Boris Pistorius ist neuer Verteidigungsminister. Er folgt auf die glücklose Christine Lambrecht. Die nächste Personalentscheidung im Kabinett von Olaf Scholz ist bereits absehbar.
Am Ende hat Bundeskanzler Olaf Scholz einen Überraschungscoup gelandet. Boris Pistorius stand bei keinem derjenigen, die tagelang in den Hauptstadtredaktionen über die Lambrecht-Nachfolge diskutiert und gegrübelt hatten, auf dem Zettel. Nun wird der 62-jährige bisherige niedersächsische Innenminister ein Amt übernehmen, um das ihn nicht allzu viele beneiden werden. Über Aufgaben, Profil und Herausforderungen ist viel analysiert worden im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Christine Lambrecht, die dieser Aufgabe offenbar nicht gewachsen war. Selbst ihr Rückzug war ein quälender, tagelanger Prozess.
Über 50 Stunden nach der Erstmeldung in den Nachrichtenagenturen kam ihr offizielles Rücktrittsgesuch. Eine schriftliche Meldung des Bundesverteidigungsministeriums montags nach einem langem Wochenende, zu mehr hatte es am Ende nicht gereicht. Es sei die „mediale Fokussierung“ auf ihre Person gewesen, die es ihr unmöglich mache, im Sinne der Soldatinnen und Soldaten zu handeln, so die Verteidigungsministerin in ihrer vorerst letzten Verteidigungsrede. Von eigenen Fehlern spricht Lambrecht dagegen nicht.
Die Meldung kam dann nicht mehr überraschend. Olaf Scholz war gerade zu einem Termin an der Ostseeküste unterwegs, mit dem das Kanzleramt in Sachen Krisenbewältigung ganz andere Akzente setzen wollte. Vor Lubmin ging Mitte Januar der zweite schwimmende LNG-Terminal in Betrieb. Endlich mal wieder positive Bilder vom Regierungshandeln, Olaf Scholz persönlich öffnet das Sperrventil für weiteres Flüssiggas in diesem Winter. Die Botschaft dieses Auftritts: Die Ampelregierung hat die Gas- und Energiekrise schon zu Beginn dieses Winters in den Griff bekommen. Mit der Inbetriebnahme des zweiten LNG-Terminals innerhalb weniger Wochen werden nun bereits zehn Prozent des Deutschen Gasverbrauchs durch Flüssiggas gedeckt, noch im Herbst schien dies undenkbar.
Doch die Kanzleramtsregie schien durch die Personalentwicklungen unterlaufen zu werden. Alles schien darauf fokussiert, wann und und in welcher Form die glücklose Ministerin den erwarteten Abschied einreichen würde. Das zweite LNG-Terminal interessierte damit nur noch peripher. Dass ihr Rücktritt den Kanzlerbesuch in Lubmin überschattete, kann auch als Revanche Lambrechts gegenüber Scholz verstanden werden. Der hatte seine Verteidigungsministerin gerade erst im November mit einem Munitionsgipfel im Kanzleramt brüskiert. Scholz übernahm öffentlich damals auch noch Teile der Aufgaben seiner Verteidigungsministerin, nachdem bekannt geworden war, dass Heer, Marine und Luftwaffe bei einem möglichen Angriffsfall bereits am zweiten Tag ohne Munition dastehen würden. Eigentlich hätte Lambrecht da schon die Reißleine und persönliche Konsequenzen ziehen müssen.
Dass die Verteidigungsministerin nicht länger zu halten ist, war spätestens nach ihrer von vielen Beobachtern als unsensibel wahrgenommenen Silvesterbotschaft im Böllerhagel von Berlin-Mitte klargeworden. Selbst wohlmeinende Genossen wandten sich in den ersten Januartagen von ihr ab.
Seither überschlugen sich im politischen Berlin die Spekulationen, wer denn nun die Nachfolge antreten könnte.
Dass einer der oft genannten Männer (Hubertus Heil, Jens Klingbeil, Wolfgang Schmidt) die Aufgabe übernehmen könnte, schien vielen als ausgeschlossen, schlicht weil es dem Geschlechterproporz widersprochen hätte, den Scholz bei der Kabinettsbildung versprochen hatte.
Der Kanzler ließ die Medien noch etwas zappeln, erklärte am Tag des Lambrecht-Rücktritts nur: „Ich habe eine klare Vorstellung und das wird sehr schnell für alle bekannt werden, wie das weitergehen soll.“
Erst tags darauf war klar, dass Boris Pistorius die ebenso verantwortungsvolle wie undankbare Aufgabe übernehmen und gleich ins kalte Wasser springen sollte. Noch nicht vereidigt, musste er sich bereits auf höchsten Besuch vorbereiten. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin wurde in Berlin erwartet und tags darauf trifft sich die Ukraine-Kontaktgruppe zu der Konferenz auf der US-Airbase in Ramstein, um weitere (militärische) Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russischen Angriffe zu beraten.
Scholz bezeichnete Pistorius als einen „herausragenden Politiker unseres Landes“, der „mit seiner Kompetenz, seiner Durchsetzungsfähigkeit und seinem großen Herz genau die richtige Person ist, um die Bundeswehr durch diese Zeitenwende zu führen“.
Zeitenwende für die Bundeswehr umsetzen
Die personelle Neubesetzung des Verteidigungsministeriums ist natürlich per se kein Allheilmittel gegen all das, woran die Bundeswehr bekanntermaßen schon lange krankt, kann es auch nicht sein. Seit über 30 Jahren war die Bundesrepublik noch nie so von einem Kriegsgeschehen betroffen wie seit dem 24. Februar vergangenen Jahres, dem Beginn des Ukrainekrieges. Die grundsätzliche Sicherheitsarchitektur Deutschlands bei sicherheitspolitischen Entscheidungen ist im Ernstfall zweigeteilt. Auf der einen Seite ist das Bundesverteidigungsministerium zuständig. Doch im derzeitigen Ernstfall gibt es noch den Bundessicherheitsrat, der im Kanzleramt angesiedelt ist. Chef ist neben Olaf Scholz dessen Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, der engste Vertraute des Kanzlers. Ob nun im Zuge der Neusetzung der Ministeriumsspitze auch ein anderer Geist in die Debatten um Waffenlieferung (Stichwort Kampfpanzer) kommen wird, ist noch offen. Der Druck auf die Bundesregierung auch von den Nato- und EU-Partnern ist unverkennbar, dabei bräuchte sich Deutschland gar nicht zu verstecken, ist es doch nach den USA und Großbritannien drittgrößter Unterstützer der Ukraine.
Für Olaf Scholz, so darf mit einiger Berechtigung angenommen werden, kam der Zeitpunkt der Personalentscheidung nicht sonderlich gelegen. Vermutlich dürfte er nach dem ersten Regierungsjahr an einem umfangreicheren Personaltableau gearbeitet haben. Eine Umbildung sozusagen aus einem Guss, die womöglich Anfang Februar angesagt gewesen wäre. Schließlich wird schon länger auch über eine weitere Personalie spekuliert. In diesem Fall aber nicht wegen Erfolglosigkeit, sondern ganz im Gegenteil. Innenministerin Nancy Faeser hat sich zu einem Aktivposten in der Ampel-Koalition entwickelt, damit an Statur und Bekanntheitsgrad deutlich gewonnen.
Viel spricht also dafür, dass sie als Spitzenkandidatin in den hessischen Landtagswahlkampf ziehen könnte, um das in der Vergangenheit lange als rot geltende Hessen wieder für die Sozialdemokraten zurückzugewinnen. Seit jetzt 23 Jahren wird Hessen von einem CDU-Ministerpräsidenten geführt, aktuell in einer schwarz-grünen Koalition. Faeser war bis zu ihrem Wechsel in die Bundespolitik Oppositionsführerin. Mit ihr als Spitzenkandidatin rechnet sich die SPD ernsthafte Chancen auf einen Wechsel aus.
Gewählt wird in Hessen am 8. Oktober, zeitgleich mit der Wahl in Bayern. Der Wahltag in diesen beiden großen Ländern dürfte in diesem Jahr ein entscheidender Stimmungs-Halbzeittest für die Ampel-Koalition werden.
Für Faeser würde eine Spitzenkandidatur das Ausscheiden aus der Bundespolitik bedeuten. Am ersten Februar-Wochenende soll ein Parteitag über die Aufstellung der Hessen-SPD entscheiden.
Für Scholz wäre also naheliegend gewesen, die Personalfragen in einem Aufwasch zu klären. Aber Lambrecht war offensichtlich nicht mehr länger zu halten.
Der Spekulation um deren – jetzt geklärte – Nachfolge folgt nun die nächste Personalspekulation.
Für die SPD wird es in der Tat nun spannend, wie sie nach der Entscheidung für Pistorius, die die Arithmetik durcheinander gebracht hat, bei den nächsten Entscheidungen die notwendigen Proporze austariert.