Bis heute ist Ulrich Krauss mit seiner Projektgalerie „Zagreus“ einzigartig in Berlin. Vom Betreten bis zum Verlassen soll der Gast Kochen, Essen und Kunst als Einheit erleben.
Von der Brunnenstraße 9a geht es unter der roten Leuchtschrift durch ein schweres Gittertor, über einen noch winterlich stillen Vorhofgarten und weiter durch die gläserne Eingangstür. Wie vor einer sich öffnenden Schleuse steht man auf der Eingangs-Passerelle. Der Blick fällt gespannt nach unten ins rechteckige Souterrain der Koch-Kunst-Galerie „Zagreus“. Manche der Gäste sind heute das erste Mal hier, andere vertraut mit der Tatsache, dass der Weg in dieser nach einem Mensch-Tier-Gott benannten Genuss-Stätte zwar immer der gleiche ist, der Raum sich in seiner amorphen Neutralität aber verwandelt. Gastgeber Ulrich Krauss empfängt die etwa 15 Gäste salopp und unprätentiös vertraut und wird sie durch den Abend führen. Der lange Holztisch ist akkurat eingedeckt. Die kalkweiß-nackten Wände sind mit unzähligen Exponaten bespickt – eine perfekte Symbiose aus Galerie und Temporär-Restaurant.
Mehrgängiges Abendmahl der besonderen Sorte
Gezeigt wird hier als retrospektiver Nachgang die Gruppenausstellung „Das Beste aus 20 Jahren – 2000–2020“. An die 60 Künstler haben diese Parallelwelt in Mitte bereits metamorphosiert. Raum, Kunst und Kochen sind ein untrennbarer Teil des Konzepts. Zu essen gibt es heute einen kulinarischen Fünf-Gänger mit Menü-Auszügen aus fünf Kunstprojekten. Nur einfach besichtigen ohne das Essensritual kann man die wechselnden Ausstellungen in der auratischen Koch-Galerie übrigens nicht.
Nicht ohne Staunen schaut man sich in dieser gar wunderlichen, eklektizistischen Genussenklave erst einmal um: Über dem Tisch hängen mit fransigen Stricken befestigte voodooartige Figuren aus Ton. Oder ist es Rinde? Man will gleich noch genauer hinsehen, bevor das Erschmecken beginnt, ist bereit für ein mehrgängiges Abendmahl der besonderen „Art“. An diesem Abend sei alles etwas anders als sonst, wo nur ein thematisches Künstlerinnen-Projekt vorherrsche, erzählen die treuen Wiederkehrer. „Einmal war der Raum ein auf dem Kopf stehendes Bergpanorama mit strahlend blauem Himmelsgrund“, erzählt ein Stammgast aus dem angrenzenden Kiez. Die „Unterwanderung der Alpen –
ein Weg ins Schlaraffenland“ (Multimedia Installation von Lis Blunier, 2013/14) war der abendfüllende Titel. Das Dessert hieß „Monte Bianco“ mit Maronen und Vanillesahne.
Kochen als Prozess der Verwandlung
Bei einer der ersten Installationen konnte man sich tischfrei auf einer grünen Wolldecke beim „Winterpicknick“ (Pfelder, 2001) zu Frikadelle, gefüllter Wildente oder Auster beim Schlemmen auf dem Boden räkeln. Ein anderes Mal saßen die Gäste an einer Oval-Tisch-Installation mit Wasserkanal. Kohlrabi-Maki, Zander Nigiri und zwölf weitere „Nekko“ – sustainable Sushis (2011) – verteilten sich über das futuristische Konstrukt. Faszinierend sei auch die Raum-Transformation mit dem charmanten Titel „Saufen & Fressen“ (2018) gewesen, die die Künstlerin Ute Lindner Dionysos, dem wiedergeborenen Zagreus, als Gott des Weines und des Rausches widmete. Auf Wänden und Tisch waren übergroße, preußisch-blaue Fotogramme appliziert. Bei der sogenannten Cyanotypie-Technik entwickeln sich durch Einwirkung von Sonnenlicht auf Fotopapier gelegte Objekte wie Obst, Gemüse, Gläser, Flaschen oder Efeu zu schemenhaften Schattenrissen. Gegessen wurde blau: Blaukraut mit Sternanis, „Blauer Schwede“ (Püree aus blauen Kartoffeln) oder Brom- und Preiselbeeren begleiteten Ceviche oder Rotweinbirne. Ein Bild von Caravaggios Bacchus – ein vergorenes Obst naschender Jüngling – hängt lasziv an der Jubiläumswand. An der Kopfseite des Raums umschwirren sich barocke Engelsfiguren aus Butter in einem Kühlschrank.
Im Projekt „Muschelmädchen und Amorettenschmelze“ hatte Sonja Alhäuser (2014) Skulpturen und Tafelaufsätze aus Butter, Marzipan, Schokolade, Keramik, Metall und bukolische Wandmalerei mit Rezepten aus der Renaissance kombiniert. An der Wand gegenüber ist ein Kasten mit Wachs-Konterfei eines Imkers fixiert, über die ein Bienenvolk fleißig ihre Waben gezogen hat. Für das Projekt „Schwarmstimmung“ hatte Künstlerin und Imkerin Bärbel Rothhaar Bienenforscher und Imker interviewt und ihre Porträts im Bienenstock „zur Arbeit“ freigegeben. Das passende Menü war von Honig süß durchzogen. „Wir haben die Corona-Zeit genutzt, um alles, was hier präsentiert wurde, in einen dicken Katalog mit Rezepturen und vielen Bildstrecken zu bringen“, erzählt Koch-Galerist Uli Krauss, der in den 90ern, als er aus dem gediegenen Baden-Württemberg ins progressive Berlin umsiedelte, selbst auch als Performance-Künstler und Maler aktiv war. Das Thema des Kochens als ein Verwandlungsprozess faszinierte ihn schon immer. Die erste „Eat Art“-Strömung, als provokativer Prozess, Essen mit Kunst gleichzusetzen, entstand in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Künstler wie Dieter Roth entwickelten während der Fluxus-Bewegung erstmals Readymades wie Brotsandalen oder luftdicht abgeschlossene, schimmelige und von Kakaomotten zerfressene Gewürz- und Schokoladen-Objekte. Der Schweizer Daniel Spoerri verortete diese Kunstform räumlich 1970 als Eat-Art-Galerie in Düsseldorf. Mit zeitgenössischen Künstlern veranstaltete er die ersten Eat-Art-Bankette und Happenings und veröffentlichte Kunst-Kochbücher.
Auch Ulrich Krauss hat einmal einen Hasen abgezogen, ihn öffentlich gekocht und im Setting ausgestellt. Das Ganze war aber nicht essbar. Eigentlich liege ihm das Kochen und die Kunst nicht als Politikum am Herzen, sondern als Schwelle vom Handwerk zur Kunst. Es gehe darum, beides als symbiotische Spielwiese auf Augenhöhe an einem genüsslichen Abend zusammenzufügen. Das Handwerk hatte er als ersten Berufsweg von der Pike auf in seiner badisch-bodenständigen Heimat gelernt. Die besternte „Bühler Höhe“ bei Baden-Baden gehörte zu seinen Lernstationen. Im Immer-noch-Umbruch-Berlin leitete er ein Restaurant gegenüber der Nationalgalerie.
Als er das „Zagreus“ eröffnete, switchte er endgültig zurück in die Küche und organisiert als „nicht-künstlerischer“ Koch, Galerist und Caterer bis heute Ausstellungen mit dem „übergeordneten Thema der Nahrung im weitesten Sinne und einer konsequenten Abwandlung gastronomischer Konzepte“.
In einem Zyklus von zwei Monaten werden Bildende Künstler und Künstlerinnen eingeladen, Installationen und raumfüllende Konzepte zu erschaffen und sich oft erstmals mit der Themenwelt zu befassen. Der Raum wird jeweils wieder auf null zurückgesetzt und komplett neu bespielt. „Ich adaptiere als Dialogpartner das Menü an die Idee. Am Ende entscheidet der Künstler. Ich bin zwar inspirativer Teil, muss aber Kochen von Kunst trennen. Okay, es bedarf an Kreativität, aber für mich bedeutet Kochen, gutes Handwerk bestmöglich mit Faktoren wie Produkt, Qualität, Küchentechnik und Zeit auf den Tisch zu bringen.“
Panierter Wolfsbarsch
Im Jubiläumsmenü kocht er aus dem Projekt „Bentobox im Lebensmittelsortiment“ – eine Installation aus Waffeln, Styropor und Bauschaum (Uwe Sennert, 2015) – einen Gang mit Hausmannskost seiner Heimat: Panierter Wolfsbarsch im Zitronen-Weißwein-Sud mit Kartoffel-Gurkensalat, Radicchio und Roter Bete mit einem elsässischen Orange-Naturwein (Domaine Faller Macerat Pinot, 2019). Die guten Tropfen sucht er selbstredend auch symbiotisch aus. Es folgt eine „Mulligatawni Indienne“ – eine pfeffrige Suppe aus der indisch-englischen Küche mit Ulis immer-selbstgemischtem Curry. Sie war Teil der Ausstellung „Himmelreich“ (2012), bei der Künstler Roland Fuhrmann 2000 „manisch gesammelte“ Zeppelin-Schnappschüsse ausstellte. Die französische gehobene Küche an Bord der Luftschiffe spiegelte sich im Menü. Unter den Gästen des Abends ist auch Food-Art-Künstlerin Anja Fiedler von „Stadt macht satt“. Sie ist gespannt auf das Dessert, das Uli mit ihrer Baum-Ernte kredenzt hat. Es gibt gefüllte Ahornblätter mit Blautannenwipfeleis, Fichtennadelparfait mit Honigsirup und eingelegten Holunderblüten. 2013 hatte Fiedler mit Künstlerkollegin Sabine Hilscher einen Vorratsschrank von „aus der Stadt Gesammeltem“ wie Indischem Springkraut, Doppelkarotten und sogar einem Stadtwildschwein angelegt. Es wurde gekocht, bis alles sukzessiv verbraucht war.
Bis heute ist Ulrich Krauss mit seiner Projektgalerie einzigartig in Berlin. Vom Betreten bis zum Verlassen soll der Gast Kochen, Essen und Kunst als Einheit erleben. So wie Zagreus ein Wesen zwischen Mensch und Tier ist, bewegt man sich auf der Schwelle zwischen Kochen und Kunst. Am Ende wurde er laut Mythos zerstückelt, gekocht und teilweise verspeist, um wie für Götter üblich aufzuerstehen, um das Genussrad wieder von Neuem zu drehen.