Kaum ein Verkehrsmittel ist so sicher wie das Flugzeug. Wenn aber doch etwas passiert, entscheiden Sekunden über Leben und Tod. Besatzungen üben regelmäßig die Szenarien, die hoffentlich nie eintreten.

Da sitzen sie, eng aneinander gepfercht, Knie an Knie im Rettungsfloß. Die Schwimmwesten drücken gegen die Oberkörper, Chlorgeruch in der Luft. 21 Männer und Frauen. Was jetzt? „Da sind Trümmerteile im Wasser!“, ruft ein Mann mit T-Shirt und kurzer Hose. „Da ist Kerosin! Ihr habt nicht viel Zeit, paddelt! Hopp, hopp, hopp!“
In Wahrheit gibt es weder Trümmer noch Kerosin. Das Rettungsfloß treibt im Hallenbad Oerlikon in Zürich, nebenan der Zehn-Meter-Turm, dahinter Frühschwimmer, die ihre Bahnen ziehen. Navid Kiser, der Mann, der in T-Shirt und kurzer Hose am Beckenrand, will den Ernstfall trotzdem so realistisch wie möglich darstellen, und sei es nur in Gedanken. Der 44-Jährige ist Emergency Instructor bei der Fluggesellschaft Swiss. Seine Aufgabe: neuen Flugbegleitern im Kurs 38/23 beibringen, wie sie und ihre Passagiere eine Notwasserung überleben. Seine Ausrüstung: ein Rettungsfloß, Schwimmwesten und jede Menge Erfahrung. 23 Jahre hat er selbst als Flugbegleiter gearbeitet, seit sieben Jahren bildet er den Nachwuchs aus.
Im Schwimmbecken ist vieles komplizierter

Die Teilnehmer von Kurs 38/23 beginnen zu paddeln – mit den Händen, was anderes haben sie nicht. Die Gummihülle im Rettungsfloß quietscht, schnell stehen die Füße im Wasser. Die weißen Overalls, die die Airline-Uniform simulieren sollen, saugen sich voll. „Was müsst ihr tun, wenn ein Eisberg auf euch zukommt?“, fragt Kiser. Die Antwort kommt prompt: „Rückwärts!“ Das Floß schwankt auf dem Wasser, links, rechts, hin, zurück. Dann haben die „Verunglückten“ den Dreh raus. Eisberg umschifft!
Im Klassenraum haben die Auszubildenden alle Handgriffe durchgespielt. In der Halb-Praxis im Schwimmbecken ist vieles komplizierter. „Wie hat sich das angefühlt?“, fragt Kiser, als die durchnässten Trainees nacheinander aus dem Becken klettern. „Scheiße“, antwortet eine junge Frau. „Gar nicht so schlimm“, meint ihre Kollegin. „Aber mein Kopf ist zu groß für die Schwimmweste.“ Der Ausbilder grinst: „Davon werdet ihr noch träumen.“
Sechs Wochen dauert die Flugbegleiter-Grundausbildung bei der Swiss. Die Szenarien, die Navid Kiser durchspielt, kommen in der Wirklichkeit zwar fast nie vor – falls doch, muss die Crew innerhalb von Sekunden richtig handeln. Davon hängt das Überleben mehrerer Hundert Menschen ab. Wie anspruchsvoll der Job sein kann, verriet eine US-amerikanische Flugbegleiterin, als sie 2019 einen offenen Brief auf Facebook veröffentlichte. Sie ärgerte sich, weil ein Passagier sie beleidigt hatte. „Ich habe gelernt, in 10.000 Metern Höhe ein Feuer zu löschen, weiß, wie ich Waffen erkenne, […] und kann lebensrettende Maßnahmen unter akutem Stress durchführen“, schrieb die Stewardess. „Wenn Sie also das nächste Mal denken: Ach, nur eine Flugbegleiterin, hoffe ich, dass Sie sich schnell daran erinnern, wofür ich eigentlich da bin, und dass das Servieren von Essen und Getränken den geringsten Teil meines Jobs ausmacht.“

Im Zürcher Schwimmbad treiben die Kursteilnehmenden inzwischen wieder im Wasser, das Gummiboot nebenan. Doch vom Wasser ins Trockene zu gelangen, klingt leichter, als es ist. Sobald zu viele Personen auf einer Seite hochklettern, kippt das Floß. Kurze Ratlosigkeit. Dann entscheiden sich die Trainees für Teamwork. Während die einen sich hochziehen, halten die anderen das Boot fest. Fehlt nur noch die „bewusstlose Person“, Schwierigkeitsstufe zwei. Ein Teilnehmer macht sich steif, die anderen schieben und hieven und quetschen. Geschafft! Ein paar Minuten später sind alle an Bord, manchen ist kalt, andere sind außer Atem, die meisten schauen zufrieden.
Viel Zeit bleibt Kurs 38/23 nicht zum Verschnaufen. Die Trainees müssen im Wasser einen Kreis bilden, je acht Personen, Arm in Arm, Knie angezogen, damit sie weniger Hitze abstrahlen. „Schneller, schneller“, ruft Ausbilder Kiser. „Stellt euch vor, das Wasser hätte zwölf Grad! Die Ersten unterkühlen schon!“
Zum Schluss müssen alle vom Ein-Meter-Brett springen – die Airline schätzt, dass sich die Türen eines Flugzeugs etwa einen Meter über der Wasseroberfläche befinden, wenn die Maschine im Meer zum Stehen gekommen ist. Also ein beherzter Sprung ins Schwimmbecken! Anlauf nehmen, Nase zuhalten, geschafft! Nach etwa einer Stunde ist die Lektion in Notwasserung vorbei.
Notwasserungen gibt es nur selten
„Ich find’s gut, dass wir selbst Lösungen finden mussten“, sagt Karina Muntjann (20), eine der angehenden Flugbegleiterinnen. „Es war schon ziemlich realitätsnah.“ Ihre Kollegin Sharon Kopp (20) hatte es sich schlimmer vorgestellt: „In echt hätten wir Wellen, Haie, Salzwasser, ängstliche Menschen. Jetzt können wir zumindest besser einschätzen, wie man in einer solchen Situation reagiert.“
Die Frage ist berechtigt: Wie gut lässt sich ein Notfall in einem öffentlichen Hallenbad simulieren? Das Wasser ist klar und beleuchtet, die Wassertemperatur beträgt 28,9 Grad Celsius, Beckentiefe: fünf Meter. „Shark!“, ruft einer der Teilnehmer, während die anderen im Wasser treiben: Hai in Sicht! Alle lachen, die Gruppe macht sich einen Spaß aus ihrer Übung. Reicht eine Stunde im Schwimmbecken, um eine Crew auf einen Kampf um Leben und Tod vorzubereiten?

„Notwasserungen hat es in der Geschichte der Verkehrsluftfahrt nur extrem wenige gegeben“, sagt der Luftfahrt-Experte Andreas Spaeth, der seit über 20 Jahren als Journalist zu der Thematik recherchiert. Trotzdem sei es wichtig, dass die Kabinenbesatzungen ein Gefühl dafür bekommen, vor allem für Notrutschen, die sich in Flöße und Rettungsinseln verwandeln. Der Experte Spaeth bleibt skeptisch: „Wenn ich bei solchen Trainings dabei bin und sehe, dass viele junge Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen alles andere als sichere Schwimmer sind, scheint es mir unwahrscheinlich, dass sie bei einer tatsächlichen Wasserung viel ausrichten können.“
Die wenigen Notwasserungen, die es in den vergangenen Jahren gab, nahmen durchaus unterschiedliche Verläufe. Unvergessen die Notwasserung eines Airbus A320 im Hudson River im Jahr 2009. Nachdem durch einen Vogelschlag beide Triebwerke ausgefallen waren, landete das Flugzeug kurzerhand in dem New Yorker Fluss. Die Insassen retteten sich auf die Tragflächen, alle 150 Passagiere überlebten. Für sein spektakuläres Flugmanöver wurde Kapitän Chesley Sullenberger weltweit gefeiert, sogar ein Film von Clint Eastwood kam später ins Kino. Doch die Arbeit der Flugbegleiter war mindestens genauso wichtig: Sie schafften es, alle Personen sicher zu evakuieren, bevor die Maschine unterging.
Ob eine Notlandung glimpflich abgeht, hängt auch vom Verhalten der Passagiere ab. Im November 2019 geriet eine Aeroflot-Maschine nach dem Aufsetzen auf der Landebahn am Flughafen Scheremetjewo in Brand. Weil sie es nicht rechtzeitig aus dem Flugzeug schafften, kamen 41 Personen ums Leben. Die Notausgänge waren unter anderem verstopft, weil manche Passagiere noch ihr Handgepäck hervorgekramt hatten. In Kanada war es ein Jahr zuvor zu einem ähnlichen Vorfall gekommen. Beim Brand zweier Flugzeuge auf dem Flughafen Toronto hatten ebenfalls Passagiere ihr Handgepäck zusammengesucht, während die Turbinen brannten.
„Natürlich möchte jeder erst noch sein Handy mitnehmen, auf dem 10.000 private Fotos gespeichert sind“, sagt Jorgen von der Brelie, Professor für Luftverkehrssysteme an der Hochschule Bremen. „Wenn aber 500 Passagiere das machen, haben Sie ein Problem.“ Genau deshalb sei es so wichtig, die Handgriffe wieder und wieder zu üben. Von der Brelie, der selbst Pilot ist, hält die Ausbildung für ausreichend. „Natürlich nützt es nichts, wenn Sie nachts mit hoher Geschwindigkeit aufs Wasser aufschlagen. Wenn aber eine Evakuierung möglich ist, sind die meisten Besatzungen sehr gut darauf vorbereitet.“ Gleichwohl müssten die Piloten genau überlegen, ob sie eine Evakuierung anordnen. „Die Leute springen über Sitze, wollen schnell raus. Selbst unter idealen Bedingungen kommt es dabei zu Knochenbrüchen und anderen Verletzungen.“
Ausrüstung für den Ernstfall ausprobieren
Ortswechsel. Wenige Kilometer vom Hallenbad entfernt, am Flughafen Zürich, steht ein modernes Betongebäude. An der Glastür steht „Lufthansa Aviation Training“. Die Airline betreibt hier ein Trainingszentrum, das Angestellten der Tochterfirmen, zu denen die Swiss gehört, aber auch externen Airlines offensteht.
Im ersten Obergeschoss betritt eine Swiss-Crew den Schulungsraum für ihren jährlichen Wiederholungskurs. An den Wänden hängen Gegenstände, die man als Passagier lieber nicht sehen möchte: Megafone, Schwimmwesten, Feuerlöscher. Auch das Inventar eines Rettungsfloßes ist aufgereiht: Meerwasser-Entsalzungstabletten, Verbandsmaterial, Angelhaken. Damit im Ernstfall auch wirklich ein Fisch anbeißt, erklärt ein Überlebenshandbuch, wie die Nahrungssuche auf hoher See funktioniert. Schwer vorstellbar, dass man nach einem Flugzeugabsturz Lust zum Lesen hat. Aber besser als verhungern.

Nachdem sie alles begutachtet haben, sollen die Flugbegleiterinnen und -begleiter eine Atemschutzmaske anprobieren. Das silberfarbene Cape sieht aus wie eine Mischung aus Pandemie-Schutzanzug und Stahlwerk-Kutte. Es käme bei der Brandbekämpfung zum Einsatz, in echt hat es noch niemand benutzt. „Probiert es aus, helft euch gegenseitig“, sagt Patricia Lopez, die Instruktorin für diesen Teil des Lehrgangs. „Wir machen im Stressfall das, was unser Körper schon geübt hat.“
Als Nächstes nimmt die Ausbilderin ein Funkgerät in die Hand, eine gelbe Box mit ausklappbarer Antenne. Um sprechen oder zuhören zu können, muss man einen Knopf gedrückt halten. „Da kriege ich einen Krampf“, scherzt eine Flugbegleiterin. „Das ist im Notfall euer geringstes Problem“, antwortet Lopez. Sie fährt fort mit den Sauerstoff-Flaschen, die für Passagiere mit Schwindelgefühlen reserviert sind. Die kleinen Flaschen reichen für 30 Minuten, die großen für 75. Nicht zu verwechseln mit den Sauerstoffmasken, die bei einem Druckverlust von der Decke fallen. Lopez trichtert der Gruppe ein, selbst zuerst eine Maske aufzusetzen. „Jetzt müsst ihr ego sein. Im Notfall müssen wir erst gucken, dass es uns gut geht, bevor wir andere retten können.“
Die europäische Flugsicherheitsbehörde EASA und ihr internationales Pendant, die ICAO, schreiben vor, was in welchen Abständen geübt werden muss. Die Fluggesellschaften können darüber hinausgehen. Neben medizinischen Grundkenntnissen gehört die Brandbekämpfung zur Ausbildung, ebenso der Umgang mit renitenten Fluggästen. Aus Sicherheitsgründen gewährt die Swiss bei diesem Teil der Schulung aber keine Einblicke. Auch Fragen zur Terrorismusprävention und zu „Sky Marshals“ (Polizisten, die bestimmte Flüge begleiten) beantwortet die Airline nicht.
Zurück in Zürich. Zeit für einen weiteren Notfall! Im Schulungszentrum sind mehrere Flugzeugrümpfe nachgebaut, die Notrutschen hängen schon von den Türen. Bewegen kann sich der Simulator nicht, aber vor den Fenstern zieht eine digitale Startbahn vorbei: Take-off! Auch die Geräusche stimmen: Der Motor brummt, hin und wieder ertönt ein „Bing“ wie bei einem echten Flug. Ein Teil der Klasse spielt nun die Besatzung, der andere Teil die Passagiere (darunter auch ein unbegleitetes „Kind“).
Dann eine Durchsage: „Report to the flight deck!“ Der Captain fordert die leitende Flugbegleiterin auf, nach vorne zu kommen. Als sie zurückkehrt, schildert sie ihren Kolleginnen das Szenario: „Wir müssen notlanden. Ein Triebwerk ist kaputt, aber das sagen wir den Passagieren nicht. Wir sprechen nur von einem technischen Defekt.“
90 Sekunden für die Evakuierung

Danach muss alles schnell gehen. Schwimmwesten anlegen, Notfallposition einnehmen. „Brace! Brace! Brace!“ – Bereitmachen zum Aufsetzen! Eine Sirene ertönt, das Licht flackert. Wer durchs Fenster schaut, sieht das Wasser schwappen. 90 Sekunden hat die Besatzung nun Zeit, alle Passagiere zu evakuieren, auch dies ist gesetzlich vorgeschrieben – und weltweit eine Voraussetzung, dass Flugzeuge überhaupt zugelassen werden. Welche Kommandos die Flugbegleiter bei der Evakuierung geben, soll in diesem Artikel nicht geschrieben werden. Die Airline fürchtet, dass sich Fluggäste einen makabren Scherz auf Kosten der Sicherheit erlauben könnten.
Ein paar Minuten später ist alles vorbei. „Das habt ihr richtig gut gemacht!“, freut sich Instruktorin Lopez, die die Übung beobachtet hat. „Sogar das unbegleitete Kind habt ihr vor der Landung noch neben einen Erwachsenen gesetzt.“ Erschöpft, aber auch erleichtert verlässt die Gruppe den Simulator. Erleben werden sie eine solche Situation hoffentlich erst wieder im nächsten Jahr – wenn das Wiederholungstraining ansteht.