Martin Luther King hat nicht weniger gefordert, als dass hehre Verfassungs-Ansprüche Normalität werden. 60 Jahre nach seiner berühmten „I Have a Dream“-Rede ist Rassismus mehr denn je ein Thema – politisch, gesellschaftlich, im Alltag.
Träume sterben nicht. Ob sie Wirklichkeit werden, steht auf einem anderen Blatt. Thomas Jefferson, der vor knapp 250 Jahren maßgeblich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung formuliert hat und später Präsident der USA war, wird der Satz zugeschrieben: „Ich mag Träume von der Zukunft lieber als die Geschichte der Vergangenheit.“ Ob Martin Luther King diesen Satz kannte, ist nicht bekannt. Aber genau diese Haltung durchzieht seine berühmte Rede „I Have a Dream“. Der Traum von einer Welt, in der die Gleichbehandlung aller Menschen Wirklichkeit ist – und Rassismus mit all seinen unterschiedlichen Ausprägungen nur noch wie ein böser Albtraum der Vergangenheit erscheint.
Gut eine Viertelmillion Menschen – darunter etwa 60.000 Weiße – hatten sich am 28. August 1963 bei ihrem Marsch für Arbeit und Freiheit vor dem Lincoln Memorial in Washington, D.C. versammelt. Martin Luther King, eigentlich geübter Baptistenprediger, begann seine Rede verhalten, fast stockend, geklammert an sein Manuskript. Der Überlieferung nach soll ihn eine Frau aufgemuntert haben: „Erzähl doch was von deinem Traum.“ Und dann erzählte er von seinem Traum von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. „Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“
Im Grundsatz stand bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“
Wie das aber mit Anspruch und Wirklichkeit so ist: Die Sklaverei bestand noch fast 100 Jahre weiter, wurde erst 1865 durch einen Zusatzartikel in der Verfassung abgeschafft. Weitere rund 100 Jahre später war es für Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement) immer noch ein „Traum“, dass gesellschaftliche Selbstverständlichkeit würde, was als erstrebenswertes Ziel längst aufgeschrieben war.
Der Traum von Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit ...
Ein Jahr nach der historischen Rede wurde King für seinen – gewaltlosen – Kampf mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und erklärte in einer ersten Reaktion: „Ich sehe das nicht als Preis für mich persönlich an. Es ist die Anerkennung für die Disziplin, den weisen und edlen Mut von Millionen edler Schwarzer und Weißer, die versuchen, Gerechtigkeit zu erreichen und die Herrschaft der Liebe in unserem Land durchzusetzen.“
Martin Luther Kings Engagement gründete, für den Baptistenprediger wenig überraschend, auf einem klaren Menschenbild als Ebenbild Gottes; er glaubte zutiefst an Gerechtigkeit und die Macht der Moral und war beeindruckt von Mahatma Gandhis Prinzip des gewaltfreien Widerstandes. „Ich bin der Gewalt müde, die ich zu oft gesehen habe … Wir haben eine Kraft, die man nicht in Molotowcocktails finden kann.“ Das sahen nicht alle Bürgerrechtler so. Kings großer Gegenpol gleich in mehrfacher Hinsicht war Malcolm X mit seiner militanten Haltung, der eines der bekanntesten Gesichter der Black Muslims war, die auch als Nation of Islam bekannt sind.
Martin Luther King wurde knapp fünf Jahre nach seiner berühmten Rede in Tennessee erschossen. Die Erfüllung seines großen Traums scheint heute in immer weitere Ferne zu rücken. Nicht nur in den USA, aber insbesondere dort werfen die aktuellen Entwicklungen ernüchternd die Frage auf, was sich in den sechs Jahrzehnten seit Kings berühmter Rede wirklich verändert hat. Der Tod von George Floyd im Mai 2020 hat weltweit Entsetzen ausgelöst und steht doch nur als erschütterndes Symbol dafür, wie wenig sich wirklich zum Besseren geändert hat. Der zwischenzeitlich erste nicht weiße Präsident Barack Obama hat daran wenig ändern können – Donald Trump ist die sichtbare Gegenreaktion.
Es geht aber nicht nur um die USA. In Frankreich hat der Tod von Nahel M. in diesem Jahr wochenlang massivste Auseinandersetzungen ausgelöst. In Deutschland hat der Fall des 16-jährigen Senegalesen Mouhamed Dramé, der vor ziemlich genau einem Jahr in Dortmund von einem Polizisten getötet wurde, für Aufsehen gesorgt. Rassismus in Gesellschaft und Institutionen ist weiterhin ein hoch aktuelles Thema. Sicher anders als zu Zeiten von Martin Luther King, als es um die Abschaffung von Rassegesetzen in den USA ging. Das Verständnis von Rassismus hat sich verändert, weiterentwickelt. Der Umgang mit Rassismus in Institutionen ändert sich. Wo früher mit dem Hinweis auf „Einzelfälle“ abzuwiegeln versucht wurde, setzt man sich heute anders mit dem Thema auseinander.
... wird nur mit Courage zur Wirklichkeit
Wie überhaupt das Thema Rassismus einen anderen Stellenwert in der gesellschaftlichen Diskussion gewonnen hat, mit unterschiedlichen Aspekten. Zum einen erstarken politische Strömungen mit Protagonisten, die rassistisches Gedankengut wieder salonfähig machen wollen. Gleichzeitig wird möglichst sensibel auf alles geachtet, was auf rassistische Haltungen auch nur hindeutet, auch im sprachlichen Umgang. Die Debatte um das N-Wort steht dafür symbolisch, auch dafür, wie sich die gesellschaftliche Debatte um Rassismus verhärtet. „Rassistisch“, „kolonialistisch“ lauteten beispielsweise die Kritiken, die dazu führten, dass „Winnetou“-Bücher vom Verlag zurückgezogen wurden. Die Diskussion um Sprachgebrauch nimmt nicht selten Züge eines Kulturkampfes an. Die Kulturwissenschaftlerin Susan Arndt hat in einem Interview Sprache als wichtigen „Schauplatz des Widerstandes gegen Rassismus“ bezeichnet, wissend um den Einwand, dass sich Rassismus nicht ändert, nur weil sich Sprache ändert. Diese Auseinandersetzung um Sprache spielt sich übrigens genauso auf anderen Themenfeldern ab, Stichwort Gendern. Und auch dabei verdichtet sich oft genug der Eindruck, dass der „Schauplatz des Widerstandes“ zum gesellschaftspolitischen Schlachtfeld wird. Vor allem, wenn auf der einen Seite Absolutheitsansprüche erhoben und auf der anderen Seite populistisch rassistische Klischees bedient werden.
„Sich gegen Rassismus einsetzen, bedeutet, unsere demokratische Gesellschaft zu verteidigen“, so das Leitmotiv vieler Initiativen, Projekte und von Maßnahmen, die strukturellen und institutionellen Rassismus einzudämmen bemüht sind.
Am Ende ist es aber immer auch eine Frage des Menschenbildes. Martin Luther King hat sein Lebensengagement auf ein christliches Menschenbild gegründet, das den Respekt vor jedem Menschen gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Begabung oder Einschränkung und sonstiger Eigenarten einfordert. Eigentlich Selbstverständlichkeiten mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit. Es scheitert jedoch oft genug schon im Alltäglichen. Alltagsrassismus und Diskriminierungen sind an der Tagesordnung. Aber genauso weit verzweigt sind Initiativen dagegen – und längst weit über den Kreis hinaus, wo man es eigentlich ohnehin erwarten dürfte, wie bei staatlichen Einrichtungen, Stiftungen, Kirchen.
So gesehen ist der Kampf gegen Rassismus längst über den politischen Streit und akademischen Diskurs hinaus in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen. Nicht immer laut, spektakulär und schlagzeilenträchtig, aber immer mit der Hoffnung, nachhaltig zu wirken. „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ist ein wesentlicher Baustein von vielen, und sicher von besonderer Bedeutung angesichts der auch in der jüngsten Zeit bekannt gewordenen rassistischen Vorfälle an Schulen. Schon im Titel liegt dabei ein entscheidender Hinweis: Neben allen institutionellen und strukturellen Maßnahmen, Diskussionen und Aufklärung kommt es am Ende immer wieder darauf an, im Alltag Haltung zu zeigen.
Vielleicht würde ja Martin Luther King heute, 60 Jahre später, seine Rede ergänzen: eine Gesellschaft, in der sich Menschen mit Courage dafür einsetzen, dass „Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit“ nicht nur ein ferner Traum bleiben.