Seilbahnen kennt man vom Bergurlaub. Doch das touristische Verkehrsmittel gerät immer mehr in den Fokus von Stadtplanern: als klimafreundliche und preiswerte Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehr. Auch in Deutschland – wo man entsprechende Vorhaben seit Kurzem sogar offiziell fördern möchte.

Warum fahren, wenn man auch über den Dingen schweben kann? Im bolivianischen La Paz zählt das zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten. In der Hauptstadt Boliviens, eingenistet in einer tiefen Schlucht der Anden, gleiten die Gondeln der „Mi Teleférico“ aus dem Tal ins höher gelegene El Alto. Der Höhenunterschied beträgt an die 1.000 Meter. 2014 wurde die erste Linie eröffnet. Wer von der Talstation Taypi Uta nach oben gondelt, hat einen der spektakulärsten Ausblicke des Landes: das Hochgebirgspanorama und das Häusermeer unter den Füßen. Dies hat die Seilbahn zur Touristenattraktion par excellence gemacht. Doch schaut man auf den mittlerweile zehn Linien umfassenden Streckennetzplan, bemerkt man: „Mi Teleférico“ zählt zum Nervensystem des öffentlichen Personennahverkehrs.
Leise und sparsam im Betrieb
Die mit einer Trassenlänge von etwa 33 Kilometern längste Seilbahn der Welt, die täglich mehr als 300.000 Fahrgäste befördert, darunter viele Pendler, ist das Paradebeispiel, das Fachleute anführen, wenn es um das über den Dingen schwebende Verkehrsmittel geht. Aber es ist nicht das einzige: In Mexiko-Stadt oder den kolumbianischen Städten Bogotá und Medellín entstanden Seilbahnnetze. „Auch in Indien und China wird die Seilbahn immer mehr als ergänzendes Element für den ÖPNV wahrgenommen“, sagt Sebastian Beck, Infrastrukturexperte bei Drees & Sommer. Das Beratungsunternehmen hat im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums (BMDV) zusammen mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart einen Handlungsleitfaden entwickelt. Er soll deutschen Städten und Kommunen bei der Planung von Seilbahnvorhaben helfen. Der Bund spendiert sogar Geld: Seilbahnen wurden als förderungsfähige Vorhaben in das Gesetz zur Gemeindeverkehrsfinanzierung (GVFG) aufgenommen.
Seilbahnen seien ein nachhaltiges, effizientes und kostengünstiges Verkehrsmittel, das sich hervorragend in öffentliche Verkehrssysteme integrieren lasse, sagt Harry Wagner. Der Professor für Intermodale Mobilität und KI an der Technischen Hochschule Ingolstadt hielt auf der Kongressmesse Cable Car World, die im Juni 2022 auf dem Messegelände in Essen erstmals stattfand (nächste Ausgabe vom 4. bis zum 5. Juni 2024), die Keynote: „In allen Städten mit Verkehrsproblemen hätte die Seilbahn großes Potenzial.“ In Ballungsräumen, wo Bus und Bahn zu Stoßzeiten überlastet sind und die Menschen aufs Auto umsteigen und damit auch die Straßen verstopfen, könnten zum Beispiel Pendlerstaus aufgelöst werden.

Beispiel Ingolstadt: „In der Früh wollen alle über die Donaubrücken zum Audi-Werk“, sagt Wagner. „Hier wäre die Seilbahn prädestiniert, um entspannt über den Fluss zu kommen.“ Auch in München wäre das an dicken Seilen hängende Verkehrsmittel ideal, um die Innenstadt über Hindernisse am Boden hinweg mit weiter außen liegenden Bezirken zu verbinden: „München ist schlecht aufgestellt. Es gibt fast nur radiale, aber kaum tangentiale Verkehrsverbindungen.“
Zu den größten Vorteilen von Seilbahnen zählt: Sie werden elektrisch betrieben – und wird dafür Ökostrom verwendet, sind sie ein klimafreundliches Verkehrsmittel, betont Experte Beck. Das gilt zwar auch für U- und Straßenbahnen oder E-Busse, die im Betrieb ebenfalls keine Abgasemissionen verursachen, aber die Himmelstram ist nicht nur leiser im Betrieb, sondern zusätzlich sparsamer.
Durchschnittlich 5,8 Kilowattstunden (kWh) pro 100 Passagierkilometer benötigt sie, schreibt die Beratungsfirma PwC in einer Studie: „Bei U-Bahnen sind es 11,6 kWh, bei Straßenbahnen mit 12,5 kWh mehr als doppelt so viel.“ Matthias Nüßgen von der NGO Eurist (European Institute for Sustainable Transport) zieht zum Vergleich ein einzelnes E-Auto heran: „Durch die konstante Belastung ohne viele Brems- oder Beschleunigungsvorgänge können für den Betrieb Elektromotoren eingesetzt werden, die bei kleinen Systemen ohne nennenswerte Steigung nur wenig mehr Leistung haben müssen als der Motor eines großen Elektroautos.“
Zusammen mit einem hohen Automatisierungsgrad im Betrieb fallen die Kosten auch bei Personal und Tickets. Weil Seilbahnen zu Betriebszeiten kontinuierlich fahren und keinem getakteten Fahrplan folgen, zählen sie auch zu den pünktlichsten Verkehrsmitteln. „Die Seilbahn fährt immer“, sagt Professor Wagner. Ausfälle gibt es nicht, allenfalls kurze Verzögerungen. Es vergeht meist keine Minute, bis die nächste Gondel in die Station eintrudelt.
Selbst die Hersteller von Seilbahnen sehen in dem Überflieger-Verkehrsmittel aber kein Allheilmittel, sondern eine Ergänzung, wenn andere an Kapazitätsgrenzen stoßen. „Es geht darum, periphere Randlagen anzubinden und das bestehende ÖPNV-Angebot zu erweitern, beispielsweise im Bereich von Messegeländen, Flughäfen, Gewerbe- oder Neubaugebieten“, sagt Sebastian Beck. Die Seilbahn solle Lücken schließen, entlasten, verlängern, überbrücken.
Kostengünstiger als S- und u-Bahn
Damit eigne sich das je nach technischer Umsetzung an bis zu drei dicken Drahtseilen geführte Verkehrsmittel besonders für Park and Ride, also das Konzept großer Sammelparkplätze, wo die Passagiere in öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. „Viele Fahrgäste sind vom herkömmlichen Park and Ride abgeschreckt, weil sie zum Beispiel an der Bushaltestelle warten müssen“, sagt Intermodalitäts-Experte Wagner. Mit der Seilbahn hätten sie Gewissheit, fast unmittelbar mitgenommen zu werden.
Zudem ist der Variantenreichtum der Gondeln groß, sie können barrierefrei und für den Fahrradtransport gestaltet werden. Je nach Bauart und Größe steigen zwischen sechs und 200 Personen auf einen Schlag zu, heißt es bei PwC. Bei der Beförderungsleistung ergibt sich dennoch ein geteiltes Bild: Bei dem Verkehrsmittel Bus liegt sie laut Professor Wagner niedriger, doch U-Bahnen könnten rund zehnmal so viele Menschen je Stunde transportieren.

Seilbahnprojekte sind aber auch günstig und schnell umsetzbar: Je Trassenkilometer sind laut Prof. Wagner rund fünf bis sieben Millionen Euro anzusetzen, beim Bau von Straßenbahnnetzen läge der entsprechende Richtwert bei 25 Millionen, bei U-Bahnen bei 250 bis 300 Millionen. Allerdings ließe sich, wie generell im Zuschussgeschäft ÖPNV, auch mit dem Betrieb von Seilbahnen kein Geld verdienen. „Aber man spart Abgase ein und die Kosten anderer Baumaßnahmen, die durch die Seilbahn womöglich entfallen. Man muss das große Bild sehen.“ Ein Seilbahnprojekt könne binnen 18 Monaten auf die Pfeiler gestellt werden, der Bau von U-Bahn-Linien von ersten Plänen bis zur Fertigstellung dauere in etwa 15 Jahre.
So vergingen von der Planung bis zur Eröffnung der im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2012 eröffneten London Cable Car nur wenige Jahre. Auch sie zeigt, dass sich Transportzweck und Touristenattraktion nicht ausschließen. In der britischen Hauptstadt nutzen jährlich rund 1,5 Millionen Fahrgäste die Seilbahn, auch hier gondelt man in toller Skyline-Kulisse über die Themse. Und andernorts in Europa wurden schon Nägel mit Köpfen gemacht. „Toulouse verfügt seit dem vergangenen Jahr über die längste städtische Seilbahn Frankreichs“, sagt Sebastian Beck. In Brest ist eine Seilbahn Teil des ÖPNV, in Paris befindet sich eine im Bau, die 2025 fertig sein soll.
Und in Deutschland? Aktuell gibt es hierzulande „noch kein realisiertes oder genehmigtes Projekt einer urbanen Seilbahn als Teil des ÖPNV“, sagt Janosch Neumann, Rechtsanwalt in Essen und Lehrbeauftragter für Bauplanungs- und Bauordnungsrecht. Sebastian Beck ergänzt: „Aktuell ist die Seilbahn bei Verkehrsplanern noch nicht standardmäßig im Werkzeugkasten enthalten, aber aufgrund der genannten Vorteile rückt sie seit einiger Zeit immer stärker in deren Fokus.“
Laut Beck erfahre das Thema vor allem in Nordrhein-Westfalen Aufwind – so in Bonn, wo eine Trasse von gut vier Kilometern über fünf Stationen geplant wird, oder in Herne, wo eine Seilbahn ein neues Mega-Zentrum für Unternehmen, Forschung und Wissenschaft mit dem Hauptbahnhof Wanne-Eickel verbinden soll. „In weiteren Städten wie Stuttgart, Hamburg, Düsseldorf oder Köln sowie in den Metropolregionen München und Rhein-Neckar sind bereits Machbarkeitsstudien in Arbeit oder abgeschlossen.“
Doch so schnell, wie es möglich wäre, eine Seilbahn zu bauen, scheint es nirgends voranzugehen. In mancher Stadt sind allein die Pläne mehrere Jahre alt. Das Verkehrsmittel, das imstande ist, Hürden zu überwinden, stößt in Deutschland selbst auf Hindernisse: Das Potenzial würde „durch die langwierigen Planungsverfahren und die weiterhin zögerliche Haltung der deutschen Öffentlichkeit bisher zunichte gemacht“, kritisiert Verfechter Nüßgen.
Risiko durch Wind wird überschätzt

So scheiterte in Hamburg 2014 ein Seilbahnprojekt an einem Volksentscheid. Die Pläne sahen eine Verbindung von St. Pauli über die Elbe und auf die andere Hafenseite vor, die Gegner sahen das Stadtbild bedroht. Gegen den Neubau der Nebelhornbahn in Oberstdorf klagte ein Anwohner, der Schattenwurf durch die Kabinen befürchtete und dass die Fahrgäste von oben in seine Wohnung blicken könnten – bekam aber kein Recht.
Gegner von Seilbahnprojekten führen auch immer wieder Höhenangst und Windanfälligkeit an. Litten Fahrgäste an Phobien, sei das nicht wegzudiskutieren, sagt Professor Wagner, allenfalls könne sich das Leiden in Einzelfällen relativieren, da Seilbahnen in Städten oft nicht so hoch über dem Boden führen wie in den Bergen. Dass die Gondelfahrten stärker als andere Verkehrsmittel witterungsabhängig seien, ist laut Wagner aber ein Scheinargument. „Die Winde, die wir in Städten messen, sind mit denen in den Alpen oft gar nicht zu vergleichen.“ Moderne Systeme ermöglichen einen Betrieb selbst bei Windgeschwindigkeiten von mehr als 100 km/h. Vor allem 3S-Bahnen, also solche, die an drei Seilen geführt werden, zeichneten sich durch hohe Windstabilität aus, sagt Sebastian Beck.
In puncto Sicherheit scheint den Skeptikern ohnehin der Wind aus den Segeln genommen: Im Vergleich mit verschiedenen Verkehrsträgern weise die Statistik für Seilbahnen ein „extrem niedriges Risiko eines tödlichen Unfalles“ aus, sagt Georg Schober, Leiter der nach eigenen Angaben in diesem Bereich führenden Seilbahnprüfstelle des Tüv Süd. Durch die „eigene Fahrbahn“ in der sogenannten 1+-Ebene seien „mögliche Gefährdungen und Interaktionen mit anderen Verkehrsteilnehmern oder Störquellen weitestgehend ausgeschlossen“. Im Klartext: Dass jemand von einer Seilbahngondel überfahren wird, ist unmöglich – bis auf theoretisch denkbare Zwischenfälle beim Zu- und Ausstieg.