Die Polizei kämpft mit Rassismusvorwürfen, und eine Studie gibt keinen Grund zur Entwarnung. Aus Wissen folgt noch kein Handeln, weiß Volker Scheu, Fachbereichsleiter des Polizeivollzugsdienstes der Fachhochschule für Verwaltung im Saarland.
Er war 16 Jahre alt, als er vor einem Jahr mit einer Maschinenpistole im Innenhof einer Jugendeinrichtung erschossen wurde. Dort saß Mouhamed Dramé während einer psychischen Ausnahmesituation mit einem Messer in der Hand, weshalb Betreuer der Einrichtung die Polizei riefen. Fünf am Einsatz beteiligte Polizisten stehen vor Gericht, Ende des Jahres soll es zum Prozess kommen.
Bahar Aslan war Dozentin für interkulturelle Kompetenz an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV). Sie sollte für Fälle wie den Tod von Mouhamed Dramé sensibilisieren. Im Mai 2023 schrieb sie in einem Twitterbeitrag über ihre Angst vor Polizeikontrollen. Sie sprach von „braunem Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden“. Es folgte eine Welle an sexistischen und rassistischen Kommentaren und die Entbindung von ihrem Lehrauftrag durch die Hochschule in Gelsenkirchen.
Das sind nur zwei – durchaus sehr unterschiedliche – von vielen Fällen, die den Umgang der Polizei mit Rassismus fragwürdig aussehen lassen. Hat sie ein Rassismusproblem? Die Entdeckung rechtsextremer Chatgruppen von Polizeibeamten aus Nordrhein-Westfalen im Jahr 2020 drängte diese Frage schon auf, bevor es zu den oben beschriebenen Fällen kam.
„Extremisten darf es bei uns nicht geben“
Die Antwort in Deutschland war eine Polizeistudie mit dem Namen „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten“ (Megavo) durch die Deutsche Hochschule der Polizei in Münster. Das Zwischenergebnis: Es finden sich mehr als nur Einzelfälle, bei denen die individuelle Einstellung kaum mit den Leitbildern der Polizei in Einklang zu bringen ist. Und: Es gibt einen klar erkennbaren Personenkreis, der sich nur ambivalent, unentschlossen oder zaghaft zur Unterstützung von Demokratie, Diversität und ähnlichen Themen äußern mag.
Die Studie bezog sich anfangs nur auf Rassismus, was einen Diskurs auslöste. Man wolle der Polizei kein Rassismusproblem unterstellen, weshalb der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) entschied, eine Studie in Auftrag zu geben, die breiter aufgestellt ist. Volker Scheu, Leiter im Fachbereich Polizeivollzugsdienst der Saarländischen Fachhochschule für Verwaltung (FHSV), begrüßt diese Entscheidung. „Ich war von Anfang an für die Studie“, erklärt er und fährt fort: „Es geht nicht nur darum, ob wir bei der Polizei rassistische, sondern auch extremistische Tendenzen haben. Das alles zählt zu dem großen Komplex: Vermeidung von Sexismus, von Antisemitismus, Antiziganismus, Antiislamismus und so weiter“, erklärt er. „Wichtig ist es auch, Hinweise auf die Ursachen von Fehlentwicklungen zu bekommen, um Gegenmaßnahmen entwickeln zu können. Kulturelle Offenheit und Neutralität in unserer Rolle – das muss gewährleistet sein als Basis des Vertrauens der Bevölkerung.“ Überrascht war der Fachbereichsleiter über das Zwischenergebnis der Studie nicht.
„Für mich war klar, dass es das Spektrum der Gesellschaft auch in der Polizei gibt. Extremisten darf es bei uns nicht geben, aber ansonsten ist die ganze Bandbreite vertreten“, sagt er. Die Studie habe zwar seine eigene Erfahrung bestätigt, dass der Großteil der Kolleginnen und Kollegen die richtige Einstellung und das richtige Werteverständnis hätten. „Was manchmal fehlt, ist allerdings das aktive Eintreten für diese Werte, auch wenn andere Kolleginnen und Kollegen sich falsch verhalten.“ Hier müsse die schweigende Mehrheit mobilisiert werden.
Das Leitbild der Polizei nach der Polizeidienstvorschrift 100 lautet: Die oberste Handlungsmaxime ist der Schutz und die Achtung der Würde des Menschen. „Das habe ich 1984 bei meiner Einstellung schon gehört. Nicht nur Rassismus, sondern Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz, keine Diskriminierung – diese Themen waren von Anfang an, mit dem Ziel der Entwicklung zur Bürgerpolizei, in den Studien- und Lehrplänen drin“, erklärt Scheu. Dazu kamen in den Jahren danach die Folgen der Zuwanderung und der Bedarf an interkultureller Kompetenz. Und seit drei oder vier Jahren stünde Handlungskompetenz ganz oben auf der Tagesordnung.
Laut Volker Scheu sei die Polizei zwar nicht Vorreiter der gesellschaftlichen Entwicklung, aber sie habe sich immer angepasst. „Seit circa 2019 fragen wir uns allerdings deutlich stärker, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Wie schaffen wir es, das Fehlverhalten zu benennen, zu erkennen und letztlich eine Kultur zu schaffen, in der wir dafür sorgen, Fehlverhalten im Einzelfall auch sofort zu korrigieren?“, fragt er.
Nach den Studierendenprotesten in Deutschland entwickelte sich die Polizei Anfang der 70er-Jahre von einer militärisch, obrigkeitsstaatlich geprägten Polizei zur Bürgerpolizei. Von da an galt laut Scheu: „Das Hauptwerkzeug der Polizei ist die Sprache, die Kommunikation.“ Das Wissen zum verpflichtenden Schutz der Würde des Menschen als höchste Priorität sei von da an insbesondere in den Fächern Berufsethik, politische Bildung, Staats- und Verfassungsrecht und Gesellschaftswissenschaften vermittelt worden.
Ab dem Jahr 2000 folgten dann Seminare zu interkultureller Kompetenz: Den angehenden Polizistinnen und Polizisten soll ein kulturelles Verständnis vermittelt werden, das sie für Einsätze in Synagogen oder Moscheen sensibilisiert. Ihnen wird beispielsweise erklärt, wie es ankommt, wenn sie eine Frau einer muslimisch geprägten Familie direkt ansprechen. Der Fachleiter erklärt, es gäbe Situationen, in denen die Polizei nach Vorschrift handeln müsse. Doch in diesen Seminaren stelle man sich die Fragen, wo man im Sinne der Verhältnismäßigkeit Rücksicht nehmen und gelinderte Maßnahmen treffen könne.
Soziale Stereotype und Urteilsfehler beeinflussen Handeln
Zur Theorie kam, ebenfalls ab den 2000ern, die Praxis. Verhaltensorientierte Seminare sollen dabei helfen, das Gegenüber zu überzeugen, möglichst ohne Gewalt anzuwenden. Der Weg dahin: Kommunikationstraining und deeskalierende Konfliktlösungsgespräche. Dazu kommen Stresstraining und Seminare zur sozialen Kompetenz. „Da geht es um soziale Stereotype. Welche Einstellungen haben wir eigentlich im Kopf, welche Urteilsfehler? Denn unsere Erwartungshaltung kann unsere Handlung verfälschen“, erklärt Scheu.
All diese Aspekte beträfen nicht nur Rassismus. Die Grundmechanismen, wie die Polizei in gewissen Situationen reagieren sollte, seien immer dieselben. Der wertschätzende Umgang und das Bewusstsein, dass man mit Menschen agiert, die individuell sind – das müsse im Kern der Handlung stehen. „Ich sollte als Polizist versuchen, meine Rolle transparent zu machen. Und nicht schon mit einem Vorurteil in eine Situation hineingehen, egal wem gegenüber“, sagt der Fachbereichsleiter.
Mit Extremismus und Rassismus beschäftige man sich außerdem explizit in den Wahlpflichtfächern zur deutschen Polizeigeschichte. Seit 2019/2020 gibt es im Landespolizeipräsidium ein Projekt mit dem Namen „Konsens“ zur inneren Sensibilisierung. In dem Projekt „Demokratische Resilienz“ versuche man den Studierenden mithilfe von externen Referenten transparent zu machen, wie die Wertevorstellungen anderer Kulturen aussehen. Hier arbeitet die FHSV eng mit dem wissenschaftlichen Dienst des Staatsschutzes beim Landespolizeipräsidium, Islamwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Soziologinnen und Soziologen zusammen, unter anderem mit Prof. Dr. Roland Rixecker, dem Beauftragten für das jüdische Leben im Saarland.
Seit knapp einem Jahr versucht die FHSV außerdem den Kontakt zum Adolf-Bender-Zentrum für Demokratie und Menschenrechte zu stärken. Für 2024 sind Fortbildungen und Projekte im Bereich Handlungskompetenz geplant. Das Zentrum bietet ein Argumentationstraining gegen Vorurteile und den Umgang mit Stammtischparolen an. „Jeder von uns kennt das, wenn am Geburtstag im Familienkreis problematische Äußerungen fallen und man sich fragt, wann der Punkt erreicht ist, wo man einschreiten muss und damit die Feier platzen lässt“, erzählt Scheu. Den Studierenden soll vermittelt werden, für ihre Werte einzustehen – und Fehlverhalten möglichst niedrigschwellig anzusprechen.
Das versuchen die Dozierenden der FHSV und der Fachleiter entsprechend vorzuleben. Natürlich gibt es auch an der Fachhochschule für Verwaltung Studierende mit Migrationshintergrund. Wenn hier Fälle von Rassismus, sexueller Belästigung oder sonstiger Diskriminierung auftauchten, sei die Botschaft klar: „Wendet euch an die Fachbereichsleitung. Redet, und wir kümmern uns darum“, sagt Volker Scheu. Der Anfang seien meist irgendwelche unbedachten Witze. „Häufig sind es verinnerlichte Einstellungen, ohne diskriminierende Hintergedanken im Sinne von bewusst und gewollt. Aber trotzdem kann das den Beginn von rassistischem Denken markieren. Das sprechen wir sehr offen an“, erklärt der Fachbereichsleiter.
Er erzählt von einem Fall, in dem eine Person innerhalb des Kollegiums die Schwelle mit rassistischen und sexistischen Bemerkungen ziemlich deutlich überschritten hätte. In dem Fall seien die Maßnahmen konsequent. Es wurde ein Strafverfahren eingeleitet und geprüft, ob ein Straftatbestand vorlag. Anschließend folgte eine disziplinarrechtliche Überprüfung. Bei Studierenden als Beamte auf Widerruf gebe es zudem die Möglichkeit, durch das Ministerium zu überprüfen, ob sie grundsätzlich für den Beruf des Polizisten oder der Polizistin geeignet sind. Im besagten Fall wurde die betreffende Person entlassen.
Innerhalb des Bewerbungsprozesses könnte man rassistische Tendenzen noch vor Beginn der Polizeiausbildung aufdecken. Doch so weit sei die Polizei laut Volker Scheu noch nicht. Im Saarland erfolgt die Bewerbung nicht über die Fachhochschule, sondern über das Innenministerium. Das überprüft mittels Führungszeugnis der Bewerberinnen und Bewerber, ob sie schon einmal auffällig wurden oder in irgendwelchen Akten erscheinen. Im Rahmen einer polizeiärztlichen Untersuchung wird außerdem überprüft, ob diskriminierende Tattoos vorhanden sind. Die müssen entweder entfernt werden oder können ein Ausschlusskriterium sein.
Leitbild und Realität unterscheiden sich
Im mündlichen Gespräch gäbe es durchaus Fragestellungen, die Hinweise auf problematische, auch rassistische Tendenzen, geben können. So wurden beispielsweise im letzten Verfahren Karikaturen vor dem Hintergrund der Extremismus-Debatte vorgelegt und die Haltung der Bewerberinnen und Bewerber abgefragt. „Eine strukturierte, evidenzbasierte Erhebung haben wir noch nicht. Ob wir dahin kommen werden, kann ich nicht sagen“, sagt Volker Scheu.
Der Abschluss der Megavo-Studie Ende dieses Jahres könnte eine wissenschaftliche Basis für eine solche Erhebung sein. Bei der Fachhochschule für Verwaltung im Saarland läuft aktuell eine grundsätzliche Überprüfung der Studieninhalte, die bis 2024 abgeschlossen sein soll. Bei der Reform sollen die Punkte Wertevermittlung, Darstellung und Verantwortung der Polizei im Mittelpunkt stehen.
Für Volker Scheu steht die Polizei am Beginn einer Entwicklung, die erst in ein paar Jahren abgeschlossen sein könne. Dazu kommt, dass die offizielle Polizeikultur, also das, was die Studierenden in ihren Seminaren lernen, der inoffiziellen Polizeikultur, der Cop Culture, gegenübersteht.
Denn das Leitbild der Polizei und das, was in den operativen Stellen und auf den Wachen gelebt wird, seien zum Teil durchaus verschieden. „Ich war 2001 bis 2003 in der Polizeiführungsakademie, Aufstieg in den höheren Dienst. Schon damals ist mir bewusst geworden, dass es immer ein gewisses Dunkelfeld gibt“, sagt Volker Scheu und hält anschließend fest: „Meine Überzeugung ist – und deshalb will ich es jetzt auch in die Reform mit einbringen: Wir müssen mehr machen.“