In Köln, Witten und München gibt es Fahrradbürgermeister. Ein offizielles Amt bekleiden die Ehrenamtlichen nicht. Können sie trotzdem etwas für den Radverkehr bewirken?

Vorm Kölner Hauptbahnhof ist die Hölle los. Touristen fuchteln mit Selfie-Sticks, Reisende hetzen zum Gleis, beschwipste Menschen sonnen sich vor dem Dom. Und dazwischen ein Fahrrad. Mit einem Bein auf dem Pedal, mit dem anderen auf dem Boden, rollert Reinhold Goss an Straßenkünstlern, Koffern und Bierflaschen vorbei. Der 58-Jährige trägt Jeans und T-Shirt. Auch sonst sieht er ziemlich locker aus: blaue Turnschuhe, Brille, zerzauste graue Mähne. Kein Helm.
„Ich bin niederländisch sozialisiert“, sagt Goss, womit er wohl einen ungezwungenen Umgang mit dem Drahtesel meint. Vor zwei Jahren hat ihn die niederländische Nichtregierungsorganisation BYCS zum „Fahrradbürgermeister“ von Köln ernannt – ein symbolisches Amt, mit dem keinerlei offizielle Befugnisse einhergehen. Der Verband möchte damit Personen ehren, die sich vor Ort für den Radverkehr starkmachen. Weltweit gibt es über 100 solcher „Bike Mayors“, zum Beispiel in Amsterdam, Kapstadt, Mumbai – und eben in Köln.
Verwaltung in Köln ist skeptisch
Doch was bringt ein solches „Amt“? Und können andere Städte davon lernen? Reinhold Goss, der hauptberuflich als IT-Berater arbeitet, möchte es bei einer Rundfahrt durch die Innenstadt demonstrieren. Zuerst die Kölner Ringe: eine mehr als sieben Kilometer lange Folge von zusammenhängenden Straßen, dicht befahren, hektisch, mit vielen Kreuzungen. Dass es auf einer der früheren Autospuren nun einen 2,75 Meter breiten Radweg gibt, liegt auch an Reinhold Goss. Nach mehreren tödlichen Radunfällen gründete er 2015 die Initiative „Ring Frei“, die sich für Tempo 30 und sichere Radwege einsetzte. „Nicht mal die Grünen wollten diese wichtige Verkehrsachse antasten“, sagt Goss. „Niemand dachte, dass wir mit unseren Forderungen Erfolg haben.“
Der Erfolg sprach sich herum: Erst gewann „Ring Frei“ den Deutschen Fahrradpreis; danach wurden die Niederländer auf Goss aufmerksam – und kürten ihn schließlich zum „Bike Mayor“. Doch ein Fahrradbürgermeister wäre kein Fahrradbürgermeister, wenn er sich mit dem Status quo zufriedengeben würde. Schon bei der kleinen Runde durch die Innenstadt fallen ihm mehrere beklagenswerte Straßenecken auf: hier ein schlecht markierter Radweg, da eine gefährliche Abbiegespur. „Da werde ich demnächst eine Bürgereingabe nach § 24 der Gemeindeordnung einreichen“, moniert Goss. Als jahrelanger Aktivist ist ihm das Prozedere vertraut, genau wie das Beamtendeutsch. Sein Eindruck: Der Titel „Bicycle Mayor“ verschafft ihm Gehör.
Andere sind da skeptischer. Beim Anruf in der Kölner Stadtverwaltung atmet der Pressesprecher erst mal tief aus. Man wisse doch schon, dass das kein richtiger Bürgermeister sei, oder? Schließlich habe ihn ein Interessenverband gewählt, nicht etwa die Bürgerinnen und Bürger von Köln. Auch Jana Kühl, Professorin für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaften, ist zwiegespalten: Natürlich gebe es mit dem ADFC und dem VCD bereits Verbände, die sich für die Interessen der Radfahrenden einsetzen. „Wenn eine Person diese Stimmen bündelt, kann das nur von Vorteil sein“, findet Kühl. Doch auch sie hadert mit dem Begriff: „Die demokratische Legitimation fehlt. Da stellt sich die Frage, ob ‚Bürgermeister‘ so passend ist.“
Köln hat auch einen offiziellen städtischen Fahrradbeauftragten, Jürgen Möllers. Er sieht die Sache entspannt. „In der Zivilgesellschaft gibt es sehr viele engagierte, auch ungeduldige Leute“, sagt Möllers. „Das ist normal und deshalb ist Herr Goss für uns auch keine Konkurrenz, sondern ein Partner.“ Regelmäßig treffe man sich zum Austausch, um den Radverkehr voranzubringen. Also gar keine Differenzen? „Wenn es die nicht gäbe, würde einer von uns seinen Job nicht richtig machen. Inhaltlich sind wir gar nicht weit auseinander, aber Herr Goss ist frei von den Zwängen eines Verwaltungsapparats.“ Ein Fahrradbürgermeister könne mal eben eine grüne Welle für Radler fordern. „Das ist dann aber nicht meine Baustelle, sondern geht über das Amt für Verkehrsmanagement. In einer Millionenstadt sind die Bereiche aufgeteilt.“
Weltweit haben derzeit über 100 Städte einen Fahrradbürgermeister oder eine Fahrradbürgermeisterin. In Deutschland sind es nur drei: Köln, Witten und neuerdings auch München. „Ich bin erst seit wenigen Wochen im Amt“, erzählt der Münchener Fahrradbürgermeister Martin Laschewski. Seine erste „Amtshandlung“ war die Moderation eines Lastenrad-Rennens. „Ich habe noch nicht das Standing, das ich mir wünsche“, räumt der 39-Jährige ein, der hauptberuflich eine mobile Werkstatt für Lastenräder betreibt. „Das meiste, was ich tue, lässt den Oberbürgermeister vermutlich kalt.“
Standing nicht wie gewünscht
In München wird derzeit ein Radentscheid umgesetzt, es gibt einen städtischen Radverkehrsbeauftragten und unzählige ehrenamtliche Aktivistinnen und Aktivisten. Wozu braucht es dann noch einen Fahrradbürgermeister? „Weil immer noch sehr viel zu tun ist“, antwortet Laschewski. „Ich schreie sofort, wenn ein Auto mit mir kuscheln will. Aber für Kinder ist es noch immer unheimlich gefährlich, Fahrrad zu fahren. Das muss sich ändern.“

Ist das Fahrradbürgermeister-Programm für Kommunen also eine willkommene Ergänzung – oder nervt es die Behörden eher? Der Deutsche Städtetag will sich auf Nachfrage nicht direkt dazu äußern. Ein Sprecher verweist auf das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu), das Kommunen in Mobilitätsfragen berät. „In anderen Ländern, wo Radfahren noch nicht so verbreitet ist, mag die Initiative sinnvoll sein“, sagt Difu-Mitarbeiter Thomas Stein. „Aber für Deutschland sehe ich sie als überflüssig an.“ Schon die offiziellen Fahrradbeauftragten dienten in manchen Gemeinden eher als Feigenblatt. Eine ehrenamtliche, in der Verwaltung nicht verankerte Einzelperson habe es da noch schwerer: „Da besteht die Gefahr, sich tot zu rennen.“ Bei Fortbildungen rate das Difu den Kommunen dazu, ihre Radverkehrsbereiche finanziell und personell gut auszustatten. „Damit bringt man die Sache voran.“
Zurück in Köln. Zum Abschluss steuert Reinhold Goss seinen Lieblingsort an, die Deutzer Freiheit. Die Einkaufsstraße ist seit Sommer 2022 autofrei, in den ehemaligen Parkbuchten stehen nun Blumenkübel. Der sogenannte Verkehrsversuch ist in Köln umstritten. Gewerbetreibende sorgen sich um ihre motorisierte Kundschaft, im Winter forderten Demonstrierende, die Autos wieder hereinzulassen. „Ist doch viel schöner so“, findet hingegen der Fahrradbürgermeister. Die Aufenthaltsqualität habe sich stark verbessert, der befürchtete Kundenschwund sei ausgeblieben. Und die Proteste? „Ein Generationenproblem“, sagt Goss. „Hier spielen die Alten auf Kosten der Jungen ihre Karten aus. Die CDU macht ganz krass Stimmung gegen das Projekt.“
Ende des Jahres geht die „Amtszeit“ von Goss als Fahrradbürgermeister vorbei. Ob die Deutzer Freiheit dann weiterhin frei von Autos ist, vermag er noch nicht abzuschätzen. Ein bisschen optimistisch sei er ja schon, „weil sich der Versuch bewährt hat“. Und langfristig? „Irgendwann haben wir hier Kopenhagener Verhältnisse“, hofft Goss. Optimismus gehört für einen Bürgermeister eben dazu – ob er nun von seinen Bürgern gewählt wurde oder nicht.