Vertrauen in den Staat, den Präsidenten, die Armee und die eigenen Nerven – für die Ukraine ist dies eine Frage des eigenen Überlebens. Gemessen an Umfragewerten ist der Rückhalt nach wie vor hoch.
Der russische Angriff vom 24. Februar 2022 hat das ukrainische Selbstverständnis gründlich verändert. Obwohl die Ukraine flächenmäßig das größte Land ist, welches vollständig in Europa liegt, tendierten die Ukrainer stets dazu, sich selbst sowie ihren Staat zu unterschätzen. Zu ärgerlich war für sie die verpasste gute wirtschaftliche Startposition nach dem Zerfall der Sowjetunion. Mit zu viel Skepsis blickten sie auch auf die turbulente und extrem wechselreiche Innenpolitik, die oft ironisch als eine Art „Zirkus“ abgestempelt worden war.

Die nun entschlossene Antwort des gesamten Landes auf die von Wladimir Putin angeordnete Invasion sorgte jedoch für eine tektonische Verschiebung der ukrainischen Selbstwahrnehmung. Entscheidend war dabei die Leistung der eigenen Armee: Obwohl die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn des ursprünglichen Donbass-Krieges vor fast zehn Jahren objektiv einen großen Sprung machten, konnte niemand ahnen, dass sie erfolgreich gegen die reguläre Armee des flächenmäßig größten Landes der Welt kämpfen würden. Es beschränkte sich aber nicht nur darauf. Zum einen wuchs der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, 2019 als Politikneuling und Quereinsteiger ins Amt gewählt, als Symbol des Widerstandes über sich hinaus und überzeugte sogar seine schärfsten Kritiker. Zum anderen haben sich aber üblicherweise umstrittene Institutionen wie die Nationale Polizei oder viel kritisierte Staatsunternehmen wie die Ukrainische Bahn sowie die Ukrainische Post plötzlich unter schwerstmöglichen Umständen als hervorragend gezeigt.
Eine neue Selbstwahrnehmung
Kurz vor dem Winter 2023/2024 befinden sich die Ukrainer und ihr Land allerdings in einer komplizierteren mentalen Lage. Nicht nur hat die Sommeroffensive lediglich zu geringen taktischen Erfolgen und nicht zu erhofften strategischen Siegen geführt. Dass Russland sein Militärbudget für 2024 im Gegensatz um 70 Prozent im Vergleich zum auslaufenden Jahr erhöht, ist ein klares Zeichen: Jenseits jeglicher Friedensrhetorik setzt Moskau ganz klar auf einen langen Abnutzungskrieg, der womöglich noch viele Jahre dauern wird und für den die Ukraine eigentlich dringend noch mehr westliche Unterstützung bräuchte. Während sich die internationale Lage aktuell nicht zwingend zu Gunsten von Kiew verändert, machen sich Gerüchte über Konflikte zwischen der politischen und militärischen Führung des Landes breit. Diese mögen etwas überzogen wirken und eher aus natürlichen Widersprüchen zwischen militärischen und politischen Realitäten sowie Zielen als aus Spannungen zwischen Personalien resultieren. Sie tragen jedoch allesamt zur allgemein pessimistischeren Stimmung als etwa vor einem Jahr bei.
Dass Russland im kommenden Winter wieder massiv die ukrainische Energieinfrastruktur angreift, scheint unausweichlich. Im letzten Jahr halfen aber militärische Siege wie die erfolgreiche Offensive im Bezirk Charkiw sowie die Befreiung von Cherson, strom- und heizungslose Tage und Nächte emotional zu überstehen. Diesmal sind solche Erfolge ausgeblieben. Bedeutet das aber automatisch, dass die Entschlossenheit der Ukrainer zu bröckeln beginnt und dass das Vertrauen der Menschen in den Staat sowie in die Politik stark zurückgeht?
Skepsis gegenüber der Regierung
Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und komplex. Weiterhin gibt es keine Grundlage für die Annahme, dass sich die Grundstimmung für die Notwendigkeit der Weiterführung des Verteidigungskampfes gegen Russland in absehbarer Zeit prinzipiell ändern könnte. Dafür ist die Lage für die Ukraine zu alternativlos: Es gibt keine Anzeichen, dass Russland die Einstellung der aktiven Kampfhandlungen zumindest vor der kommenden US-Wahl überhaupt erst in Erwägung ziehen könnte – ganz abgesehen davon, was die Ukraine und die Ukrainer wollen und was sie selbst über eine solche Perspektive denken. Außerdem zeigen die seit Kriegsbeginn stets geführten Umfragen des renommierten Soziologie-Instituts Rating Group, dass mindestens 80 Prozent der Befragten die ganze Zeit über stabil jegliche territoriale Kompromisse mit Russland ablehnen. Darüber hinaus existiert ein weiteres Phänomen: Menschen, die sich diese theoretisch vorstellen können, stimmen oft den allermeisten konkreten Kompromissvorschlägen gar nicht zu.
Aus einer Ende September veröffentlichen Umfrage der Rating Group folgt außerdem, dass 61 Prozent der

Menschen mit der Richtung zufrieden sind, in die sich die Ukraine bewegt. Das ist zwar ein Rückgang von 20 Prozent im Vergleich zum Ende des vorigen Jahres. In den Jahren vor dem vollumfänglichen Krieg lag aber der Unzufriedenheitswert bis auf sehr wenige Ausnahmen durchschnittlich im Bereich zwischen 60 und 75 Prozent. Aktuell sind nur 23 Prozent mit der Ausrichtung der Ukraine unzufrieden – ein weiterer Beweis für den Sinneswandel des ukrainischen Selbstbildes. Extrem hoch bleibt auch das Vertrauen in die ukrainische Armee: Der Anfang Oktober vom Kiewer Internationalen Soziologie-Institut durchgeführten Studie zufolge vertrauen 94 Prozent der Ukrainer ihren Streitkräften. Fast bei allen anderen Institutionen stellt man allerdings einen gewissen Rückgang fest. Dieser ist oft auf natürlichem Wege entstanden und ist kaum kritisch.
Manch ein Wert scheint trotzdem besorgniserregend. Doch ist der Rückgang des Vertrauens in den Präsidenten Selenskyj von 91 Prozent im Mai 2022 auf 76 Prozent in diesem Oktober alles andere als überraschend. Der ursprünglich russischsprachige Ex-Schauspieler und Fernsehmanager wurde von Anfang an von nationalliberalen und patriotischen Gesellschaftskreisen kategorisch abgelehnt – diese betragen ungefähr ein Fünftel der ukrainischen Wählerschaft. Dank seines starken Auftretens direkt nach der russischen Invasion wurde Selenskyj von einem Teil dieser Gesellschaftsgruppe eine Weile lang toleriert, was offenbar nicht mehr der Fall ist – das war so zu erwarten. Wie merkwürdig dies auf den ersten Blick auch klingen mag, sind auch miserable 22 Prozent des Vertrauens in das ukrainische Parlament kaum aussagekräftig. 2019 hat die innerhalb von wenigen Monaten überwiegend aus Politikneulingen zusammengebastelte Partei um Selenskyj die absolute Mehrheit geholt und sich seitdem erwartungsgemäß als eher durchwachsen gezeigt. Der Vertrauenswert von 58 Prozent im Mai 2022 war eine Momentaufnahme der Gesellschaftsstimmung, die nichts mit der Qualität der Parlamentsarbeit zu tun hatte.
Was Selenskyj tatsächlich Sorgen bereiten sollte, ist die faktische Halbierung des Vertrauens in die Regierung um Ministerpräsident Denys Schmyhal von 74 auf 39 Prozent. Denn das Kabinett ist in Zeiten des Kriegsrechts de facto der verlängerte Arm der Präsidialverwaltung und hat kaum eigene Subjektivität. Dieser Wert könnte teilweise auf die tatsächliche Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik Selenskyjs hindeuten, wenn man seine eigene zweifelsohne charismatische Figur aus der Rechnung nimmt. Es ist auch insofern ein gefährliches Zeichen, weil die national orientierte Opposition, etwa die Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, gern das Thema der Meinungsverschiedenheiten zwischen Selenskyj und dem beliebten Befehlshaber der Armee Walerij Saluschnyj aufgreift und dabei die Rolle des Präsidenten bei der Landesverteidigung kleinredet. Saluschnyj selbst profitiert davon, dass über seine politischen Ansichten und Ambitionen nichts bekannt ist – und lässt damit anders als Selenskyj so gut wie keine Angriffsfläche übrig. Andererseits kann gerade deswegen seine Figur von einigen politischen Kräften mythologisiert und instrumentalisiert werden.
Hochwertige Online-Medien

Gegen Ende des schwierigen zweiten Kriegsjahres macht sich zudem eine weitere Tendenz bemerkbar. Die einheitliche Dauernachrichtensendung „Einheitliche Nachrichten“, die von vielen nationalen und informationellen Sendern zusammen produziert und 24 Stunden pro Tag ausgestrahlt wird, verliert immer weiter an Bedeutung. Während der sogenannte „Fernsehmarathon“ in den chaotischen ersten Kriegswochen gut bis ausgezeichnet funktionierte, fällt der Vertrauensrückgang von 69 auf 48 Prozent in der Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts im Vergleich zu manch einer anderen Studie noch klein aus. Die Nachfrage nach objektiverer Berichterstattung ist groß und wird zum Teil von qualitativ hochwertigen Online-Medien – die meisten Printmedien sind aus wirtschaftlichen Gründen noch vor dem 24. Februar 2022 quasi ausgestorben – bedient, die beispielsweise nicht weniger Korruptionsrecherchen als in der Vorkriegszeit veröffentlichen.
Andererseits ist aber der Aufstieg von oft anonymen Telegram-Kanälen zu beobachten, die blitzschnell unüberprüfte Informationen veröffentlichen und von Hunderttausenden von Abonnenten gelesen werden, was eine potenzielle Gefahr für die nationale Sicherheit in Kriegszeiten darstellt. Beides ist ein Zeichen an die Machthaber, dass für den langen Abwehrkrieg gegen Russland Optimierungsbedarf in Sachen Kommunikation besteht. Denn der „Fernsehmarathon“ ist zwar deutlich näher an der Wirklichkeit als das von der russischen Propaganda übertragene Bild. Er spielt sich aber nicht zwingend in der gleichen Realität ab, in der sich Soldaten in Schützengräben und ihre Verwandten seit 21 Monaten täglich befinden.