In Polen isst man gerne deftig. Besonders in den nördlichen Woiwodschaften, geprägt von Ostsee, Wäldern und den großen Seenplatten, geht der Trend jedoch zu leichtem Essen aus regionalen Produkten – gewürzt mit Tradition und Kreativität.
Barszcz und Bigos, Flaki und Pierogi heißen die Gerichte, die jeden noch so weltgewandten Polen sofort an seine Kindheit und Omas Kochkunst denken lassen. Vergessen hatte man die alten Schätze nie. Vielmehr wurden sie verdrängt. Bot doch die Zeit nach dem Kommunismus viel Gelegenheit für kulinarische Entdeckungen von anderswo. Inzwischen gibt es Köche, die Krautschmortöpfe, Kuttelsuppe und ihr ganzes Erbe neu entdecken. Mit Leidenschaft, Geschick und Kreativität machen sie die Klassiker zum trendigen Slow Food – dem bewusst langsamen Essen und Genießen.
Wenn das „Piwna 47“ leer ist, was eigentlich nur außerhalb der Öffnungszeiten vorkommt, wirkt es fast ein wenig trist mit seinen schlichten Möbeln. Doch das ist Absicht. Denn komplett ist die moderne Ess- und Trinkbar in der Danziger Altstadt erst mit ihren Gästen. In jedem Outfit bringen sie das graue Holz des Interieurs zur Geltung – ebenso wie die servierten Speisen.
Konzept orientiert an Slow Food
Ob die von Roter Bete mit Rahm leuchtend pink gefärbte kalte Sommersuppe mit lila-gelben Stiefmütterchenblüten oder der gebackene Zander, dessen knusprige Haut golden glänzt: Alles sieht so schön aus, dass man sich kaum traut, es mit Löffel, Gabel oder Messer zu zerstören. Doch wenn der erste Bissen erst am Gaumen kitzelt, gibt es kein Zurück. Das Äußere ist der Geschmackslust nicht so wichtig. Nun zählen die inneren Werte des Gerichts. Und bei denen baut man hier wie vielerorts in Pommern auf unbedingte Frische und Regionalität. „Wir wollen unseren Gästen die Geschichte jedes Essens genau erzählen können“, sagt Marcin Faliszek und spricht damit für viele gleichgesinnte Köche. Früher selbst Küchenchef im „Piwna 47“, kreiert er seine Kulinarikwerke seit 2020 im „Gdański Bowke“.
Ihm sei es wichtig, die Herkunft der Produkte gut zu kennen. Die allermeisten stammen von Erzeugern aus der Gegend. „Das hilft, kleine Landwirtschaftsbetriebe zu erhalten, und schont obendrein die Umwelt, weil die Wege kurz sind“, sagt Faliszek. Sein Anspruch entspricht dem von Slow Food. Die 1989 von dem Italiener Carlo Petrini initiierte internationale Bewegung für gute, saubere und faire Gastronomie hat in Polen Fuß gefasst. Die Organisation „Gdańsk-Pomorskie Culinary Prestige“ etwa vereint Akteure, die nach dem Konzept von Slow Food arbeiten und ihre Angebote gemeinsam vermarkten.
Einer ihrer führenden Köpfe ist Grzegorz Labuda. Der ehemalige Küchenchef einiger der besten Restaurants von Trójmiasto („Dreistadt“: Gdańsk-Sopot-Gdynia) kocht seit 2019 in seinem eigenen Gourmetlokal „Chmielna“ im Herzen der Danziger Altstadt. „Seit meiner Kindheit koche ich und experimentiere mit Lebensmitteln“, erzählt der 45-Jährige. Sein allererstes Werk vollbrachte er im Alter von zehn Jahren: selbst gemachte Meerrettich-Kartoffelchips. Später lernte er sein Handwerk bei Frankreichs Starkoch Alain Ducasse. Mittlerweile zählt Labuda zur Kochelite Polens. Sein Leibgericht sind Matjes mit Kartoffeln.
Geschmack der Produkte betonen
„In der Fangzeit zwischen Mai und Juni genießen wir in Polen den jungen Hering vor allem mariniert. Ich mag ihn als Hack am liebsten“, verrät der bodenständige Küchenmeister. Für seine Hering-, Kabeljau- und Ostseelachs-Tartare, Heilbutt-Suppen und Forelle-Kreationen ist er ebenso berühmt wie für seine Kräuterrippchen oder Kalbsbries mit Pfifferlingen.
Ganz gleich, ob Fisch, Gemüse oder Fleisch: Grzegorz Labuda ist es wichtig, dass in erster Linie alles nach sich selbst schmeckt. Ihm als Koch obliege lediglich, den geschmacklichen Charakter zu erkennen und zu verfeinern. „Darum müssen die Produkte einfach gut sein“, beteuert der Experte. Immer wieder stöbert er in alten Büchern nach pommerschen und polnischen Rezepten, um sie mit zeitgemäßen eigenen Ideen zu neuem Leben zu erwecken.
Genügend Stoff zum Ausprobieren biete nach Labudas Meinung die reiche Küche seines Landes. Mischten sich doch hier im Laufe der Zeiten polnische, jüdische und deutsche, litauische und ukrainische Einflüsse. Ja, selbst die Ess- und Küchentraditionen der Tataren gesellten sich hinzu. Einflüsse aus dem Orient steuerte der Handel mit Gewürzen bei. Für Koch-Know-how aus westlichen Kulturen sorgte der Kontakt der Klöster sowie ab 1518 Polens Königin Bona Sforza, die aus ihrem Geburtsland Italien viele Koch- und Essgewohnheiten mitbrachte und in der neuen Heimat etablierte. Unter dem Aufklärer Stanisław Antoni Poniatowski gelangten im 18. Jahrhundert Rezepte aus Frankreich nach Polen.
Gute polnische Hausmannskost nach französischer Art bereitet heute in Danzig zum Beispiel der frankreicherfahrene Koch Mateusz Janusz in seinem Musik-und-Wein-Lokal „Canis“ zu. Die ursprünglich aus der Ukraine stammenden, guten alten polnischen Pierogi (mit Fleisch, Kartoffeln, Pilzen oder Kraut gefüllte Teigtaschen) erleben, etwas asiatisch aufgebrezelt, in der „Pierogarina Mandu“ eine Renaissance.
Spezialitäten Polnischer Tartaren
Wiedererweckte polnische Gastrokultur sind die als Milchbars (Bar mleczny) bezeichneten Selbstbedienungslokale, die es bereits vor mehr als 100 Jahren gab. Im Sozialismus fand in ihnen ein beträchtlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens statt. Treffpunkte für Hungrige, die sich bewusst ernähren wollen, sind auch die Bistros und Foodtrucks des jungen Slow-Food-Unternehmens „Surfburger“, das mehrere Standorte in der Dreistadt betreibt.
Dass nicht nur große Städte Bedarf an Slow Food haben, beweisen viele kleine wunderbare Läden und Lokale im ganzen Land. Im abgelegenen Masurendörfchen Kadzidłowo (Kadzidlowen) bringt die kochmützengeschmückte „Oberza pod Psem“ die Maxime der neuen polnischen Esskultur auf den Punkt. An der Tür des wohnzimmergroßen Restaurants steht: „Wir haben keine Zeit für Leute, die keine Zeit haben.“
Kulinarisch ganz besonders vielseitig geht es im multiethnischen Podlachien zu. Die von ausgedehnten Wäldern, Seen- und Flusslandschaften geprägte Woiwodschaft ganz im Nordosten von Polen wird bis heute von verschiedenen Volksgruppen bewohnt. In den Dörfern Bohoniki und Kruszyniany beispielsweise kann man Spezialitäten der polnischen Tataren wie Sebzeli (Piroggen mit Gemüse), Manty (mit Fleisch oder Käse gefüllte Dampfnudeln) oder Pierekaczewnik (gefüllter Blätterteig) probieren.
In den meisten anderen Regionen Podlachiens dreht sich die Küche vor allem um den Erdapfel. Dem allerorts beliebten Kartoffelkuchen sowie der Kartoffelwurst wurde in Supraśl sogar eine eigene Weltmeisterschaft gewidmet. Ausgerichtet wird sie jährlich von Ende Mai bis Anfang Juni während des Uroczysko-Festivals. Aber auch in Gestalt von Kartoffelpuffern sowie Klößen mit Kartoffelfüllung kommt die stärkehaltige Knolle auf den Tisch.
Büffelgras-Wodka sehr beliebt
Die beliebtesten süßen Sünden aus der nur spärlich besiedelten Region sind Sękacz (litauischer Baumkuchen) und Marcinek-Torte, eine Kalorienbombe aus vielen dünnen Teig- und dicken Sahneschichten.
Ein typisches Milchprodukt ist Ser koryciński swojski – der „hausgemachte“ runde, abgeflachte Rohmilchkäse aus Korycin, Janów oder Suchowola. Man isst ihn frisch, gelagert oder ausgereift (älter als zwei Wochen) in endlos vielen Varianten. Für den unterschiedlichen Geschmack sorgen Zutaten wie Knoblauch, Kümmel, Bärlauch oder Pilze, Pfeffer, Petersilie, Dill und Majoran. Seit 2011 ist der cremefarbige bis gelbe Käse aus der Wysoczyzna Białostocka (Białystoker Landrücken) ein Produkt mit geschützter geografischer Angabe.
Das berühmteste Erzeugnis aus Podlachien ist die Żubrówka, der BüffelgrasWodka aus Belowesch. Benannt wurde er nach dem Wappentier der Woiwodschaft, dem Wisent, der auf Polnisch „zubr“ heißt. Schon im 17. Jahrhundert wurde das Getränk erfunden. Seinen markanten Geschmack von frischem Heu und Waldmeister verleiht dem 40-prozentigen Roggenschnaps das in den podlachischen Wäldern beheimatete duftende Mariengras (Hierochloe odorata). Ein Halm der aromatischen Pflanze steckt – als wirkungsvolle Dekoration – in jeder Flasche. Seit diesem Jahr gehört die in Białystok hergestellte Marke der polnischen Unternehmensgruppe Maspex Wadowice (Maspex). Im deutschsprachigen Raum ist „Grasovka“, wie er hier genannt wird, der meistverkaufte aromatisierte Wodka.