nicht üblich waren. Natürlich werden wir jetzt nicht alles digital machen, aber es ist eine Möglichkeit, junge Menschen zu erreichen, die das ganz alltäglich nutzen. Da geht aber noch vieles nicht zusammen. Für die Anhörung gab es beim Thema Mobilität die Frage, ob man Apps zur Verfügung stellen sollte, eine digitale Infrastruktur für Fahrpläne, Ticket buchen. Beim Lesen dachte ich: Was ist das für eine Frage? Es ist schließlich ein Anspruch, dass ich alle Informationen, die ich brauche, digital finde. Das zeigt: Das mit dem Anspruch ist etwas, was zwischen den Generationen sehr unterschiedlich ist.
Sie fordern einen „Jugendcheck". Was kann er bringen?
Es geht darum, dass man sich bei jedem Gesetz überlegt, welche Auswirkungen das für junge Menschen hat. Das hat auch etwas mit Sichtbarkeit zu tun. Man muss darauf achten, ob das, was man plant, etwas im Positiven für die Jugend verändert, oder man muss an dem Gesetz noch etwas ändern, damit diese Perspektive einbegriffen ist.
Geht das in die Richtung, die sich bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz gezeigt hat, wo in der Begründung der Hinweis auf Belastungen künftiger Generationen steht?
Genau. Wenn es einen Jugendcheck gäbe, hätte man schon im Gesetzesentwurf festgestellt, dass es so nicht in Ordnung ist, weil eine junge Generation viel mehr Lasten zu tragen hätte als die jetzige – und das kann nicht gerecht sein. Es geht natürlich darum, darauf zu achten, welche Verbesserungen es jetzt unmittelbar für die Jugendlichen gibt, aber eben auch darum: Welche Welt hinterlassen wir den künftigen Generationen? Dafür dürfte eigentlich kein Jugendcheck nötig sein, es muss der Anspruch sein, dass immer mitgedacht wird: Welche Welt hinterlasse ich, und hinterlasse ich Strukturen, die andere noch gebrauchen können. So drastisch muss man das sagen. Ich habe aber grundsätzlich den Anspruch, dass man sich bei jedem Gesetz überlegt, wie sich das auswirkt, auch wenn die Legislatur vorbei ist und die Nächsten dran sind.
Wir sprechen über „die Jugend". Aber: Was ist eigentlich „die Jugend" heute?
Ganz schön vielfältig. Wir reden ganz allgemein über „die Jugend", das kann man aber nur, wenn man allgemein über Fragen redet wie: Welche Rechte haben Jugendliche? Wenn es aber darum, was können die, was wollen die, dann ist es wichtig, mit den jungen Menschen zu sprechen. Wir können nicht sagen, was „die Jugendlichen" wollen. Das ist wie bei „den Erwachsenen" auch: Die sind alle sehr individuell, haben individuelle Interessen und individuelle Erfahrungen. Ich tendiere dazu, Menschen als einzelne Individuen zu betrachten, die sich hin und wieder in Interessenverbänden zusammenschließen, um zu sagen, was sie wollen. Es geht also darum, Menschen direkt anzusprechen. Das ist das Wichtigste.
Das macht es für Politik nicht einfacher.
Stimmt. Wenn wir zum Beispiel darüber reden, wie die Pandemie junge Menschen getroffen hat, dann ist das sehr unterschiedlich. Ich kann von denen sprechen, die in einem prekären Elternhaus mit finanziellen Problemen aufwachsen. Ich habe genauso junge Leute, die mit psychischen Folgen zu kämpfen haben, weil sie ihre Freunde nicht mehr sehen oder es zu Hause Probleme gibt. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Man kann, wenn man repräsentative Daten hat, darüber reden, wie die Mehrheit etwas sieht, aber ich glaube, es ist immer schwierig, zu verallgemeinern.
Sie haben bereits das Stichwort Solidarität erwähnt. Darum geht es ja auch bei großen Themen wie dem Generationenvertrag. Da gewinnt man den Eindruck, dass es zwischen den Generationen ganz schön knirscht.
Hat es jemals zwischen Generationen nicht geknirscht? Es ist, glaube ich, ganz normal, dass es zwischen Generationen unterschiedliche Meinungen gibt. Ob das derzeit besonders intensiv ist? Es gibt Themen wie die Klimakrise, wo die Unterschiede sicher sehr ausgeprägt sind. Aber ich glaube, es ist relativ normal, dass für die jüngere Generation andere Dinge wichtig sind als für die ältere. Natürlich verschärft eine Pandemie so etwas. Aber wenn wir wirklich einen massiven Bruch zwischen den Generationen hätten, glaube ich, würde sich das ganz anders äußern. Warum hätten junge Menschen monatelang zu Hause sitzen sollen, ihre Freunde nicht mehr treffen sollen, nur weil ein Virus existiert, das ältere Menschen viel stärker trifft als jüngere? Ich glaube, das Verhältnis ist noch ganz in Ordnung.
Trägt das auch für Fragen, die sich aus der demografischen Entwicklung ergeben?
Das wird uns noch vor viele Fragen stellen und der Umgang damit wird auch politisch sehr, sehr schwierig. Wenn wir eine Generation haben, die der anderen zahlenmäßig stark überlegen ist, hat das Einfluss auf politische Entscheidungen. Natürlich beschäftigt uns das beim Thema Rente: Wie soll das funktionieren, wenn wir ganz andere zahlenmäßige Voraussetzungen haben? Auch da gilt: Das Beste ist, dass junge Menschen sich Gehör verschaffen, erklären, was sie beschäftigt und was sie ändern wollen. Auch da ist die Perspektive auf die Zukunft eine andere. Wir haben eine ältere Generation, für die es fast schon selbstverständlich war, dass ihre Kinder in besseren Wohlstandsverhältnissen aufwachsen als sie selber. Das ist heute nicht mehr der Fall. Oder nehmen Sie die Frage, wonach junge Menschen ihren Job aussuchen. Da sagen immer mehr: Klar könnte ich mir einen Job aussuchen, wo ich supergut verdiene, aber mir ist wichtiger, dass ich nicht 50 Stunden arbeiten muss, sondern dass ich Freizeit habe, um mich anderen Dingen zuzuwenden. Das gilt natürlich auch nicht für alle. Ich bin ich gespannt, wie sich das entwickelt. Da könnte die Coronakrise Werte verschieben, vielleicht spielt dann Sicherheit wieder eine ganz andere Rolle. Es sind spannende Zeiten und viele offene Fragen, mit denen wir umgehen müssen.