Gesellschaftspolitische Debatten, ob über Rassismus oder das Gendern, werden immer unerbittlicher ausgetragen. Es geht um Dominanz – die Sache tritt in den Hintergrund. Bernd Stegemann, Philosoph und Dramaturg, über den Streit um Sprache, Motive und Folgen.
Herr Stegemann, fühlen Sie sich in erster Linie als Theaterdramaturg, Ihr Hauptberuf, oder doch eher als Philosoph?
(schmunzelt) Das ist ja kein Widerspruch oder eine Frage des Entweder/Oder. Man kann mit einem philosophischen Denkansatz an sehr viele Berufe, also zum Beispiel auch Ihren, herangehen. Ich würde den Bogen meiner Profession da sogar noch ein bisschen weiter spannen. Ich arbeite im Theater als Dramaturg, unterrichte als Dozent und bin seit vielen Jahren auch publizistisch tätig. Darum würde ich sagen, ich versuche als Philosoph in der Öffentlichkeit zu wirken.
… und als Mitbegründer der Bewegung „Aufstehen“ zeitweise auch politisch. Wie geht man in dieser beruflichen Kombination mit Kritik um, der man sich dann aussetzt?

Wenn man als Theatermann über 20 Jahre in Berlin in der Öffentlichkeit steht, dann ist man harsche Kritik gewohnt. Da lernt man, mit dieser überwiegend negativen Kritik umzugehen, auch wenn sie mich ab und zu mal ärgert. Am Theater gibt es die alte Weisheit: Man darf den guten Kritiken nicht glauben, sonst muss man auch den schlechten Kritiken glauben. Darum überbewerte ich weder das Lob noch den Tadel, sondern verlasse mich lieber auf mein direktes Umfeld oder mein eigenes Urteilsvermögen.
Aber dann plötzlich in der Realpolitik angekommen, ist es doch etwas anderes, als Bücher zu schreiben oder Theaterstücke zu kreieren.
Natürlich ist das etwas ganz anderes. In der Politik hatte ich es nicht mehr mit dem künstlerischen Moment einer Theaterinszenierung zu tun, sondern politische Aussagen, und die Reaktionen darauf passieren viel schneller. Sie haben jeden Tag mit unterschiedlichsten Menschen, Themen und Problemen zu tun. Gerade bei „Aufstehen“ war das sehr disparat. Eine Sammlungsbewegung führt, wie der Name schon sagt, dazu, dass dort viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Ideen und auch politischen Ausrichtungen zusammenkommen.
Da aber diese Bewegung dann doch sehr schnell wieder in sich zusammengebrochen ist, ist es zu keinen wirklich tiefgreifenden Diskussionen gekommen. Damit war es für mich ein recht kurzer Ausflug in die Realpolitik. Und ob ich ihn fortsetzen möchte, ist für mich nach dieser kurzen, aber intensiven Phase eher fraglich.
Kernthema Ihrer Kritik sind Political Correctness und Cancel Culture, also auch die sprachliche Neudeutung in der Kommunikation. Der Umgang mit Sprache hat sich aber in jeder Zeit verändert, das ist doch normal. Oder?
Grundsätzlich haben Sie Recht, und ich als Theatermann weiß das nur zu gut. Bereits vor wenigen Jahrzehnten wurde auf der Bühne anders gesprochen als heute. Ganz zu schweigen von den letzten Jahrhunderten. Sprache ist immer in Veränderung. Meine Kritik zielt darauf ab, in welche Richtung sich Sprache verändert. Da brodeln derzeit einige Kulturkämpfe. Denn Sprache ist immer auch Ausdruck eines bestimmten Wertehorizonts, und gleichzeitig ist Sprache das Medium, in dem gesellschaftliche Widersprüche verhandelt werden. Dafür haben gerade Theaterleute ein feines Gehör. Denn über die Art des Sprechens und die Form der Sprache bringt eine Figur etwas ganz Bestimmtes zum Ausdruck. Hört man mit dieser Aufmerksamkeit die aktuellen Sprachveränderungen, fällt einem natürlich einiges auf.
Das heißt, mit Gendersternchen und dem Vermeiden oder gar dem Verbot des N-Worts wird Politik gemacht?
Natürlich! Sprache ist Teil des vorpolitischen Raums. Sprache ermöglicht oder verhindert, dass bestimmte Gefühle entstehen oder Stimmungen und damit auch Weltanschauungen im weitesten Sinne formuliert werden können. Meine Kritik beispielsweise am Gendersternchen richtet sich nicht dagegen, dass damit versucht wird, Sprache gerechter und inklusiver zu gestalten. Das wäre sehr lobenswert. Doch darum scheint es immer weniger zu gehen. Das Gendersternchen wird längst zu einem Tugendsignal umgedeutet. Man spricht diese berühmte Gender-Pause und hängt dann noch das „Innen“ an das Substantiv, und damit wird allen anderen Menschen signalisiert, dass man ein besserer Mensch ist. Hier wird Sprache benutzt, eine Hierarchie über moralische Signale herzustellen. Die eigene Tugend wird ausgestellt. Das ist aber genau das Gegenteil von sprachlicher Inklusion, also das, was das Gendersternchen eigentlich will.
Autoritäre politische Systeme sind bemüht, Kontrolle über die Sprache auszuüben. Ist das vergleichbar?
Nein, da muss ich widersprechen. Totalitäre Durchgriffsmechanismen hat George Orwell in „1984“ beschrieben. Damit hat die derzeitige Sprachumgestaltung wenig zu tun. Nur eine Staatsmacht kann Zensur ausüben. Das, was wir seit einigen Jahren erleben, geht gerade nicht vom Staat aus, sondern wird durch verschiedene Milieus gefördert. Das sind Bewegungen, die sprachliche Versuchsballons starten. Diese Bewegungen operieren nicht aus der Position einer absoluten Macht heraus. Die aktuellen sprachpolitischen Veränderungen sind ein anderer Vorgang als das „Neu-Sprech“. Darum halte ich auch nichts davon, immer mit den Orwellschen „1984“-Vergleichen zu kommen.
Aber es geht schon um eine Abgrenzung zur bisherigen Sprache. Also eine Form der neuen, selbstverstandenen Elite?
Das ist genau das, was ich mit den Tugendsignalen meinte. Da gibt es einen Aspekt, den ich als elitär bezeichne. Schon rein sprecherisch sind die Pausen im Wort und das angehängte „*innen“ anspruchsvoll. Außerdem lässt sich nicht jedes generische Maskulinum so umwandeln, wie „Gäst*innen“. Eine völlig unsinnige Wortkonstruktion, die verkennt, dass der Plural im Deutschen immer ein generisches Femininum beinhaltet: Der Gast, die Gäste. Außerdem scheinen nicht alle zu wissen, was mit der Sternchen-Pause gemeint ist. So wurde im „Heute-Journal“ von der „Ministerpräsident*innenkonferenz“ gesprochen. Abgesehen davon, dass in dem Wortungetüm das *innen als Adverb gehört wird, also eine Innen- von einer Außen-Konferenz unterschieden wird, wird das Gendersternchen falsch verwendet. Denn mit der Pause sind alle nicht-binären Geschlechter gemeint. Aber wer von den 16 obersten Repräsentanten der Länder ist bitte non-binär? Und was will uns das „Heute-Journal“ damit andeuten? Das Tugendsignal hat hier offensichtlich die Wahrheit der Nachricht überlagert. Völlig ungelöst ist auch das Problem, was mit dem generischen Femininum passieren soll, wie etwa die Geisel oder die Fachkraft? Wie will man denn das gendern? Und völlig absurd wird es, wenn in den Nachrichten von „Taliban-Kämpfer*innen“ gesprochen wird.
Sie meinen, weil es dort weder Frauen noch non-binäre Personen gibt. Aber noch mal gefragt: Geht es in der Diskussion um mehr als darum, Sprache zu beherrschen?
Das ist der Sinn der Tugendsignale: Wir sprechen so, darum sind wir bessere Menschen, und alle, die nicht so sprechen, sind die schlechteren Menschen. Das erinnert natürlich an die Abgrenzung, die der Adel in früheren Jahrhunderten praktiziert hat. Da wurde Französisch gesprochen. Damit hat man sich von seinen Untertanen sprachlich deutlich abgesetzt und signalisiert: Wir sind was Besonderes. Da liegt der Verdacht nahe, dass über die Gendersprache ein neuer Klassenunterschied manifestiert und vor allem sichtbar gemacht werden soll.
Im Zuge dieser Bewegung droht es ja auch handgreiflich zu werden. Ein Vortrag zur biologischen Zweigeschlechtigkeit an der Humboldt-Uni hier in Berlin wurde abgesagt. Ist das für Sie die Kapitulation der Wissenschaft?
Das Problem, nicht nur in diesem Fall, entsteht immer dann, wenn eine Gruppe ihre Interessen sehr lautstark formuliert und eine Institution vor diesem Protest einknickt. Der sehr laute Protest ist aber keineswegs demokratisch legitimiert. Doch durch das vehemente Auftreten bringt der Protest eine staatliche Institution wie die Leitung der Humboldt-Universität dazu, einen wissenschaftlichen Vortrag zu unterbinden. Diese Entscheidung halte ich für sehr problematisch. Denn damit hat die Humboldt-Universität öffentlich zugegeben, dass die Gewaltandrohung einer Minderheit die Macht hat, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. Wer die demokratischen Grundrechte so fahrlässig aufgibt, weil er sich vor einem Empörungssturm wegduckt, der gehört zu den Totengräbern der liberalen Gesellschaft. Und dass die Leitung der Humboldt-Universität aus diesem Fehler keine Konsequenzen ziehen musste, zeigt, wie prekär die Lage der offenen Gesellschaft inzwischen ist.
Ist Empörung das neue Element der öffentlichen Debatte? Also: Ich muss nur richtig auf den Putz hauen und gestalte damit dann eine öffentliche Diskussion?
Dieser Eindruck verstärkt sich. Die Öffentlichkeit reagiert sehr viel stärker auf Empörung und Aufregung. Damit steht jeder, der sachlich argumentieren möchte, auf verlorenem Posten. Je mehr die Empörung belohnt wird, weil sie ihre Forderungen durchsetzen kann, desto weniger Menschen werden sich der Mühe des besseren Arguments unterziehen. Wer lernt, dass lautes Schreien genügt, der muss nicht mehr argumentieren und der muss nicht mehr zuhören. Auf diesem unheilvollen Weg ist die Öffentlichkeit leider schon sehr weit fortgeschritten.
Daraus schließe ich, die Streitkultur in Deutschland wird zukünftig durch das emotionale Aufregungsmoment bestimmt?
Das liegt daran, dass Gefühle sehr viel schneller Aufmerksamkeit erregen als Sachlichkeit. Wer seinen Standpunkt damit begründet, dass man gekränkt und verletzt ist, der kann darauf vertrauen, dass ihm alle zuhören werden. Und wer diese Gefühle noch steigert und zeigt, dass man in Panik ist und große Angst hat, der erzielt eine globale Wirkung wie Greta Thunberg. Und wenn der Journalismus, weil er die schnelle Aufregung liebt, dann vor allem Fragen nach dem Gefühlsleben stellt, rutschen alle öffentlichen Äußerungen in den Strudel der Emotionen. Warum muss ein Politiker ständig gefragt werden, wie er sich gerade fühlt? Und was soll die Frage, was das gerade mit einem emotional macht? Die Öffentlichkeit wird so zu einem Therapieraum, in dem leider die Durcharbeitung der aufgewühlten Gefühle ausgespart wird. So tritt die Debatte gereizt auf der Stelle und die Argumente dringen nicht mehr durch. Wenn Angst auf Wut trifft, wie in den aktuellen Debatten um den Klimaschutz, hilft das weder dem erhitzten Klima der Debatten noch der Erderwärmung.

Entwickelt sich damit unsere Streitkultur nach US-amerikanischem Vorbild?
In Teilen ganz sicherlich. Doch der Duell-Charakter der amerikanischen Öffentlichkeit unterscheidet sich von den deutschen Empörungswellen. Denn in den USA gibt es zwei Parteien, die glauben, absolut recht zu haben, die Demokraten und die Republikaner. In Deutschland haben wir derzeit nur eine Partei, die davon ausgeht, dass nur sie moralisch allen anderen überlegen ist, das sind die Grünen. Diese Partei lebt in dem Selbstverständnis, dass ihre Forderungen und Argumente moralisch unverhandelbar sind.
Inwieweit hat diese Polarisierung gerade im Netz auch etwas mit Bildung zu tun?
Nach meinem Eindruck funktioniert die Aufregungskultur gerade im Netz auf allen Bildungsebenen. Twitter beispielsweise gilt eher als Kampfplatz für den gehobenen Bildungsstand. In wenigen Zeichen müssen Sie dort sehr pointiert formulieren. Das erfordert ein polemisches Talent, um die entsprechenden Follower zu generieren – während Tiktok oder Instagram hauptsächlich über Bilder funktionieren und mehr der Selbstinszenierung dienen. Da sind also sprachliche Fähigkeiten nicht so wichtig. Die „Bild“ wiederum setzt auf die einfachen Reize des Skandals. Ich vermute, dass es für jeden Bildungsstand ein eigenes Empörungsmedium gibt. Die Medien der Aufklärung haben es hingegen immer schwerer. Das Argument braucht Zeit und einen kühlen Kopf, beides ist in der aufgeregten Gegenwart rar.