Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert weiter an. Während Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verteidigen, sind viele Frauen nach Deutschland geflüchtet. Drei Ukrainerinnen aus dem Saarland berichten über die Situation der Frauen in ihrem Heimatland, die hohe Belastung im Krieg und Herausforderungen für Geflüchtete.
Kateryna Haidarzhyi lebt seit Mai 2022 mit ihren zwei Kindern, acht und sechs Jahre alt, in Saarbrücken. Vorher lebte sie mit ihrem Mann und den zwei gemeinsamen Kindern in Mykolaiv, einer 480.000-Einwohner-Stadt im Süden der Ukraine. Die 37-Jährige ist zurzeit angestellt beim Verein UkraineFreundeSaar und lehrt Deutsch in einem Integrationskurs. Ab 1. März tritt sie eine Vollzeitstelle als Projektleiterin beim Verein UkraineFreundeSaar an.
Iryna Radchenko, 47, lebt seit Juni 2022 in Saarbrücken, vorher lebte sie in der Hauptstadt der Ukraine und arbeitete in der Stadtverwaltung der Hauptstadt Kiew, wo sie die Finanz- und Wirtschaftsabteilung im Bauamt leitete. Geflüchtet ist sie vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zusammen mit ihrer Mutter und der Familie ihres Cousins. In Saarbrücken angekommen, nahm sie an einem Integrationskurs teil und erlangte ein B1-Zertifikat. Momentan belegt sie einen B2-Deutschkurs. Seit Dezember ist sie eine in Teilzeit angestellte Mitarbeiterin des Projektes „Let‘s go to work“, das im Dezember vom Verein UkraineFreundeSaar gestartet wurde.
Dr. Lesya Matiyuk, geboren und aufgewachsen in Mykolaiv, ist im Alter von 19 Jahren wegen ihres Studiums nach Saarbrücken gezogen. Promoviert hat sie an der Universität des Saarlandes im Studienfach „Deutsch als Fremdsprache“. Heute ist sie ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende des Vereins UkraineFreunde Saar. Ihre Schwester Liliya Matiyuk, 44, die wegen des Krieges nach Deutschland aus Kyiv geflüchtet ist, koordiniert das Arbeitsmarktintegrations-Projekt „Let’s go to work“. Die 43-jährige Lesya Matiyuk leitet im saarländischen Wirtschaftsministerium die Abteilung Energie-, Industrie- und Dienstleistungspolitik.
Ein Ende des über zwei Jahre anhaltenden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist weiterhin nicht in Sicht. Was hat sich seit Kriegsbeginn für ukrainische Frauen verändert?
Lesya Matiyuk: Wir im Verein arbeiten mit sehr vielen Ukrainern vor Ort zusammen. Die Rolle der Frau hat sich ganz stark verändert. In der Ukraine und auch hier in Deutschland. Man muss bedenken, dass es ein breites Spektrum von Frauen gibt. Ukrainische Frauen, die vor Jahren in Deutschland eingewandert und ihren Weg gegangen sind, fühlen sich trotzdem verantwortlich zu helfen. Das ist sozusagen eine zusätzliche Verpflichtung für die, die hier leben. Auch die Rolle der in der Ukraine lebenden Frauen hat sich verändert, weil sie aktuell sehr stark belastet sind. Bei vielen fällt durch den Verlust von Haus oder Wohnung die Absicherung im Alter weg. Die Wirtschaft leidet sehr stark unter dem Krieg, viele verlieren ihren Arbeitsplatz. Außerdem arbeiten viele Selbstständige in der Ukraine und durch den Krieg verlieren sie ebenfalls ihre Einkommensquellen. Das betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Viele Frauen verlieren im Krieg ihre Männer, sodass sie zu Alleinversorgerinnen für ihre Familie werden. Unter ständigen Raketenbeschuss ist es für die Frauen extrem schwierig, das innere Gleichgewicht zu halten und zugleich ihren Kindern ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Für viele fühlt es sich so an, als wenn das Leben in jeder Sekunde vorbei sein kann.
Kennen Sie persönlich Frauen, die trotz des grausamen Krieges in der Ukraine geblieben oder geflohen sind?
Kateryna Haidarzhyi: Meine ganze Familie hält sich momentan in der Ukraine auf. Ich persönlich kenne sehr viele starke ukrainische Frauen, die in Mykolaiv geblieben sind. Mykolaiv ist eine Stadt im Süden der Ukraine, die nicht besetzt ist. Aber fast jeden Tag werden Bomben über der Stadt abgeworfen. Wenn man diese Bilder sieht, fühlt man sich so, als ob man selbst dort wäre. Meine Kollegin, die an der Universität arbeitet, versucht weiterzumachen, denn da sind Studierende, die auf Dozentinnen wie sie angewiesen sind. Die ehemalige Leiterin meines Lehrstuhls an der Uni in Mykolaiv hat auch zwei Söhne, die momentan studieren. Aber sie müssen jeden Tag damit rechnen, dass sie von der Armee einen Einberufungsbefehl erhalten. Es gibt auch Frauen, die in der Ukraine bleiben müssen, weil sie sich um Pflegefälle in der Familie kümmern. Der Krieg hat so viele Gesichter, die man nicht sieht.
Iryna Radchenko: Mein Bruder bleibt weiterhin mit seiner Familie, seiner Frau und den drei Kindern in der Ukraine. Obwohl sie die Möglichkeit hatte auszuwandern, will die Frau meines Bruders weiter bei einem Energieversorger arbeiten, denn gerade jetzt im Krieg ist die Arbeit dort sehr relevant. Gemeinsam haben sie sich entschieden in Kiew zu bleiben.
Lesya Matiyuk: Viele Menschen bleiben in der Ukraine nicht, weil sie müssen, sondern weil sie überzeugt sind, dass sie für das Richtige kämpfen. Die Menschen, die trotz Krieg in der Ukraine bleiben, fühlen sich eng mit ihrer Heimat verbunden. Wenn man mit Frauen in der Ukraine spricht, sagen sie, dass sie gebraucht werden und in ihren eigenen vier Wänden zu Hause sind. Das hat man gemerkt, als beispielsweise im November Avdiivka evakuiert wurde. Bis zum letzten Moment harren sie aus, weil sie sagen „Noch habe ich hier mein Zuhause“. Manche bleiben, um ihren Männern im Dienst Mut zu machen, zum Beispiel denen, die für die Feuerwehr arbeiten.
Müssen ukrainische Frauen, seit sich ihr Land im Krieg befindet, mehr Aufgaben übernehmen?
Kateryna Haidarzhyi: Ganz viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben das Land verlassen, aber um den Lehrplan umzusetzen, braucht man Leute. Wer macht das? Natürlich sollen das die Frauen machen, die im Land geblieben sind. Das machen sie so gut wie sie es können. Die Kindergärten sind in vielen Regionen der Ukraine geschlossen. Das heißt, wenn man ein Kind unter sechs Jahren hat, kann man es nirgendwo abgeben, um etwa in Ruhe arbeiten zu können. In Mykolaiv haben sie versucht einige Kindergärten zu öffnen. Allerdings mussten die Gebäude so umgebaut werden, dass im Notfall die Kinder im Keller vor Bombenangriffen geschützt sind. In diesen umgebauten Kindergärten gibt es nicht genügend Plätze. Der Schulbetrieb wurde auch eingestellt, der Unterricht findet teilweise online statt. Das bedeutet für eine Frau, deren Mann nicht da ist, dass sie belastet ist mit Kinderbetreuung, Arbeit und Haushalt.
Lesya Matiyuk: Die Anzahl der Vereinsgründungen in der Ukraine ist seit 24. Februar 2022 in die Höhe geschnellt. Teilweise handelte es sich um „One-Man-Shows“, denn die Männer wurden dadurch davor bewahrt, vom Militär eingezogen zu werden. Viele von ihnen haben sich als gemeinnützige Vereine angemeldet, um humanitäre Hilfslieferungen transportieren zu dürfen und nicht kämpfen zu müssen. Auch viele Frauen engagieren sich nebenberuflich im Ehrenamt, indem sie etwa Grabkerzen und Tarnnetze herstellen. Die Ukraine ist glücklicherweise ein großes Land. Die Aufgaben in den einzelnen Regionen sind ganz verschieden. Zum Beispiel steht der Westen der Ukraine, insbesondere die Verwaltung und die dortige Bevölkerung, vor der Aufgabe, die Binnenflüchtlinge aufzunehmen. Viele haben sich in den weniger umkämpften Regionen an den jeweiligen Bedarf angepasst und mit neuen Aufgaben ausgerüstet: Zum Beispiel wird dringend Wohnraum gesucht. Also sind viele Menschen aktuell in der Immobilienverwaltung tätig.
Von der Ukraine ins Saarland: Laut Ausländerzentralregister halten sich hierzulande 1,133 Millionen Kriegsflüchtlinge auf. Unter den Erwachsenen sind demnach etwa 65 Prozent Frauen, 34 Prozent Männer und 1.850 Personen sind divers beziehungsweise mit unbekanntem Geschlecht. Im Februar 2024 lebten im Saarland 15.417 Geflüchtete aus der Ukraine. Vor welchen Herausforderungen stehen sie?
Kateryna Haidarzhyi: Die meisten Frauen in der Ukraine sind berufstätig. In unserer Kultur ist es normal, wenn eine Frau arbeitet. Ich selbst habe fast mein ganzes Leben gearbeitet, zuerst an der Universität, danach als Selbstständige. Als ich nach Deutschland kam, fehlte mir ein soziales Netz, das mich auffängt. Ich konnte mir erst einmal nicht vorstellen, wie ich eine Anstellung finden soll. Damals half mir Lesya Matiyuk, mein Leben hier aufzubauen. Sie unterstützte mich emotional und sagte mir, dass ich alles schaffen werde. Für mich war es völlig selbstverständlich, dass ich hier in Deutschland arbeite. Ich habe zwei Söhne, die damals sechs und vier Jahre alt waren, und für die ich immer ein Vorbild war. Mein Mann war seinerzeit in der Ukraine. Aber die erste Zeit ohne Eltern, Arbeit und finanzielle Unterstützung war sehr frustrierend für mich.
Hat die Sympathie und Hilfsbereitschaft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine nachgelassen?
Kateryna Haidarzhyi: Als ich mit meinen Söhnen hier angekommen bin, haben wir so viel Unterstützung auf unterschiedlichen Ebenen erfahren. Ich habe zusammen mit meinen Söhnen 15 Monate bei einer Gastfamilie gewohnt. Meine Söhne können sehr laut sein. Unsere Gastfamilie hatte sehr viel Geduld mit uns. Die Erfahrungen mit Behörden sind allerdings individuell ganz verschieden. Es gibt Erfolgsgeschichten mit Jobcentern und manche, die extra Unterstützung benötigten, wenn sie nicht verstanden haben, wie das System funktioniert.
Lesya Matiyuk: Ich würde hier differenzieren. Zu Spitzenzeiten, als die ukrainischen Flüchtlinge 2022 in einer großen Welle zu uns kamen, haben unseren Verein bis zu 250 freiwillige Helferinnen und Helfer unterstützt. Im Saarland lebt aktuell eine ukrainische Community von rund 15.000 Menschen. Das lag daran, dass wir die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in enger Kooperation mit den kommunalen und Landesträgern in vielerlei Hinsicht unterstützt haben.
Inwiefern haben Sie die Kriegsflüchtlinge unterstützt?
Wir haben sie unter anderem mit Orientierungsangeboten, bei der Wohnungssuche, beim Einrichten der Wohnungen, Anmeldungen bei allen notwendigen Behörden, Anmeldungen der Kinder in Kitas und Schulen, Arztbesuchen, Übersetzungen von Unterlagen und der Suche nach juristischer Hilfe unterstützt. Damals haben wir sehr viele Helfer gebraucht. Wir haben auch eine Facebook-Gruppe gegründet, die mittlerweile über 15.000 Follower hat, die sich auch gegenseitig mit Ratschlägen unterstützen können. Die Hilfe zur Selbsthilfe war auch unser Ziel. Jetzt kommen nur noch wenige neue Leute dazu. Bei den ersten Schritten im Saarland braucht es aus unserer Sicht keine weitere große Unterstützung im Ehrenamt, da ja auch die Hilfe über unsere Social-Media-Kanäle gut funktioniert. Nun sind die Themen der Gesellschafts- und vor allem der Arbeitsmarktintegration zentral. Und dazu werden aktuell neue Helferinnen und Helfer benötigt. Grundsätzlich sind wir im Saarland sehr empathisch und hilfsbereit. Wenn es nottut, hilft man sich gegenseitig.
Können Sie erläutern, wo das Projekt „Let’s go to work“ des Vereins UkraineFreundeSaar ansetzt?
Lesya Matiyuk: Unser Ziel ist es, so viele Menschen wie möglich dazu zu bewegen, das Arbeitspotenzial der Ukrainerinnen und Ukrainer zu nutzen – aufseiten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Deshalb sprechen wir Arbeitgeber im Saarland direkt an und versuchen potenzielle Arbeitnehmer unter den ukrainischen Flüchtlingen zu motivieren mitzumachen. Wir dürfen nicht vergessen: Jeden Tag, an dem ein Mensch nicht arbeitet, büßt er seine Arbeitsqualifikationen ein. Und jeden Tag, an dem ein Mensch arbeitet, qualifiziert er sich weiter. Das ist unser Grundprinzip: Je schneller man in ein Arbeitsverhältnis kommt, desto schneller kann die Integration gelingen.
Wie ist das Projekt bisher angelaufen?
Kateryna Haidarzhyi: Das Projekt ist erfolgreich angelaufen. Wir nutzen verschiedene Kanäle, um die Menschen für unser Projekt zu motivieren. Wir sind stark präsent auf Facebook und Instagram. Da sprechen wir über die Möglichkeiten auf dem saarländischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Zum Beispiel gehen wir im Februar mit Sondermaßnahmen die Chancen für Leute durch, die in der Ukraine in der Metallindustrie beschäftigt waren. Weitere Berufsgruppen folgen in den kommenden Monaten. Die Arbeitgeber und die ukrainischen Flüchtlinge, die zu uns kommen, können bei uns einen Fragebogen ausfüllen, wo wir etwa den Fachkräftebedarf einerseits und Qualifikations- und Kompetenzprofile andererseits abfragen. Die Daten nehmen wir datenschutzkonform auf. Danach suchen wir nach einem optimalen Match.